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  • 1821
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Julie. Nicht wahr, jetzt “lieb”, da Sie mich los sind.

Lucidor. Nur ein Wort! Auf Ihnen lastet eine schwere Verantwortlichkeit; was sollte der H‰ndedruck, da Sie meine ¸berschreckliche Stellung kannten und f¸hlen muflten? So gr¸ndlich Boshaftes ist mir in der Welt noch nichts vorgekommen.

Julie. Danken Sie Gott, nun w‰r’s abgeb¸flt, alles ist verziehen. Ich wollte Sie nicht, das ist wahr, aber dafl Sie mich ganz und gar nicht wollten, das verzeiht kein M‰dchen, und dieser H‰ndedruck war, merken Sie sich’s! f¸r den Schalk. Ich gestehe, es war schalkischer als billig, und ich verzeihe mir nur, indem ich Ihnen vergebe, und so sei denn alles vergeben und vergessen! Hier meine Hand.

Er schlug ein, sie rief: “Da sind wir schon wieder! in unserm Park schon wieder, und so geht’s bald um die weite Welt und auch wohl zur¸ck; wir treffen uns wieder.”

Sie waren vor dem Gartensaal schon angelangt, er schien leer; die Gesellschaft hatte sich, im Unbehagen, die Tafelzeit ¸berlang verschoben zu sehen, zum Spazieren bewegt. Antoni aber und Lucinde traten hervor. Julie warf sich aus dem Wagen ihrem Freund entgegen, sie dankte in einer herzlichen Umarmung und enthielt sich nicht der freudigsten Tr‰nen. Des edlen Mannes Wange rˆtete sich, seine Z¸ge traten entfaltet hervor, sein Auge blickte feucht, und ein schˆner, bedeutender J¸ngling erschien aus der H¸lle.

Und so zogen beide Paare zur Gesellschaft, mit Gef¸hlen, die der schˆnste Traum nicht zu geben vermochte.

Zehntes Kapitel

Vater und Sohn waren, von einem Reitknecht begleitet, durch eine angenehme Gegend gekommen, als dieser, im Angesicht einer hohen Mauer, die einen weiten Bezirk zu umschlieflen schien, stillehaltend, bedeutete, sie mˆchten nun zu Fufle sich dem groflen Tore n‰hern, weil kein Pferd in diesen Kreis eingelassen w¸rde. Sie zogen die Glocke, das Tor erˆffnete sich, ohne dafl eine Menschengestalt sichtbar geworden w‰re, und sie gingen auf ein altes Geb‰ude los, das zwischen uralten St‰mmen von Buchen und Eichen ihnen entgegenschimmerte. Wunderbar war es anzusehen, denn so alt es der Form nach schien, so war es doch, als wenn Maurer und Steinmetzen soeben erst abgegangen w‰ren, dergestalt neu, vollst‰ndig und nett erschienen die Fugen wie die ausgearbeiteten Verzierungen.

Der metallne, schwere Ring an einer wohlgeschnitzten Pforte lud sie ein zu klopfen, welches Felix mutwillig etwas unsanft verrichtete; auch diese T¸r sprang auf, und sie fanden zun‰chst auf der Hausflur ein Frauenzimmer sitzen von mittlerem Alter, am Stickrahmen mit einer wohlgezeichneten Arbeit besch‰ftigt. Diese begr¸flte sogleich die Ankommenden als schon gemeldet und begann ein heiteres Lied zu singen, worauf sogleich aus einer benachbarten T¸re ein Frauenzimmer heraustrat, das man f¸r die Beschlieflerin und t‰tige Haush‰lterin, nach den Anh‰ngseln ihres G¸rtels, ohne weiteres zu erkennen hatte. Auch diese freundlich gr¸flend f¸hrte die Fremden eine Treppe hinauf und erˆffnete ihnen einen Saal, der sie ernsthaft ansprach, weit, hoch, ringsum get‰felt, oben dr¸ber eine Reihenfolge historischer Schilderungen. Zwei Personen traten ihnen entgegen, ein j¸ngeres Frauenzimmer und ein ‰ltlicher Mann.

Jene hiefl den Gast sogleich freim¸tig willkommen. “Sie sind”, sagte sie, “als einer der Unsern angemeldet. Wie soll ich Ihnen aber kurz und gut den Gegenw‰rtigen vorstellen? Er ist unser Hausfreund im schˆnsten und weitesten Sinne, bei Tage der belehrende Gesellschafter, bei Nacht Astronom, und Arzt zu jeder Stunde.”

“Und ich”, versetzte dieser freundlich, “empfehle Ihnen dieses Frauenzimmer als die bei Tage unerm¸dete Gesch‰ftige, bei Nacht, wenn’s not tut, gleich bei der Hand, und immerfort die heiterste Lebensbegleiterin.”

Angela, so nannte man die durch Gestalt und Betragen einnehmende Schˆne, verk¸ndigte sodann die Ankunft Makariens; ein gr¸ner Vorhang zog sich auf, und eine ƒltliche, wunderw¸rdige Dame ward auf einem Lehnsessel von zwei jungen, h¸bschen M‰dchen hereingeschoben, wie von zwei andern ein runder Tisch mit erw¸nschtem Fr¸hst¸ck. In einem Winkel der ringsumher gehenden massiven eichenen B‰nke waren Kissen gelegt, darauf setzten sich die obigen dreie, Makarie in ihrem Sessel gegen ihnen ¸ber. Felix verzehrte sein Fr¸hst¸ck stehend, im Saal umherwandelnd und die ritterlichen Bilder ¸ber dem Get‰fel neugierig betrachtend.

Makarie sprach zu Wilhelm als einem Vertrauten, sie schien sich in geistreicher Schilderung ihrer Verwandten zu erfreuen; es war, als wenn sie die innere Natur eines jeden durch die ihn umgebende individuelle Maske durchschaute. Die Personen, welche Wilhelm kannte, standen wie verkl‰rt vor seiner Seele, das einsichtige Wohlwollen der unsch‰tzbaren Frau hatte die Schale losgelˆst und den gesunden Kern veredelt und belebt.

Nachdem nun diese angenehmen Gegenst‰nde durch die freundlichste Behandlung erschˆpft waren, sprach sie zu dem w¸rdigen Gesellschafter: “Sie werden von der Gegenwart dieses neuen Freundes nicht wiederum Anlafl zu einer Entschuldigung finden und die versprochene Unterhaltung abermals versp‰ten; er scheint von der Art, wohl auch daran teilzunehmen.”

Jener aber versetzte darauf: “Sie wissen, welche Schwierigkeit es ist, sich ¸ber diese Gegenst‰nde zu erkl‰ren, denn es ist von nichts wenigerem als von dem Miflbrauch f¸rtrefflicher und weit auslangender Mittel die Rede.”

“Ich geb’ es zu”, versetzte Makarie, “denn man kommt in doppelte Verlegenheit. Spricht man von Miflbrauch, so scheint man die W¸rde des Mittels selbst anzutasten, denn es liegt ja immer noch in dem Miflbrauch verborgen; spricht man von Mittel, so kann man kaum zugeben, dafl seine Gr¸ndlichkeit und W¸rde irgendeinen Miflbrauch zulasse. Indessen, da wir unter uns sind, nichts festsetzen, nichts nach auflen wirken, sondern nur uns aufkl‰ren wollen, so kann das Gespr‰ch immer vorw‰rtsgehen.”

“Doch m¸flten wir”, versetzte der bed‰chtige Mann, “vorher anfragen, ob unser neuer Freund auch Lust habe, an einer gewissermaflen abstrusen Materie teilzunehmen, und ob er nicht vorzˆge, in seinem Zimmer einer nˆtigen Ruhe zu pflegen. Sollte wohl unsere Angelegenheit, aufler dem Zusammenhange, ohne Kenntnis, wie wir darauf gelangt, von ihm gern und g¸nstig aufgenommen werden?”

“Wenn ich das, was Sie gesagt haben, mir durch etwas Analoges erkl‰ren mˆchte, so scheint es ungef‰hr der Fall zu sein, wenn man die Heuchelei angreift und eines Angriffs auf die Religion beschuldigt werden kann.”

“Wir kˆnnen die Analogie gelten lassen”, versetzte der Hausfreund, “denn es ist auch hier von einem Komplex mehrerer bedeutender Menschen, von einer hohen Wissenschaft, von einer wichtigen Kunst und, dafl ich kurz sei, von der Mathematik die Rede.”

“Ich habe”, versetzte Wilhelm, “wenn ich auch ¸ber die fremdesten Gegenst‰nde sprechen hˆrte, mir immer etwas daraus nehmen kˆnnen: denn alles, was den einen Menschen interessiert, wird auch in dem andern einen Anklang finden.”

“Vorausgesetzt”, sagte jener, “dafl er sich eine gewisse Freiheit des Geistes erworben habe; und da wir Ihnen dies zutrauen, so will ich von meiner Seite wenigstens Ihrem Verharren nichts entgegenstellen.”

“Was aber fangen wir mit Felix an?” fragte Makarie, “welcher, wie ich sehe, mit der Betrachtung jener Bilder schon fertig ist und einige Ungeduld merken l‰flt.”

“Vergˆnnt mir, diesem Frauenzimmer etwas ins Ohr zu sagen”, versetzte Felix, raunte Angela etwas stille zu, die sich mit ihm entfernte, bald aber l‰chelnd zur¸ckkam, da denn der Hausfreund folgendermaflen zu reden anfing.

“In solchen F‰llen, wo man irgend eine Miflbilligung, einen Tadel, auch nur ein Bedenken aussprechen soll, nehme ich nicht gern die Initiative; ich suche mir eine Autorit‰t, bei welcher ich mich beruhigen kann, indem ich finde, dafl mir ein anderer zur Seite steht. Loben tu’ ich ohne Bedenken, denn warum soll ich verschweigen, wenn mir etwas zusagt? sollte es auch meine Beschr‰nktheit ausdr¸cken, so hab’ ich mich deren nicht zu sch‰men; tadle ich aber, so kann mir begegnen, dafl ich etwas F¸rtreffliches abweise, und dadurch zieh’ ich mir die Miflbilligung anderer zu, die es besser verstehen; ich mufl mich zur¸cknehmen, wenn ich aufgekl‰rt werde. Deswegen bring’ ich hier einiges Geschriebene, sogar ¸bersetzungen mit: denn ich traue in solchen Dingen meiner Nation so wenig als mir selbst; eine Zustimmung aus der Ferne und Fremde scheint mir mehr Sicherheit zu geben.” Er fing nunmehr nach erhaltener Erlaubnis folgendermaflen zu lesen an.–

Wenn wir aber uns bewogen finden, diesen werten Mann nicht lesen zu lassen, so werden es unsere Gˆnner wahrscheinlich geneigt aufnehmen, denn was oben gegen das Verweilen Wilhelms bei dieser Unterhaltung gesagt worden, gilt noch mehr in dem Falle, in welchem wir uns befinden. Unsere Freunde haben einen Roman in die Hand genommen, und wenn dieser hie und da schon mehr als billig didaktisch geworden, so finden wir doch geraten, die Geduld unserer Wohlwollenden nicht noch weiter auf die Probe zu stellen. Die Papiere, die uns vorliegen, gedenken wir an einem andern Orte abdrucken zu lassen und fahren diesmal im Geschichtlichen ohne weiteres fort, da wir selbst ungeduldig sind, als obwaltende R‰tsel endlich aufgekl‰rt zu sehen.

Enthalten kˆnnen wir uns aber doch nicht, ferner einiges zu erw‰hnen, was noch vor dem abendlichen Scheiden dieser edlen Gesellschaft zur Sprache kam. Wilhelm, nachdem er jener Vorlesung aufmerksam zugehˆrt, ‰uflerte ganz unbewunden: “Hier vernehme ich von groflen Naturgaben, F‰higkeiten und Fertigkeiten, und doch zuletzt, bei ihrer Anwendung, manches Bedenken. Sollte ich mich dar¸ber ins Kurze fassen, so w¸rde ich ausrufen: “Grofle Gedanken und ein reines Herz, das ist’s, was wir uns von Gott erbitten sollten!””

Diesen verst‰ndigen Worten Beifall gebend, lˆste die Versammlung sich auf, der Astronom aber versprach, Wilhelm in dieser herrlichen, klaren Nacht an den Wundern des gestirnten Himmels vollkommen teilnehmen zu lassen.

Nach einigen Stunden liefl der Astronom seinen Gast die Treppen zur Sternwarte sich hinaufwinden und zuletzt allein auf die vˆllig freie Fl‰che eines runden, hohen Turmes heraustreten. Die heiterste Nacht, von allen Sternen leuchtend und funkelnd, umgab den Schauenden, welcher zum erstenmale das hohe Himmelsgewˆlbe in seiner ganzen Herrlichkeit zu erblicken glaubte. Denn im gemeinen Leben, abgerechnet die ung¸nstige Witterung, die uns so oft den Glanzraum des ƒthers verbirgt, hindern uns zu Hause bald D‰cher und Giebel, ausw‰rts bald W‰lder und Felsen, am meisten aber ¸berall die inneren Beunruhigungen des Gem¸ts, die, uns alle Umwelt mehr als Nebel und Miflwetter zu verd¸stern, sich hin und her bewegen.

Ergriffen und erstaunt hielt er sich beide Augen zu. Das Ungeheure hˆrt auf, erhaben zu sein, es ¸berreicht unsre Fassungskraft, es droht, uns zu vernichten. “Was bin ich denn gegen das All?” sprach er zu seinem Geiste; “wie kann ich ihm gegen¸ber, wie kann ich in seiner Mitte stehen?” Nach einem kurzen ¸berdenken jedoch fuhr er fort: “Das Resultat unsres heutigen Abends lˆst ja auch das R‰tsel des gegenw‰rtigen Augenblicks. Wie kann sich der Mensch gegen das Unendliche stellen, als wenn er alle geistigen Kr‰fte, die nach vielen Seiten hingezogen werden, in seinem Innersten, Tiefsten versammelt, wenn er sich fragt: “Darfst du dich in der Mitte dieser ewig lebendigen Ordnung auch nur denken, sobald sich nicht gleichfalls in dir ein beharrlich Bewegtes, um einen reinen Mittelpunkt kreisend, hervortut? Und selbst wenn es dir schwer w¸rde, diesen Mittelpunkt in deinem Busen aufzufinden, so w¸rdest du ihn daran erkennen, dafl eine wohlwollende, wohlt‰tige Wirkung von ihm ausgeht und von ihm Zeugnis gibt.”

Wer soll, wer kann aber auf sein vergangenes Leben zur¸ckblicken, ohne gewissermaflen irre zu werden, da er meistens finden wird, dafl sein Wollen richtig, sein Tun falsch, sein Begehren tadelhaft und sein Erlangen dennoch erw¸nscht gewesen?

Wie oft hast du diese Gestirne leuchten gesehen, und haben sie dich nicht jederzeit anders gefunden? sie aber sind immer dieselbigen und sagen immer dasselbige: “Wir bezeichnen”, wiederholten sie, “durch unsern gesetzm‰fligen Gang Tag und Stunde; frage dich auch, wie verh‰ltst du dich zu Tag und Stunde?”–Und so kann ich denn diesmal antworten: “Des gegenw‰rtigen Verh‰ltnisses hab’ ich mich nicht zu sch‰men, meine Absicht ist, einen edlen Familienkreis in allen seinen Gliedern erw¸nscht verbunden herzustellen; der Weg ist bezeichnet. Ich soll erforschen, was edle Seelen auseinanderh‰lt, soll Hindernisse wegr‰umen, von welcher Art sie auch seien.” Dies darfst du vor diesen himmlischen Heerscharen bekennen; achteten sie deiner, sie w¸rden zwar ¸ber deine Beschr‰nktheit l‰cheln, aber sie ehrten gewifl deinen Vorsatz und beg¸nstigten dessen Erf¸llung.”

Bei diesen Worten oder Gedanken wendete er sich, umherzusehen, da fiel ihm Jupiter in die Augen, das Gl¸cksgestirn, so herrlich leuchtend als je; er nahm das Omen als g¸nstig auf und verharrte freudig in diesem Anschauen eine Zeitlang.

Hierauf sogleich berief ihn der Astronom herabzukommen und liefl ihn eben dieses Gestirn durch ein vollkommenes Fernrohr in bedeutender Grˆfle, begleitet von seinen Monden, als ein himmlisches Wunder anschauen.

Als unser Freund lange darin versunken geblieben, wendete er sich um und sprach zu dem Sternfreunde: “Ich weifl nicht, ob ich ihnen danken soll, dafl Sie mir dieses Gestirn so ¸ber alles Mafl n‰her ger¸ckt. Als ich es vorhin sah, stand es im Verh‰ltnis zu dem ¸brigen Unz‰hligen des Himmels und zu mir selbst; jetzt aber tritt es in meiner Einbildungskraft unverh‰ltnism‰flig hervor, und ich weifl nicht, ob ich die ¸brigen Scharen gleicherweise heranzuf¸hren w¸nschen sollte. Sie werden mich einengen, mich be‰ngstigen.”

So erging sich unser Freund nach seiner Gewohnheit weiter, und es kam bei dieser Gelegenheit manches Unerwartete zur Sprache. Auf einiges Erwidern des Kunstverst‰ndigen versetzte Wilhelm: “Ich begreife recht gut, dafl es euch Himmelskundigen die grˆflte Freude gew‰hren mufl, das ungeheure Weltall nach und nach so heranzuziehen, wie ich hier den Planeten sah und sehe. Aber erlauben Sie mir, es auszusprechen: ich habe im Leben ¸berhaupt und im Durchschnitt gefunden, dafl diese Mittel, wodurch wir unsern Sinnen zu H¸lfe kommen, keine sittlich g¸nstige Wirkung auf den Menschen aus¸ben. Wer durch Brillen sieht, h‰lt sich f¸r kl¸ger, als er ist, denn sein ‰uflerer Sinn wird dadurch mit seiner innern Urteilsf‰higkeit aufler Gleichgewicht gesetzt; es gehˆrt eine hˆhere Kultur dazu, deren nur vorz¸gliche Menschen f‰hig sind, ihr Inneres, Wahres mit diesem von auflen heranger¸ckten Falschen einigermaflen auszugleichen. Sooft ich durch eine Brille sehe, bin ich ein anderer Mensch und gefalle mir selbst nicht; ich sehe mehr, als ich sehen sollte, die sch‰rfer gesehene Welt harmoniert nicht mit meinem Innern, und ich lege die Gl‰ser geschwind wieder weg, wenn meine Neugierde, wie dieses oder jenes in der Ferne beschaffen sein mˆchte, befriedigt ist.”

Auf einige scherzhafte Bemerkungen des Astronomen fuhr Wilhelm fort: “Wir werden diese Gl‰ser so wenig als irgendein Maschinenwesen aus der Welt bannen, aber dem Sittenbeobachter ist es wichtig, zu erforschen und zu wissen, woher sich manches in die Menschheit eingeschlichen hat, wor¸ber man sich beklagt. So bin ich z. B. ¸berzeugt, dafl die Gewohnheit, Ann‰herungsbrillen zu tragen, an dem D¸nkel unserer jungen Leute haupts‰chlich schuld hat.”

Unter diesen Gespr‰chen war die Nacht weit vorger¸ckt, worauf der im Wachen bew‰hrte Mann seinem jungen Freunde den Vorschlag tat, sich auf dem Feldbette niederzulegen und einige Zeit zu schlafen, um alsdann mit frischerem Blick die dem Aufgang der Sonne voreilende Venus, welche eben heute in ihrem vollendeten Glanze zu erscheinen verspr‰che, zu schauen und zu begr¸flen.

Wilhelm, der sich bis auf den Augenblick recht straff und munter erhalten hatte, f¸hlte auf diese Anmutung des wohlwollenden, vorsorglichen Mannes sich wirklich erschˆpft, er legte sich nieder und war augenblicklich in den tiefsten Schlaf gesunken.

Geweckt von dem Sternkundigen sprang Wilhelm auf und eilte zum Fenster: dort staunte, starrte er einen Augenblick, dann rief er enthusiastisch: “Welche Herrlichkeit! welch ein Wunder!” Andere Worte des Entz¸ckens folgten, aber ihm blieb der Anblick immer ein Wunder, ein grofles Wunder.

“Dafl Ihnen dieses liebensw¸rdige Gestirn, das heute in F¸lle und Herrlichkeit wie selten erscheint, ¸berraschend entgegentreten w¸rde, konnt’ ich voraussehen, aber das darf ich wohl aussprechen, ohne kalt gescholten zu werden: kein Wunder seh’ ich, durchaus kein Wunder!”

“Wie kˆnnten Sie auch?” versetzte Wilhelm, “da ich es mitbringe, da ich es in mir trage, da ich nicht weifl, wie mir geschieht. Lassen Sie mich noch immer stumm und staunend hinblicken, sodann vernehmen Sie!” Nach einer Pause fuhr er fort: “Ich lag sanft, aber tief eingeschlafen, da fand ich mich in den gestrigen Saal versetzt, aber allein. Der gr¸ne Vorhang ging auf, Makariens Sessel bewegte sich hervor, von selbst wie ein belebtes Wesen; er gl‰nzte golden, ihre Kleider schienen priesterlich, ihr Anblick leuchtete sanft; ich war im Begriff, mich niederzuwerfen. Wolken entwickelten sich um ihre F¸fle, steigend hoben sie fl¸gelartig die heilige Gestalt empor, an der Stelle ihres herrlichen Angesichtes sah ich zuletzt, zwischen sich teilendem Gewˆlk, einen Stern blinken, der immer aufw‰rts getragen wurde und durch das erˆffnete Deckengewˆlbe sich mit dem ganzen Sternhimmel vereinigte, der sich immer zu verbreiten und alles zu umschlieflen schien. In dem Augenblick wecken Sie mich auf, schlaftrunken taumle ich nach dem Fenster, den Stern noch lebhaft in meinem Auge, und wie ich nun hinblicke der Morgenstern, von gleicher Schˆnheit, obschon vielleicht nicht von gleicher strahlender Herrlichkeit, wirklich vor mir! Dieser wirkliche, da droben schwebende Stern setzte sich an die Stelle des getr‰umten, er zehrt auf, was an dem erscheinenden Herrliches war, aber ich schaue doch fort und fort, und Sie schauen ja mit mir, was eigentlich vor meinen Augen zugleich mit dem Nebel des Schlafes h‰tte verschwinden sollen.”

Der Astronom rief aus: “Wunder, ja Wunder! Sie wissen selbst nicht, welche wundersame Rede Sie f¸hrten. Mˆge uns nur dies nicht auf den Abschied der Herrlichen hindeuten, welcher fr¸her oder sp‰ter eine solche Apotheose beschieden ist.”

Den andern Morgen eilte Wilhelm, um seinen Felix aufzusuchen, der sich fr¸h ganz in der Stille weggeschlichen hatte, nach dem Garten, den er zu seiner Verwunderung durch eine Anzahl M‰dchen bearbeitet sah; alle, wo nicht schˆn, doch keine h‰fllich, keine, die das zwanzigste Jahr erreicht zu haben schien. Sie waren verschiedentlich gekleidet, als verschiedenen Ortschaften angehˆrig, t‰tig, heiter gr¸flend und fortarbeitend.

Ihm begegnete Angela, welche die Arbeit anzuordnen und zu beurteilen auf und ab ging; ihr liefl der Gast seine Verwunderung ¸ber eine so h¸bsche, lebenst‰tige Kolonie vermerken. “Diese”, versetzte sie, “stirbt nicht aus, ‰ndert sich, aber bleibt immer dieselbe. Denn mit dem zwanzigsten Jahr treten diese, so wie die s‰mtlichen Bewohnerinnen unserer Stiftung, ins t‰tige Leben, meistens in den Ehestand. Alle jungen M‰nner der Nachbarschaft, die sich eine wackere Gattin w¸nschen, sind aufmerksam auf dasjenige, was sich bei uns entwickelt. Auch sind unsre Zˆglinge hier nicht etwan eingesperrt, sie haben sich schon auf manchem Jahrmarkte umgesehen, sind gesehen worden, gew¸nscht und verlobt; und so warten denn mehrere Familien schon aufmerksam, wenn bei uns wieder Platz wird, um die Ihrigen einzuf¸hren.” Nachdem diese Angelegenheit besprochen war, konnte der Gast seiner neuen Freundin den Wunsch nicht bergen, das gestern abend Vorgelesene nochmals durchzusehen. “Den Hauptsinn der Unterhaltung habe ich gefaflt”, sagte er; “nun mˆcht’ ich aber auch das einzelne, wovon die Rede war, n‰her kennen lernen.”

“Diesen Wunsch”, versetzte jene, “zu befriedigen, finde ich mich gl¸cklicherweise sogleich in dem Falle; das Verh‰ltnis, das Ihnen so schnell zu unserm Innersten gegeben ward, berechtigt mich, Ihnen zu sagen, dafl jene Papiere schon in meinen H‰nden und von mir nebst andern Bl‰ttern sorgf‰ltig aufgehoben werden. Meine Herrin”, fuhr sie fort, “ist von der Wichtigkeit des augenblicklichen Gespr‰chs hˆchlich ¸berzeugt; dabei gehe vor¸ber, sagt sie, was kein Buch enth‰lt, und doch wieder das Beste, was B¸cher jemals enthalten haben. Deshalb machte sie mir’s zur Pflicht, einzelne gute Gedanken aufzubewahren, die aus einem geistreichen Gespr‰ch, wie Samenkˆrner aus einer viel‰stigen Pflanze, hervorspringen. “Ist man treu”, sagt sie, “das Gegenw‰rtige festzuhalten, so wird man erst Freude an der ¸berlieferung haben, indem wir den besten Gedanken schon ausgesprochen, das liebensw¸rdigste Gef¸hl schon ausgedr¸ckt finden. Hiedurch kommen wir zum Anschauen jener ¸bereinstimmung, wozu der Mensch berufen ist, wozu er sich oft wider seinen Willen finden mufl, da er sich gar zu gern einbildet, die Welt fange mit ihm von vorne an. “”

Angela fuhr fort, dem Gaste weiter zu vertrauen, dafl dadurch ein bedeutendes Archiv entstanden sei, woraus sie in schlaflosen N‰chten manchmal ein Blatt Makarien vorlese; bei welcher Gelegenheit denn wieder auf eine merkw¸rdige Weise tausend Einzelnheiten hervorspringen, eben als wenn eine Masse Quecksilber f‰llt und sich nach allen Seiten hin in die vielfachsten unz‰hligen K¸gelchen zerteilt.

Auf seine Frage, inwiefern dieses Archiv als Geheimnis bewahrt werde, erˆffnete sie: dafl allerdings nur die n‰chste Umgebung davon Kenntnis habe, doch wolle sie es wohl verantworten und ihm, da er Lust bezeige, sogleich einige Hefte vorlegen.

Unter diesem Gartengespr‰che waren sie gegen das Schlofl gelangt, und in die Zimmer eines Seitengeb‰udes eintretend, sagte sie l‰chelnd: “Ich habe bei dieser Gelegenheit Ihnen noch ein Geheimnis zu vertrauen, worauf Sie am wenigsten vorbereitet sind.” Sie liefl ihn darauf durch einen Vorhang in ein Kabinett hineinblicken, wo er, freilich zu grofler Verwunderung, seinen Felix schreibend an einem Tische sitzen sah und sich nicht gleich diesen unerwarteten Fleifl entr‰tseln konnte. Bald aber ward er belehrt, als Angela ihm entdeckte, dafl der Knabe jenen Augenblick seines Verschwindens hiezu angewendet und erkl‰rt, Schreiben und Reiten sei das einzige, wozu er Lust habe.

Unser Freund ward sodann in ein Zimmer gef¸hrt, wo er in Schr‰nken ringsum viele wohlgeordnete Papiere zu sehen hatte. Rubriken mancher Art deuteten auf den verschiedensten Inhalt, Einsicht und Ordnung leuchtete hervor. Als nun Wilhelm solche Vorz¸ge pries, eignete das Verdienst derselben Angela dem Hausfreunde zu; die Anlage nicht allein, sondern auch in schwierigen F‰llen die Einschaltung wisse er mit eigener ¸bersicht bestimmt zu leiten. Darauf suchte sie die gestern vorgelesenen Manuskripte vor und vergˆnnte dem Begierigen, sich derselben sowie alles ¸brigen zu bedienen und nicht nur Einsicht davon, sondern auch Abschrift zu nehmen.

Hier nun muflte der Freund bescheiden zu Werke gehen, denn es fand sich nur allzuviel Anziehendes und W¸nschenswertes; besonders achtete er die Hefte kurzer, kaum zusammenh‰ngender S‰tze hˆchst sch‰tzenswert. Resultate waren es, die, wenn wir nicht ihre Veranlassung wissen, als paradox erscheinen, uns aber nˆtigen, vermittelst eines umgekehrten Findens und Erfindens r¸ckw‰rtszugehen und uns die Filiation solcher Gedanken von weit her, von unten herauf wo mˆglich zu vergegenw‰rtigen.

Auch dergleichen d¸rfen wir aus oben angef¸hrten Ursachen keinen Platz einr‰umen. Jedoch werden wir die erste sich darbietende Gelegenheit nicht vers‰umen und am schicklichen Orte auch das hier Gewonnene mit Auswahl darzubringen wissen.

Am dritten Tage morgens begab sich unser Freund zu Angela, und nicht ohne einige Verlegenheit stand er vor ihr. “Heute soll ich scheiden”, sprach er, “und von der trefflichen Frau, bei der ich gestern den ganzen Tag leider nicht vorgelassen worden, meine letzten Auftr‰ge erhalten. Hier nun liegt mir etwas auf dem Herzen, auf dem ganzen innern Sinn, wor¸ber ich aufgekl‰rt zu sein w¸nschte. Wenn es mˆglich ist, so gˆnnen Sie mir diese Wohltat.”

“Ich glaube Sie zu verstehen”, sagte die Angenehme, “doch sprechen Sie weiter.”–“Ein wunderbarer Traum”, fuhr er fort, “einige Worte des ernsten Himmelskundigen, ein abgesondertes, verschlossenes Fach in den zug‰nglichen Schr‰nken, mit der Inschrift: “Makariens Eigenheiten”, diese Veranlassungen gesellen sich zu einer innern Stimme, die mir zuruft, die Bem¸hung um jene Himmelslichter sei nicht etwa nur eine wissenschaftliche Liebhaberei, ein Bestreben nach Kenntnis des Sternenalls, vielmehr sei zu vermuten: es liege hier ein ganz eigenes Verh‰ltnis Makariens zu den Gestirnen verborgen, das zu erkennen mir hˆchst wichtig sein m¸flte. Ich bin weder neugierig noch zudringlich, aber dies ist ein so wissenswerter Fall f¸r den Geist–und Sinnforscher, dafl ich mich nicht enthalten kann anzufragen: ob man zu so vielem Vertrauen nicht auch noch dieses ¸bermafl zu vergˆnnen belieben mˆchte?”–“Dieses zu gew‰hren, bin ich berechtigt”, versetzte die Gef‰llige. “Ihr merkw¸rdiger Traum ist zwar Makarien ein Geheimnis geblieben, aber ich habe mit dem Hausfreund Ihr sonderbares geistiges Eingreifen, Ihr unvermutetes Erfassen der tiefsten Geheimnisse betrachtet und ¸berlegt, und wir d¸rfen uns ermutigen, Sie weiterzuf¸hren. Lassen Sie mich nun zuvˆrderst gleichnisweise reden! Bei schwer begreiflichen Dingen tut man wohl, sich auf diese Weise zu helfen.

Wie man von dem Dichter sagt, die Elemente der sichtlichen Welt seien in seiner Natur innerlichst verborgen und h‰tten sich nur aus ihm nach und nach zu entwickeln, dafl ihm nichts in der Welt zum Anschauen komme, was er nicht vorher in der Ahnung gelebt: ebenso sind, wie es scheinen will, Makarien die Verh‰ltnisse unsres Sonnensystems von Anfang an, erst ruhend, sodann sich nach und nach entwickelnd, fernerhin sich immer deutlicher belebend, gr¸ndlich eingeboren. Erst litt sie an diesen Erscheinungen, dann vergn¸gte sie sich daran, und mit den Jahren wuchs das Entz¸cken. Nicht eher jedoch kam sie hier¸ber zur Einheit und Beruhigung, als bis sie den Beistand, den Freund gewonnen hatte, dessen Verdienst Sie auch schon genugsam kennen lernten.

Als Mathematiker und Philosoph ungl‰ubig von Anfang, war er lange zweifelhaft, ob diese Anschauung nicht etwa angelernt sei; denn Makarie muflte gestehen, fr¸hzeitig Unterricht in der Astronomie genossen und sich leidenschaftlich damit besch‰ftigt zu haben. Daneben berichtete sie aber auch: wie sie viele Jahre ihres Lebens die innern Erscheinungen mit dem ‰uflern Gewahrwerden zusammengehalten und verglichen, aber niemals hierin eine ¸bereinstimmung finden kˆnnen.

Der Wissende liefl sich hierauf dasjenige, was sie schaute, welches ihr nur von Zeit zu Zeit ganz deutlich war, auf das genaueste vortragen, stellte Berechnungen an und folgerte daraus, dafl sie nicht sowohl das ganze Sonnensystem in sich trage, sondern dafl sie sich vielmehr geistig als ein integrierender Teil darin bewege. Er verfuhr nach dieser Voraussetzung, und seine Calculs wurden auf eine unglaubliche Weise durch ihre Aussagen best‰tigt.

So viel nur darf ich Ihnen diesmal vertrauen, und auch dieses erˆffne ich nur mit der dringenden Bitte, gegen niemanden hievon irgendein Wort zu erw‰hnen. Denn sollte nicht jeder Verst‰ndige und Vern¸nftige, bei dem reinsten Wohlwollen, dergleichen ‰uflerungen f¸r Phantasien, f¸r ¸belverstandene Erinnerungen eines fr¸her eingelernten Wissens halten und erkl‰ren? Die Familie selbst weifl nichts N‰heres hievon, diese geheimen Anschauungen, die entz¸ckenden Gesichte sind es, die bei den Ihrigen als Krankheit gelten, wodurch sie augenblicklich gehindert sei, an der Welt und ihren Interessen teilzunehmen. Dies, mein Freund, verwahren Sie im stillen und lassen sich auch gegen Lenardo nichts merken.”

Gegen Abend ward unser Wanderer Makarien nochmals vorgestellt; gar manches anmutig Belehrende kam zur Sprache, davon wir nachstehendes ausw‰hlen.

“Von Natur besitzen wir keinen Fehler, der nicht zur Tugend, keine Tugend, die nicht zum Fehler werden kˆnnte. Diese letzten sind gerade die bedenklichsten. Zu dieser Betrachtung hat mir vorz¸glich der wunderbare Neffe Anlafl gegeben, der junge Mann, von dem Sie in der Familie manches Seltsame gehˆrt haben und den ich, wie die Meinigen sagen, mehr als billig, schonend und liebend behandle.

Von Jugend auf entwickelte sich in ihm eine gewisse muntere, technische Fertigkeit, der er sich ganz hingab und darin gl¸cklich zu mancher Kenntnis und Meisterschaft fortschritt. Sp‰terhin war alles, was er von Reisen nach Hause schickte, immer das K¸nstlichste, Kl¸gste, Feinste, Zarteste von Handarbeit, auf das Land hindeutend, wo er sich eben befand und welches wir erraten sollten. Hieraus mˆchte man schlieflen, dafl er ein trockner, unteilnehmender, in ‰uflerlichkeiten befangener Mensch sei und bleibe; auch war er im Gespr‰ch zum Eingreifen an allgemeinen, sittlichen Betrachtungen nicht aufgelegt, aber er besafl im stillen und geheimen einen wunderbar feinen praktischen Takt des Guten und Bˆsen, des Lˆblichen und Unlˆblichen, dafl ich ihn weder gegen ƒltere noch j¸ngere, weder gegen Obere noch Untere jemals habe fehlen sehen. Aber diese angeborne Gewissenhaftigkeit, ungeregelt wie sie war, bildete sich im einzelnen zu grillenhafter Schw‰che; er mochte sogar sich Pflichten erfinden, da wo sie nicht gefordert wurden, und sich ganz ohne Not irgendeinmal als Schuldner bekennen.

Nach seinem ganzen Reiseverfahren, besonders aber nach den Vorbereitungen zu seiner Wiederkunft, glaube ich, dafl er w‰hnt, fr¸her ein weibliches Wesen unseres Kreises verletzt zu haben, deren Schicksal ihn jetzt beunruhigt, wovon er sich befreit und erlˆst f¸hlen w¸rde, sobald er vernehmen kˆnnte, dafl es ihr wohl gehe, und das Weitere wird Angela mit Ihnen besprechen. Nehmen Sie gegenw‰rtigen Brief und bereiten unsrer Familie ein gl¸ckliches Zusammenfinden. Aufrichtig gestanden: ich w¸nschte, ihn auf dieser Erde nochmals zu sehen und im Abscheiden ihn herzlich zu segnen.”

Eilftes Kapitel

Das nuflbraune M‰dchen

Nachdem Wilhelm seinen Auftrag umst‰ndlich und genau ausgerichtet, versetzte Lenardo mit einem L‰cheln: “So sehr ich Ihnen verbunden bin f¸r das, was ich durch Sie erfahre, so mufl ich doch noch eine Frage hinzuf¸gen. Hat Ihnen die Tante nicht am Schlufl noch anempfohlen, mir eine unbedeutend scheinende Sache zu berichten?” Der andere besann sich einen Augenblick. “Ja”, sagte er darauf, “ich entsinne mich. Sie erw‰hnte eines Frauenzimmers, das sie Valerine nannte. Von dieser sollte ich Ihnen sagen, dafl sie gl¸cklich verheiratet sei und sich in einem w¸nschenswerten Zustande befinde.”

“Sie w‰lzen mir einen Stein vom Herzen”, versetzte Lenardo. “Ich gehe nun gern nach Hause zur¸ck, weil ich nicht f¸rchten mufl, dafl die Erinnerung an dieses M‰dchen mir an Ort und Stelle zum Vorwurf gereiche.”

“Es ziemt sich nicht f¸r mich zu fragen, welch Verh‰ltnis Sie zu ihr gehabt”, sagte Wilhelm; “genug, Sie kˆnnen ruhig sein, wenn Sie auf irgendeine Weise an dem Schicksal des M‰dchens teilnehmen.”

“Es ist das wunderlichste Verh‰ltnis von der Welt”, sagte Lenardo; “keinesweges ein Liebesverh‰ltnis, wie man sich’s denken kˆnnte. Ich darf Ihnen wohl vertrauen und erz‰hlen, was eigentlich keine Geschichte ist. Was m¸ssen Sie aber denken, wenn ich Ihnen sage, dafl mein zauderndes Zur¸ckreisen, dafl die Furcht, in unsere Wohnung zur¸ckzukehren, dafl diese seltsamen Anstalten und Fragen, wie es bei uns aussehe, eigentlich nur zur Absicht haben, nebenher zu erfahren, wie es mit diesem Kinde stehe.

Denn glauben Sie”, fuhr er fort, “ich weifl ¸brigens sehr gut, dafl man Menschen, die man kennt, auf geraume Zeit verlassen kann, ohne sie ver‰ndert wiederzufinden, und so denke ich auch bei den Meinigen bald wieder vˆllig zu Hause zu sein. Um dies einzige Wesen war es mir zu tun, dessen Zustand sich ver‰ndern muflte und sich, Dank sei es dem Himmel, ins Bessere ver‰ndert hat.”

“Sie machen mich neugierig”, sagte Wilhelm. “Sie lassen mich etwas ganz Besonderes erwarten.”

“Ich halte es wenigstens daf¸r”, versetzte Lenardo und fing seine Erz‰hlung folgendermaflen an.

“Die herkˆmmliche Kreisfahrt durch das gesittete Europa in meinen J¸nglingsjahren zu bestehen, war ein fester Vorsatz, den ich von Jugend auf hegte, dessen Ausf¸hrung sich aber von Zeit zu Zeit, wie es zu gehen pflegt, verzˆgerte. Das N‰chste zog mich an, hielt mich fest, und das Entfernte verlor immer mehr seinen Reiz, je mehr ich davon las oder erz‰hlen hˆrte. Doch endlich, angetrieben durch meinen Oheim, angelockt durch Freunde, die sich vor mir in die Welt hinausbegeben hatten, ward der Entschlufl gefaflt, und zwar geschwinder, ehe wir es uns alle versahen.

Mein Oheim, der eigentlich das Beste dazu tun muflte, um die Reise mˆglich zu machen, hatte sogleich kein anderes Augenmerk. Sie kennen ihn und seine Eigenheit, wie er immer nur auf eines losgeht und das erst zustande bringt, und inzwischen alles andere ruhen und schweigen mufl; wodurch er denn freilich vieles geleistet hat, was ¸ber die Kr‰fte eines Particuliers zu gehen scheint. Diese Reise kam ihm einigermaflen unerwartet; doch wuflte er sich sogleich zu fassen. Einige Bauten, die er unternommen, ja sogar angefangen hatte, wurden eingestellt, und weil er sein Erspartes niemals angreifen will, so sah er sich als ein kluger Finanzmann nach andern Mitteln um. Das N‰chste war, ausstehende Schulden, besonders Pachtreste, einzukassieren; denn auch dieses gehˆrte mit zu seiner Art und Weise, dafl er gegen Schuldner nachsichtig war, solange er bis auf einen gewissen Grad selbst nichts bedurfte. Sein Gesch‰ftsmann erhielt die Liste; diesem war die Ausf¸hrung ¸berlassen. Vom einzelnen erfuhren wir nichts; nur hˆrte ich im Vorbeigehen, dafl der Pachter eines unserer G¸ter, mit dem der Oheim lange Geduld gehabt hatte, endlich wirklich ausgetrieben, seine Kaution zu k‰rglichem Ersatz des Ausfalls innebehalten und das Gut anderweit verpachtet werden sollte. Es war dieser Mann von Art der “Stillen im Lande”, aber nicht, wie seinesgleichen, dabei klug und t‰tig; wegen seiner Frˆmmigkeit und G¸te zwar geliebt, doch wegen seiner Schw‰che als Haushalter gescholten. Nach seiner Frauen Tode war eine Tochter, die man nur das nuflbraune M‰dchen nannte, ob sie schon r¸stig und entschlossen zu werden versprach, doch viel zu jung, um entschieden einzugreifen; genug, es ging mit dem Mann r¸ckw‰rts, ohne dafl die Nachsicht des Onkels sein Schicksal h‰tte aufhalten kˆnnen.

Ich hatte meine Reise im Sinn, und die Mittel dazu muflt’ ich billigen. Alles war bereit, das Packen und Loslˆsen ging an, die Augenblicke dr‰ngten sich. Eines Abends durchstrich ich noch einmal den Park, um Abschied von den bekannten B‰umen und Str‰uchen zu nehmen, als mir auf einmal Valerine in den Weg trat: denn so hiefl das M‰dchen; das andere war nur ein Scherzname, durch ihre br‰unliche Gesichtsfarbe veranlaflt. Sie trat mit in den Weg.”

Lenardo hielt einen Augenblick nachdenkend inne. “Wie ist mir denn?” sagte er; “hiefl sie auch Valerine? Ja doch”, fuhr er fort; “doch war der Scherzname gewˆhnlicher. Genug, das braune M‰dchen trat mir in den Weg und bat mich dringend, f¸r ihren Vater, f¸r sie ein gutes Wort bei meinem Oheim einzulegen. Da ich wuflte, wie die Sache stand, und ich wohl sah, dafl es schwer, ja unmˆglich sein w¸rde, in diesem Augenblick etwas f¸r sie zu tun, so sagte ich’s ihr aufrichtig und setzte die eigne Schuld ihres Vaters in ein ung¸nstiges Licht.

Sie antwortete mir darauf mit so viel Klarheit und zugleich mit so viel kindlicher Schonung und Liebe, dafl sie mich ganz f¸r sich einnahm und dafl ich, w‰re es meine eigene Kasse gewesen, sie sogleich durch Gew‰hrung ihrer Bitte gl¸cklich gemacht h‰tte. Nun waren es aber die Eink¸nfte meines Oheims; es waren seine Anstalten, seine Befehle; bei seiner Denkweise, bei dem, was bisher schon geschehen, war nichts zu hoffen. Von jeher hielt ich ein Versprechen hochheilig. Wer etwas von mir verlangte, setzte mich in Verlegenheit. Ich hatte mir es so angewˆhnt abzuschlagen, dafl ich sogar das nicht versprach, was ich zu halten gedachte. Diese Gewohnheit kam mir auch diesmal zustatten. Ihre Gr¸nde ruhten auf Individualit‰t und Neigung, die meinigen auf Pflicht und Verstand, und ich leugne nicht, dafl sie mir am Ende selbst zu hart vorkamen. Wir hatten schon einigemal dasselbe wiederholt, ohne einander zu ¸berzeugen, als die Not sie beredter machte, ein unvermeidlicher Untergang, den sie vor sich sah, ihr Tr‰nen aus den Augen preflte. Ihr gefafltes Wesen verliefl sie nicht ganz; aber sie sprach lebhaft, mit Bewegung, und indem ich immer noch K‰lte und Gelassenheit heuchelte, kehrte sich ihr ganzes Gem¸t nach auflen. Ich w¸nschte die Szene zu endigen; aber auf einmal lag sie zu meinen F¸flen, hatte meine Hand gefaflt, gek¸flt, und sah so gut, so liebensw¸rdig flehend zu mir herauf, dafl ich mir in dem Augenblick meiner selbst nicht bewuflt war. Schnell sagte ich, indem ich sie aufhob: “Ich will das Mˆgliche tun, beruhige dich, mein Kind!” und so wandte ich mich nach einem Seitenwege. “Tun Sie das Unmˆgliche!” rief sie mir nach.– Ich weifl nicht mehr, was ich sagen wollte, aber ich sagte: “Ich will”, und stockte. “Tun Sie’s!” rief sie auf einmal, mit einem Ausdruck von himmlischer Hoffnung. Ich gr¸flte sie und eilte fort.

Den Oheim wollte ich nicht zuerst angehen, denn ich kannte ihn nur zu gut, dafl man ihn an das Einzelne nicht erinnern durfte, wenn er sich das Ganze vorgesetzt hatte. Ich suchte den Gesch‰ftstr‰ger; er war weggeritten; G‰ste kamen den Abend, Freunde, die Abschied nehmen wollten. Man spielte, man speiste bis tief in die Nacht. Sie blieben den andern Tag, und die Zerstreuung vermischte jenes Bild der dringend Bittenden. Der Gesch‰ftstr‰ger kam zur¸ck, er war gesch‰ftiger und ¸berdr‰ngter als nie. Jedermann fragte nach ihm. Er hatte nicht Zeit, mich zu hˆren: doch machte ich einen Versuch, ihn festzuhalten; allein kaum hatte ich jenen frommen Pachter genannt, so wies er mich mit Lebhaftigkeit zur¸ck: “Sagen Sie dem Onkel um Gottes willen davon nichts, wenn Sie zuletzt nicht noch Verdrufl haben wollen. “–Der Tag meiner Abreise war festgesetzt; ich hatte Briefe zu schreiben, G‰ste zu empfangen, Besuche in der Nachbarschaft abzulegen. Meine Leute waren zu meiner bisherigen Bedienung hinreichend, keineswegs aber gewandt, das Gesch‰ft der Abreise zu erleichtern. Alles lag auf mir; und doch, als mir der Gesch‰ftsmann zuletzt in der Nacht eine Stunde gab, um unsere Geldangelegenheiten zu ordnen, wagte ich nochmals, f¸r Valerinens Vater zu bitten.

“Lieber Baron”, sagte der bewegliche Mann, “wie kann Ihnen nur so etwas einfallen? Ich habe heute ohnehin mit Ihrem Oheim einen schweren Stand gehabt; denn was Sie nˆtig haben, um sich hier loszumachen, bel‰uft sich weit hˆher, als wir glaubten. Dies ist zwar ganz nat¸rlich, aber doch beschwerlich. Besonders hat der alte Herr keine Freude, wenn die Sache abgetan scheint und noch manches hintennachhinkt; das ist nun aber oft so, und wir andern m¸ssen es ausbaden. ¸ber die Strenge, womit die ausstehenden Schulden eingetrieben werden sollen, hat er sich selbst ein Gesetz gemacht; er ist dar¸ber mit sich einig, und man mˆchte ihn wohl schwer zur Nachgiebigkeit bewegen. Tun Sie es nicht, ich bitte Sie! es ist ganz vergebens.”

Ich liefl mich mit meinem Gesuch zur¸ckschrecken, jedoch nicht ganz. Ich drang in ihn, da doch die Ausf¸hrung von ihm abh‰nge, gelind und billig zu verfahren. Er versprach alles, nach Art solcher Personen, um f¸r den Augenblick in Ruhe zu kommen. Er ward mich los; der Drang, die Zerstreuung wuchs! ich safl im Wagen und kehrte jedem Anteil, den ich zu Hause haben konnte, den R¸cken.

Ein lebhafter Eindruck ist wie eine andere Wunde; man f¸hlt sie nicht, indem man sie empf‰ngt. Erst sp‰ter f‰ngt sie an zu schmerzen und zu eitern. Mir ging es so mit jener Begebenheit im Garten. Sooft ich einsam, sooft ich unbesch‰ftigt war, trat mir jenes Bild des flehenden M‰dchens, mit der ganzen Umgebung, mit jedem Baum und Strauch, dem Platz, wo sie knieete, dem Weg, den ich einschlug, mich von ihr zu entfernen, das Ganze zusammen wie ein frisches Bild vor die Seele. Es war ein unauslˆschlicher Eindruck, der wohl von andern Bildern und Teilnahmen beschattet, verdeckt, aber niemals vertilgt werden konnte. Immer erneut trat er in jeder stillen Stunde hervor, und je l‰nger es w‰hrte, desto schmerzlicher f¸hlte ich die Schuld, die ich gegen meine Grunds‰tze, meine Gewohnheit auf mich geladen hatte, obgleich nicht ausdr¸cklich, nur stotternd, zum erstenmal in solchem Falle verlegen.

Ich verfehlte nicht, in den ersten Briefen unsern Gesch‰ftsmann zu fragen, wie die Sache gegangen. Er antwortete dilatorisch. Dann setzte er aus, diesen Punkt zu erwidern; dann waren seine Worte zweideutig, zuletzt schwieg er ganz. Die Entfernung wuchs, mehr Gegenst‰nde traten zwischen mich und meine Heimat; ich ward zu manchen Beobachtungen, mancher Teilnahme aufgefordert; das Bild verschwand, das M‰dchen fast bis auf den Namen. Seltener trat ihr Andenken hervor, und meine Grille, mich nicht durch Briefe, nur durch Zeichen mit den Meinigen zu unterhalten, trug viel dazu bei, meinen fr¸hern Zustand mit allen seinen Bedingungen beinahe verschwinden zu machen. Nur jetzt, da ich mich dem Hause n‰here, da ich meiner Familie, was sie bisher entbehrt, mit Zinsen zu erstatten gedenke, jetzt ¸berf‰llt mich diese wunderliche Reue –ich mufl sie selbst wunderlich nennen–wieder mit aller Gewalt. Die Gestalt des M‰dchens frischt sich auf mit den Gestalten der Meinigen, und ich f¸rchte nichts mehr, als zu vernehmen, sie sei in dem Ungl¸ck, in das ich sie gestoflen, zugrunde gegangen; denn mir schien mein Unterlassen ein Handeln zu ihrem Verderben, eine Fˆrderung ihres traurigen Schicksals. Schon tausendmal habe ich mir gesagt, dafl dieses Gef¸hl im Grunde nur eine Schwachheit sei, dafl ich fr¸h zu jenem Gesetz, nie zu versprechen, nur aus Furcht der Reue, nicht aus einer edlern Empfindung getrieben worden. Und nun scheint sich eben die Reue, die ich geflohen, an mir zu r‰chen, indem sie diesen Fall statt tausend ergreift, um mich zu peinigen. Dabei ist das Bild, die Vorstellung, die mich qu‰lt, so angenehm, so liebensw¸rdig, dafl ich gern dabei verweile. Und denke ich daran, so scheint der Kufl, den sie auf meine Hand gedr¸ckt, mich noch zu brennen.”

Lenardo schwieg, und Wilhelm versetzte schnell und frˆhlich: “So h‰tte ich Ihnen denn keinen grˆflern Dienst erzeigen kˆnnen als durch den Nachsatz meines Vortrags, wie manchmal in einem Postskript das Interessanteste des Briefes enthalten sein kann. Zwar weifl ich nur wenig von Valerinen: denn ich erfuhr von ihr nur im Vorbeigehen; aber gewifl ist sie die Gattin eines wohlhabenden Gutsbesitzers und lebt vergn¸gt, wie mir die Tante noch beim Abschied versicherte.”

“Schˆn”, sagte Lenardo: “nun h‰lt mich nichts ab. Sie haben mich absolviert, und wir wollen sogleich zu den Meinigen, die mich ohnehin l‰nger, als billig ist, erwarten.” Wilhelm erwiderte darauf. “Leider kann ich Sie nicht begleiten: denn eine sonderbare Verpflichtung liegt mir ob, nirgends l‰nger als drei Tage zu verweilen und die Orte, die ich verlasse, in einem Jahr nicht wieder zu betreten. Verzeihen Sie, wenn ich den Grund dieser Sonderbarkeit nicht aussprechen darf.”

“Es tut mir sehr leid”, sagte Lenardo, “dafl wir Sie so bald verlieren, dafl ich nicht auch etwas f¸r Sie mitwirken kann. Doch da Sie einmal auf dem Wege sind, mir wohlzutun, so kˆnnen Sie mich sehr gl¸cklich machen, wenn Sie Valerinen besuchten, sich von ihrem Zustand genau unterrichteten und mir alsdann schriftlich oder m¸ndlich– der dritte Ort einer Zusammenkunft wird sich schon finden–zu meiner Beruhigung ausf¸hrliche Nachricht erteilten.”

Dieser Vorschlag wurde weiter besprochen; Valerinens Aufenthalt hatte man Wilhelmen genannt. Er ¸bernahm es, sie zu besuchen; ein dritter Ort wurde festgesetzt, wohin der Baron kommen und auch den Felix mitbringen sollte, der indessen bei den Frauenzimmern zur¸ckgeblieben war.

Lenardo und Wilhelm hatten ihren Weg, nebeneinander reitend, auf angenehmen Wiesen unter mancherlei Gespr‰chen eine Zeitlang fortgesetzt, als sie sich nunmehr der Fahrstrafle n‰herten und den Wagen des Barons einholten, der, von seinem Herrn begleitet, die Heimat wiederfinden sollte. Hier wollten die Freunde sich trennen, und Wilhelm nahm mit wenigen, freundlichen Worten Abschied und versprach dem Baron nochmals baldige Nachricht von Valerinen.

“Wenn ich bedenke”, versetzte Lenardo, “dafl es nur ein kleiner Umweg w‰re, wenn ich Sie begleitete, warum sollte ich Valerinen nicht selbst aufsuchen? warum nicht selbst von ihrem gl¸cklichen Zustande mich ¸berzeugen? Sie waren so freundlich, sich zum Boten anzubieten; warum wollten Sie nicht mein Begleiter sein? Denn einen Begleiter mufl ich haben, einen sittlichen Beistand, wie man sich rechtliche Beist‰nde nimmt, wenn man dem Gerichtshandel nicht ganz gewachsen zu sein glaubt.”

Die Einreden Wilhelms, dafl man zu Hause den so lange Abwesenden erwarte, dafl es einen sonderbaren Eindruck machen mˆchte, wenn der Wagen allein k‰me, und was dergleichen mehr war, vermochten nichts ¸ber Lenardo, und Wilhelm muflte sich zuletzt entschlieflen, den Begleiter abzugeben, wobei ihm wegen der zu f¸rchtenden Folgen nicht wohl zumute war.

Die Bedienten wurden daher unterrichtet, was sie bei der Ankunft sagen sollten, und die Freunde schlugen nunmehr den Weg ein, der zu Valerinens Wohnort f¸hrte. Die Gegend schien reich und fruchtbar und der wahre Sitz des Landbaues. So war denn auch in dem Bezirk, welcher Valerinens Gatten gehˆrte, der Boden durchaus gut und mit Sorgfalt bestellt. Wilhelm hatte Zeit, die Landschaft genau zu betrachten, indem Lenardo schweigend neben ihm ritt. Endlich fing dieser an: “Ein anderer an meiner Stelle w¸rde sich vielleicht Valerinen unerkannt zu n‰hern suchen; denn es ist immer ein peinliches Gef¸hl, vor die Augen derjenigen zu treten, die man verletzt hat; aber ich will das lieber ¸bernehmen und den Vorwurf ertragen, den ich von ihren ersten Blicken bef¸rchte, als dafl ich mich durch Vermummung und Unwahrheit davor sicherstelle. Unwahrheit kann uns ebensosehr in Verlegenheit setzen als Wahrheit; und wenn wir abw‰gen, wie oft uns diese oder jene nutzt, so mˆchte es doch immer der M¸he wert sein, sich ein f¸r allemal dem Wahren zu ergeben. Lassen Sie uns also getrost vorw‰rtsgehen; ich will mich nennen und Sie als meinen Freund und Gef‰hrten einf¸hren.”

Nun waren sie an den Gutshof gekommen und stiegen in dem Bezirk desselben ab. Ein ansehnlicher Mann, einfach gekleidet, den sie f¸r einen Pachter halten konnten, trat ihnen entgegen und k¸ndigte sich als Herrn des Hauses an. Lenardo nannte sich, und der Besitzer schien hˆchst erfreut, ihn zu sehen und kennen zu lernen. “Was wird meine Frau sagen”, rief er aus, “wenn sie den Neffen ihres Wohlt‰ters wiedersieht! Nicht genug kann sie erw‰hnen und erz‰hlen, was sie und ihr Vater Ihrem Oheim schuldig ist.”

Welche sonderbare Betrachtungen kreuzten sich schnell in Lenardos Geist. “Versteckt dieser Mann, der so redlich aussieht, seine Bitterkeit hinter ein freundlich Gesicht und glatte Worte? Ist er imstande, seinen Vorw¸rfen eine so gef‰llige Auflenseite zu geben? Denn hat mein Oheim nicht diese Familie ungl¸cklich gemacht? und kann es ihm unbekannt geblieben sein? Oder”, so dachte er sich’s mit schneller Hoffnung, “ist die Sache nicht so ¸bel geworden, als du denkst? denn eine ganz bestimmte Nachricht hast du ja doch niemals gehabt.” Solche Vermutungen wechselten hin und her, indem der Hausherr anspannen liefl, um seine Gattin holen zu lassen, die in der Nachbarschaft einen Besuch machte.

“Wenn ich Sie indessen, bis meine Frau kommt, auf meine Weise unterhalten und zugleich meine Gesch‰fte fortsetzen darf, so machen Sie einige Schritte mit mir aufs Feld und sehen sich um, wie ich meine Wirtschaft betreibe: denn gewifl ist Ihnen, als einem groflen Gutsbesitzer, nichts angelegener als die edle Wissenschaft, die edle Kunst des Feldbaues.” Lenardo widersprach nicht; Wilhelm unterrichtete sich gern; und der Landmann hatte seinen Grund und Boden, den er unumschr‰nkt besafl und beherrschte, vollkommen gut inne; was er vornahm, war der Absicht gem‰fl; was er s‰ete und pflanzte, durchaus am rechten Ort; er wuflte die Behandlung und die Ursachen derselben so deutlich anzugeben, dafl es ein jeder begriff und f¸r mˆglich gehalten h‰tte, dasselbe zu tun und zu leisten: ein Wahn, in den man leicht verf‰llt, wenn man einem Meister zusieht, dem alles bequem von der Hand geht.

Die Fremden erzeugten sich sehr zufrieden und konnten nichts als Lob und Billigung erteilen. Er nahm es dankbar und freundlich auf, f¸gte jedoch hinzu: “Nun mufl ich Ihnen aber auch meine schwache Seite zeigen, die freilich an jedem zu bemerken ist, der sich einem Gegenstand ausschliefllich ergibt.” Er f¸hrte sie auf seinen Hof, zeigte ihnen seine Werkzeuge, den Vorrat derselben sowie den Vorrat von allem erdenklichen Ger‰te und dessen Zubehˆr. “Man tadelte mich oft”, sagte er dabei, “dafl ich hierin zu weit gehe; allein ich kann mich deshalb nicht schelten. Gl¸cklich ist der, dem sein Gesch‰ft auch zur Puppe wird, der mit demselbigen zuletzt noch spielt und sich an dem ergˆtzt, was ihm sein Zustand zur Pflicht macht.”

Die beiden Freunde lieflen es an Fragen und Erkundigungen nicht fehlen. Besonders erfreute sich Wilhelm an den allgemeinen Bemerkungen, zu denen dieser Mann aufgelegt schien, und verfehlte nicht, sie zu erwidern; indessen Lenardo, mehr in sich gekehrt, an dem Gl¸ck Valerinens, das er in diesem Zustande f¸r gewifl hielt, stillen Teil nahm, obgleich mit einem leisen Gef¸hl von Unbehagen, von dem er sich keine Rechenschaft zu geben wuflte.

Man war schon ins Haus zur¸ckgekehrt, als der Wagen der Besitzerin vorfuhr. Man eilte ihr entgegen; aber wie erstaunte, wie erschrak Lenardo, als er sie aussteigen sah. Sie war es nicht, es war das nuflbraune M‰dchen nicht, vielmehr gerade das Gegenteil; zwar auch eine schˆne, schlanke Gestalt, aber blond, mit allen Vorteilen, die Blondinen eigen sind.

Diese Schˆnheit, diese Anmut erschreckte Lenardon. Seine Augen hatten das braune M‰dchen gesucht; nun leuchtete ihm ein ganz anderes entgegen. Auch dieser Z¸ge erinnerte er sich; ihre Anrede, ihr Betragen versetzten ihn bald aus jeder Ungewiflheit: es war die Tochter des Gerichtshalters, der bei dem Oheim in groflem Ansehen stand, deshalb denn auch dieser bei der Ausstattung sehr viel getan und dem neuen Paare beh¸lflich gewesen. Dies alles und mehr noch wurde von der jungen Frau zum Antrittsgrufle frˆhlich erz‰hlt, mit einer Freude, wie sie die ¸berraschung eines Wiedersehens ungezwungen ‰uflern l‰flt. Ob man sich wiedererkenne, wurde gefragt; die Ver‰nderungen der Gestalt wurden beredet, welche merklich genug bei Personen dieses Alters gefunden werden. Valerine war immer angenehm, dann aber hˆchst liebensw¸rdig, wenn Frˆhlichkeit sie aus dem gewˆhnlichen gleichg¸ltigen Zustande herausrifl. Die Gesellschaft ward gespr‰chig und die Unterhaltung so lebhaft, dafl Lenardo sich fassen und seine Best¸rzung verbergen konnte. Wilhelm, dem der Freund geschwind genug von diesem seltsamen Ereignis einen Wink gegeben hatte, tat sein mˆgliches, um diesem beizustehen; und Valerinens kleine Eitelkeit, dafl der Baron, noch ehe er die Seinigen gesehen, sich ihrer erinnert, bei ihr eingekehrt sei, liefl sie auch nicht den mindesten Verdacht schˆpfen, dafl hier eine andere Absicht oder ein Miflgriff obwalte.

Man blieb bis tief in die Nacht beisammen, obgleich beide Freunde nach einem vertraulichen Gespr‰ch sich sehnten, das denn auch sogleich begann, als sie sich in dem Gastzimmer allein sahen.

“Ich soll, so scheint es”, sagte Lenardo, “meine Qual nicht loswerden. Eine ungl¸ckliche Verwechslung des Namens, merke ich, verdoppelt sie. Diese blonde Schˆnheit habe ich oft mit jener Braunen, die man keine Schˆnheit nennen durfte, spielen sehen; ja ich trieb mich selbst mit ihnen, obgleich so vieles ‰lter, in den Feldern und G‰rten herum. Beide machten nicht den geringsten Eindruck auf mich; ich habe nur den Namen der einen behalten und ihn der andern beigelegt. Nun finde ich die, die mich nichts angeht, nach ihrer Weise ¸ber die Maflen gl¸cklich, indessen die andere, wer weifl wohin, in die Welt geworfen ist.”

Den folgenden Morgen waren die Freunde beinahe fr¸her auf als die t‰tigen Landleute. Das Vergn¸gen, ihre G‰ste zu sehen, hatte Valerinen gleichfalls zeitig geweckt. Sie ahnete nicht, mit welchen Gesinnungen sie zum Fr¸hst¸ck kamen. Wilhelm, der wohl einsah, dafl ohne Nachricht von dem nuflbraunen M‰dchen Lenardo sich in der peinlichsten Lage befinde, brachte das Gespr‰ch auf fr¸here Zeiten, auf Gespielen, aufs Lokal, das er selbst kannte, auf andere Erinnerungen, so dafl Valerine zuletzt ganz nat¸rlich darauf kam, des nuflbraunen M‰dchens zu erw‰hnen und ihren Namen auszusprechen.

Kaum hatte Lenardo den Namen Nachodine gehˆrt, so entsann er sich dessen vollkommen; aber auch mit dem Namen kehrte das Bild jener Bittenden zur¸ck, mit einer solchen Gewalt, dafl ihm das Weitere ganz unertr‰glich fiel, als Valerine mit warmem Anteil die Auspf‰ndung des frommen Pachters, seine Resignation und seinen Auszug erz‰hlte, und wie er sich auf seine Tochter gelehnt, die ein kleines B¸ndel getragen. Lenardo glaubte zu versinken. Ungl¸cklicher–und gl¸cklicherweise erging sich Valerine in einer gewissen Umst‰ndlichkeit, die Lenardon das Herz zerrreiflend, ihm dennoch mˆglich machte, mit Beih¸lfe seines Gef‰hrten, einige Fassung zu zeigen.

Man schied unter vollen, aufrichtigen Bitten des Ehepaars um baldige Wiederkunft und einer halben, geheuchelten Zusage beider G‰ste. Und wie dem Menschen, der sich selbst was Gutes gˆnnt, alles zum Gl¸ck schl‰gt, so legte Valerine zuletzt das Schweigen Lenardos, seine sichtbare Zerstreuung beim Abschied, sein hastiges Wegeilen zu ihrem Vorteil aus und konnte sich, obgleich treue und liebevolle Gattin eines wackern Landmanns, doch nicht enthalten, an einer wiederaufwachenden oder neuentstehenden Neigung, wie sie sich’s auslegte, ihres ehemaligen Gutsherrn einiges Behagen zu finden.

Nach diesem sonderbaren Ereignis sagte Lenardo: “Dafl wir, bei so schˆnen Hoffnungen, ganz nahe vor dem Hafen scheitern, dar¸ber kann ich mich nur einigermaflen trˆsten, mich nur f¸r den Augenblick beruhigen und den Meinen entgegengehen, wenn ich betrachte, dafl der Himmel Sie mir zugef¸hrt hat, Sie, dem es bei seiner eigent¸mlichen Sendung gleichg¸ltig ist, wohin und wozu er seinen Weg richtet. Nehmen Sie es ¸ber sich, Nachodinen aufzusuchen und mir Nachricht von ihr zu geben. Ist sie gl¸cklich, so bin ich zufrieden; ist sie ungl¸cklich, so helfen Sie ihr auf meine Kosten. Handeln Sie ohne R¸cksichten, sparen, schonen Sie nichts.”

“Nach welcher Weltgegend aber”, sagte Wilhelm l‰chelnd, “hab’ ich denn meine Schritte zu richten? Wenn Sie keine Ahnung haben, wie soll ich damit begabt sein?”

“Hˆren Sie!” antwortete Lenardo. “In voriger Nacht, wo Sie mich als einen Verzweifelten rastlos auf und ab gehen sahen, wo ich leidenschaftlich in Kopf und Herzen alles durcheinanderwarf, da kam ein alter Freund mir vor den Geist, ein w¸rdiger Mann, der, ohne mich eben zu hofmeistern, auf meine Jugend groflen Einflufl gehabt hat. Gern h‰tt’ ich mir ihn, wenigstens teilweise, als Reisegef‰hrten erbeten, wenn er nicht wundersam durch die schˆnsten Kunst–und altert¸mlichen Seltenheiten an seine Wohnung gekn¸pft w‰re, die er nur auf Augenblicke verl‰flt. Dieser, weifl ich, genieflt einer ausgebreiteten Bekanntschaft mit allem, was in dieser Welt durch irgendeinen edlen Faden verbunden ist; zu ihm eilen Sie, ihm erz‰hlen Sie, wie ich es vorgetragen, und es steht zu hoffen, dafl ihm sein zartes Gef¸hl irgend einen Ort, eine Gegend andeuten werde, wo sie zu finden sein mˆchte. In meiner Bedr‰ngnis fiel es mir ein, dafl der Vater des Kindes sich zu den Frommen z‰hlte, und ich ward im Augenblick fromm genug, mich an die moralische Weltordnung zu wenden und zu bitten: sie mˆge sich hier zu meinen Gunsten einmal wunderbar gn‰dig offenbaren.”

“Noch eine Schwierigkeit”, versetzte Wilhelm, “bleibt jedoch zu lˆsen: wo soll ich mit meinem Felix hin? denn auf so ganz ungewissen Wegen mˆcht’ ich ihn nicht mit mir f¸hren und ihn doch auch nicht gerne von mir lassen; denn mich d¸nkt, der Sohn entwickele sich nirgends besser als in Gegenwart des Vaters.”

“Keineswegs!” erwiderte Lenardo, “dies ist ein holder v‰terlicher Irrtum: der Vater beh‰lt immer eine Art von despotischem Verh‰ltnis zu seinem Sohn, dessen Tugenden er nicht anerkennt und an dessen Fehlern er sich freut; deswegen die Alten schon zu sagen pflegten: “Der Helden Sˆhne werden Taugenichtse”, und ich habe mich weit genug in der Welt umgesehen, um hier¸ber ins klare zu kommen. Gl¸cklicherweise wird unser alter Freund, an den ich Ihnen sogleich ein eiliges Schreiben verfasse, auch hier¸ber die beste Auskunft geben. Als ich ihn vor Jahren das letztemal sah, erz‰hlte er mir gar manches von einer p‰dagogischen Verbindung, die ich nur f¸r eine Art von Utopien halten konnte; es schien mir, als sei, unter dem Bilde der Wirklichkeit, eine Reihe von Ideen, Gedanken, Vorschl‰gen und Vors‰tzen gemeint, die freilich zusammenhingen, aber in dem gewˆhnlichen Laufe der Dinge wohl schwerlich zusammentreffen mˆchten. Weil ich ihn aber kenne, weil er gern durch Bilder das Mˆgliche und Unmˆgliche verwirklichen mag, so liefl ich es gut sein, und nun kommt es uns zugute; er weifl gewifl Ihnen Ort und Umst‰nde zu bezeichnen, wie Sie Ihren Knaben getrost vertrauen und von einer weisen Leitung das Beste hoffen kˆnnen.”

Im Dahinreiten sich auf diese Weise unterhaltend, erblickten sie eine edle Villa, die Geb‰ude im ernst-freundlichen Geschmack, freien Vorraum und in weiter, w¸rdiger Umgebung wohlbestandene B‰ume; T¸ren und Schaltern aber durchaus verschlossen, alles einsam, doch wohlerhalten anzusehen. Von einem ‰ltlichen Manne, der sich am Eingang zu besch‰ftigen schien, erfuhren sie, dies sei das Erbteil eines jungen Mannes, dem es von seinem in hohem Alter erst kurz verstorbenen Vater soeben hinterlassen worden.

Auf weiteres Befragen wurden sie belehrt: dem Erben sei hier leider alles zu fertig, er habe hier nichts mehr zu tun und das Vorhandene zu genieflen sei gerade nicht seine Sache; deswegen er sich denn ein Lokal n‰her am Gebirge ausgesucht, wo er f¸r sich und seine Gesellen Moosh¸tten baue und eine Art von j‰gerischer Einsiedelei anlegen wolle. Was den Berichtenden selbst betraf, vernahmen sie, er sei der mitgeerbte Kastellan, sorge aufs genaueste f¸r Erhaltung und Reinlichkeit, damit irgendein Enkel, in die Neigung und Besitzung des Groflvaters eingreifend, alles finde, wie dieser es verlassen hat.

Nachdem sie ihren Weg einige Zeit stillschweigend fortgesetzt, begann Lenardo mit der Betrachtung, dafl es die Eigenheit des Menschen sei, von vorn anfangen zu wollen; worauf der Freund erwiderte, dies lasse sich wohl erkl‰ren und entschuldigen, weil doch, genau genommen, jeder wirklich von vorn anf‰ngt. “Sind doch”, rief er aus, “keinem die Leiden erlassen, von denen seine Vorfahren gepeinigt wurden; kann man ihm verdenken, dafl er von ihren Freuden nichts missen will?”

Lenardo versetzte hierauf: “Sie ermutigen mich zu gestehen, dafl ich eigentlich auf nichts gerne wirken mag als auf das, was ich selbst geschaffen habe. Niemals mocht’ ich einen Diener, den ich nicht vom Knaben heraufgebildet, kein Pferd, das ich nicht selbst zugeritten. In Gefolg dieser Sinnesart will ich denn auch gern bekennen, dafl ich unwiderstehlich nach uranf‰nglichen Zust‰nden hingezogen werde, dafl meine Reisen durch alle hochgebildeten L‰nder und Vˆlker diese Gef¸hle nicht abstumpfen kˆnnen, dafl meine Einbildungskraft sich ¸ber dem Meer ein Behagen sucht und dafl ein bisher vernachl‰ssigter Familienbesitz in jenen frischen Gegenden mich hoffen l‰flt, ein im stillen gefaflter, meinen W¸nschen gem‰fl nach und nach heranreifender Plan werde sich endlich ausf¸hren lassen.”

“Dagegen w¸flt’ ich nichts einzuwenden”, versetzte Wilhelm, “ein solcher Gedanke, ins Neue und Unbestimmte gewendet, hat etwas Eigenes, Grofles. Nur bitt’ ich zu bedenken, dafl ein solches Unternehmen nur einer Gesamtheit gl¸cken kann. Sie gehen hin¸ber und finden dort schon Familienbesitzungen, wie ich weifl; die Meinigen hegen gleiche Plane und haben sich dort schon angesiedelt; vereinigen Sie sich mit diesen umsichtigen, klugen und kr‰ftigen Menschen, f¸r beide Teile mufl sich dadurch das Gesch‰ft erleichtern und erweitern.”

Unter solchen Gespr‰chen waren die Freunde an den Ort gelangt, wo sie nunmehr scheiden sollten. Beide setzten sich nieder, zu schreiben; Lenardo empfahl seinen Freund dem oberw‰hnten sonderbaren Mann, Wilhelm trug den Zustand seines neuen Lebensgenossen den Verb¸ndeten vor, woraus, wie nat¸rlich, ein Empfehlungsschreiben entstand; worin er zum Schlufl auch seine mit Jarno besprochene Angelegenheit empfahl und die Gr¸nde nochmals auseinandersetzte, warum er von der unbequemen Bedingung, die ihn zum ewigen Juden stempelte, baldmˆglichst befreit zu sein w¸nsche.

Beim Auswechseln dieser Briefe jedoch konnte sich Wilhelm nicht erwehren, seinem Freund nochmals gewisse Bedenklichkeiten ans Herz zu legen.

“Ich halte es”, sprach er, “in meiner Lage f¸r den w¸nschenswertesten Auftrag, Sie, edler Mann, von einer Gem¸tsunruhe zu befreien und zugleich ein menschliches Geschˆpf aus dem Elende zu retten, wenn es sich darin befinden sollte. Ein solches Ziel kann man als einen Stern ansehen, nach dem man schifft, wenn man auch nicht weifl, was man unterwegs antreffen, unterwegs begegnen werde. Doch darf ich mir dabei die Gefahr nicht leugnen, in der Sie auf jeden Fall noch immer schweben. W‰ren Sie nicht ein Mann, der durchaus sein Wort zu geben ablehnt, ich w¸rde von Ihnen das Versprechen verlangen, dieses weibliche Wesen, das Ihnen so teuer zu stehen kommt, nicht wiederzusehen, sich zu begn¸gen, wenn ich Ihnen melde, dafl es ihr wohlgeht; es sei nun, dafl ich sie wirklich gl¸cklich finde oder ihr Gl¸ck zu befˆrdern imstande bin. Da ich Sie aber zu einem Versprechen weder vermˆgen kann noch will, so beschwˆre ich Sie bei allem, was Ihnen wert und heilig ist, sich und den Ihrigen und mir, dem neuerworbenen Freund, zuliebe, keine Ann‰herung, es sei unter welchem Vorwand es wolle, zu jener Vermiflten sich zu erlauben; von mir nicht zu verlangen, dafl ich den Ort und die Stelle, wo ich sie finde, die Gegend, wo ich sie lasse, n‰her bezeichne oder gar ausspreche: Sie glauben meinem Wort, dafl es ihr wohl geht und sind losgesprochen und beruhigt.”

Lenardo l‰chelte und versetzte: “Leisten Sie mir diesen Dienst, und ich werde dankbar sein. Was Sie tun wollen und kˆnnen, sei Ihnen anheimgegeben, und mich ¸berlassen Sie der Zeit, dem Verstande und wo mˆglich der Vernunft.”

“Verzeihen Sie”, versetzte Wilhelm; “wer jedoch weifl, unter welchen seltsamen Formen die Neigung sich bei uns einschleicht, dem mufl es bange werden, wenn er voraussieht, ein Freund kˆnne dasjenige w¸nschen, was ihm in seinen Zust‰nden, seinen Verh‰ltnissen notwendig Ungl¸ck und Verwirrung bringen m¸flte.”

“Ich hoffe”, sagte Lenardo, “wenn ich das M‰dchen gl¸cklich weifl, bin ich sie los.”

Die Freunde schieden, jeder nach seiner Seite.

Zwˆlftes Kapitel

Auf einem kurzen und angenehmen Wege war Wilhelm nach der Stadt gekommen, wohin sein Brief lautete. Er fand sie heiter und wohlgebaut; allein ihr neues Ansehn zeigte nur allzudeutlich, dafl sie kurz vorher durch den Brand m¸sse gelitten haben. Die Adresse seines Briefes f¸hrte ihn zu dem letzten, kleinen, verschonten Teil, an ein Haus von alter, ernster Bauart, doch wohlerhalten und reinlichen Ansehns. Tr¸be Fensterscheiben, wundersam gef¸gt, deuteten auf erfreuliche Farbenpracht von innen. Und so entsprach denn auch wirklich das Innere dem ƒuflern. In saubern R‰umen zeigten sich ¸berall Ger‰tschaften, die schon einigen Generationen mochten gedient haben, untermischt mit wenigem Neuen. Der Hausherr empfing ihn freundlich in einem gleich ausgestatteten Zimmer. Diese Uhren hatten schon mancher Geburts–und Sterbestunde geschlagen, und was umherstand, erinnerte, dafl Vergangenheit auch in die Gegenwart ¸bergehen kˆnne.

Der Ankommende gab seinen Brief ab, den der Empf‰nger aber, ohne ihn zu erˆffnen, beiseitelegte und in einem heitern Gespr‰che seinen Gast unmittelbar kennen zu lernen suchte. Sie wurden bald vertraut, und als Wilhelm, gegen sonstige Gewohnheit, seine Blicke betrachtend im Zimmer umherschweifen liefl, sagte der gute Alte: “Meine Umgebung erregt Ihre Aufmerksamkeit. Sie sehen hier, wie lange etwas dauern kann, und man mufl doch auch dergleichen sehen, zum Gegengewicht dessen, was in der Welt so schnell wechselt und sich ver‰ndert. Dieser Teekessel diente schon meinen Eltern und war ein Zeuge unserer abendlichen Familienversammlungen, dieser kupferne Kaminschirm sch¸tzt mich noch immer vor dem Feuer, das diese alte, m‰chtige Zange ansch¸rt; und so geht es durch alles durch. Anteil und T‰tigkeit konnt’ ich daher auf gar viele andere Gegenst‰nde wenden, weil ich mich mit der Ver‰nderung dieser ‰uflern Bed¸rfnisse, die so vieler Menschen Zeit und Kr‰fte wegnimmt, nicht weiter besch‰ftigte. Eine liebevolle Aufmerksamkeit auf das, was der Mensch besitzt, macht ihn reich, indem er sich einen Schatz der Erinnerung an gleichg¸ltigen Dingen dadurch anh‰uft. Ich habe einen jungen Mann gekannt, der eine Stecknadel dem geliebten M‰dchen, Abschied nehmend, entwendete, den Busenstreif t‰glich damit zusteckte und diesen gehegten und gepflegten Schatz von einer groflen, mehrj‰hrigen Fahrt wieder zur¸ckbrachte. Uns andern kleinen Menschen ist dies wohl als eine Tugend anzurechnen.”

“Mancher bringt wohl auch”, versetzte Wilhelm, “von einer so weiten, groflen Reise einen Stachel im Herzen mit zur¸ck, den er vielleicht lieber los w‰re.” Der Alte schien von Lenardos Zustande nichts zu wissen, ob er gleich den Brief inzwischen erbrochen und gelesen hatte, denn er ging zu den vorigen Betrachtungen wieder zur¸ck. “Die Beharrlichkeit auf dem Besitz”, fuhr er fort, “gibt uns in manchen F‰llen die grˆflte Energie. Diesem Eigensinn bin ich die Rettung meines Hauses schuldig. Als die Stadt brannte, wollte man auch bei mir fl¸chten und retten. Ich verbot’s, befahl, Fenster und T¸ren zu schlieflen, und wandte mich mit mehreren Nachbarn gegen die Flamme. Unserer Anstrengung gelang es, diesen Zipfel der Stadt aufrechtzuerhalten. Den andern Morgen stand alles noch bei mir, wie Sie es sehen und wie es beinahe seit hundert Jahren gestanden hat.”– “Mit allem dem”, sagte Wilhelm, “werden Sie mir gestehen, dafl der Mensch der Ver‰nderung nicht widersteht, welche die Zeit hervorbringt. “– “Freilich”, sagte der Alte, “aber doch der am l‰ngsten sich erh‰lt, hat auch etwas geleistet.

Ja sogar ¸ber unser Dasein hinaus sind wir f‰hig, zu erhalten und zu sichern; wir ¸berliefern Kenntnisse, wir ¸bertragen Gesinnungen so gut als Besitz, und da mir es nun vorz¸glich um den letzten zu tun ist, so hab’ ich deshalb seit langer Zeit wunderliche Vorsicht gebraucht, auf ganz eigene Vorkehrungen gesonnen; nur sp‰t aber ist mir’s gelungen, meinen Wunsch erf¸llt zu sehen.

Gewˆhnlich zerstreut der Sohn, was der Vater gesammelt hat, sammelt etwas anders, oder auf andere Weise. Kann man jedoch den Enkel, die neue Generation abwarten, so kommen dieselben Neigungen, dieselben Ansichten wieder zum Vorschein. Und so hab’ ich denn endlich, durch Sorgfalt unserer p‰dagogischen Freunde, einen t¸chtigen jungen Mann erworben, welcher womˆglich noch mehr auf hergebrachten Besitz h‰lt als ich selbst und eine heftige Neigung zu wunderlichen Dingen empfindet. Mein Zutrauen hat er entschieden durch die gewaltsamen Anstrengungen erworben, womit ihm das Feuer von unserer Wohnung abzuwehren gelang; doppelt und dreifach hat er den Schatz verdient, dessen Besitz ich ihm zu ¸berlassen gedenke; ja er ist ihm schon ¸bergeben, und seit der Zeit mehrt sich unser Vorrat auf eine wundersame Weise.

Nicht alles jedoch, was Sie hier sehen, ist unser. Vielmehr, wie Sie sonst bei Pfandinhabern manches fremde Juwel erblicken, so kann ich Ihnen bei uns Kostbarkeiten bezeichnen, die man, unter den verschiedensten Umst‰nden, besserer Aufbewahrung halber hier niedergestellt.” Wilhelm gedachte des herrlichen K‰stchens, das er ohnehin nicht gern auf der Reise mit sich herumf¸hren wollte, und enthielt sich nicht, es dem Freunde zu zeigen. Der Alte betrachtete es mit Aufmerksamkeit, gab die Zeit an, wann es verfertigt sein kˆnnte, und wies etwas ‰hnliches vor. Wilhelm brachte zur Sprache: ob man es wohl erˆffnen sollte? Der Alte war nicht der Meinung. “Ich glaube zwar, dafl man es ohne sonderliche Besch‰digung tun kˆnne”, sagte er; “allein da Sie es durch einen so wunderbaren Zufall erhalten haben, so sollten Sie daran Ihr Gl¸ck pr¸fen. Denn wenn Sie gl¸cklich geboren sind und wenn dieses K‰stchen etwas bedeutet, so mufl sich gelegentlich der Schl¸ssel dazu finden, und gerade da, wo Sie ihn am wenigsten erwarten.”–“Es gibt wohl solche F‰lle”, versetzte Wilhelm. “Ich habe selbst einige erlebt”, erwiderte der Alte. “und hier sehen Sie den merkw¸rdigsten vor sich. Von diesem elfenbeinernen Kruzifix besafl ich seit dreiflig Jahren den Kˆrper mit Haupt und F¸flen aus einem St¸cke, der Gegenstand sowohl als die herrlichste Kunst ward sorgf‰ltig in dem kostbarsten L‰dchen aufbewahrt; vor ungef‰hr zehn Jahren erhielt ich das dazugehˆrige Kreuz mit der Inschrift, und ich liefl mich verf¸hren, durch den geschicktesten Bildschnitzer unserer Zeit die Arme ansetzen zu lassen; aber wie weit war der Gute hinter seinem Vorg‰nger zur¸ckgeblieben; doch es mochte stehen, mehr zu erbaulichen Betrachtungen als zu Bewunderung des Kunstfleifles.

Nun denken Sie mein Ergˆtzen! Vor kurzem erhalt’ ich die ersten, echten Arme, wie Sie solche zur lieblichsten Harmonie hier angef¸gt sehen, und ich, entz¸ckt ¸ber ein so gl¸ckliches Zusammentreffen, enthalte mich nicht, die Schicksale der christlichen Religion hieran zu erkennen, die, oft genug zergliedert und zerstreut, sich doch endlich immer wieder am Kreuze zusammenfinden mufl.”

Wilhelm bewunderte das Bild und die seltsame F¸gung. “Ich werde Ihrem Rat folgen”, setzte er hinzu; “bleibe das K‰stchen verschlossen, bis der Schl¸ssel sich findet, und wenn es bis ans Ende meines Lebens liegen sollte.”–“Wer lange lebt”, sagte der Alte, “sieht manches versammelt und manches auseinanderfallen.”

Der junge Besitzgenosse trat soeben herein, und Wilhelm erkl‰rte seinen Vorsatz, das K‰stchen ihrem Gewahrsam zu ¸bergeben. Nun ward ein grofles Buch herbeigeschafft, das anvertraute Gut eingeschrieben; mit manchen beobachteten Zeremonien und Bedingungen ein Empfangschein ausgestellt, der zwar auf jeden Vorzeigenden lautete, aber nur auf ein mit dem Empf‰nger verabredetes Zeichen honoriert werden sollte.

Als dieses alles vollbracht war, ¸berlegte man den Inhalt des Briefes, zuerst sich ¸ber das Unterkommen des guten Felix beratend, wobei der alte Freund sich ohne weiteres zu einigen Maximen bekannte, welche der Erziehung zum Grunde liegen sollten.

“Allem Leben, allem Tun, aller Kunst mufl das Handwerk vorausgehen, welches nur in der Beschr‰nkung erworben wird. Eines recht wissen und aus¸ben gibt hˆhere Bildung als Halbheit im Hundertf‰ltigen. Da, wo ich Sie hinweise, hat man alle T‰tigkeiten gesondert; gepr¸ft werden die Zˆglinge auf jedem Schritt; dabei erkennt man, wo seine Natur eigentlich hinstrebt, ob er sich gleich mit zerstreuten W¸nschen bald da-, bald dorthin wendet. Weise M‰nner lassen den Knaben unter der Hand dasjenige finden, was ihm gem‰fl ist, sie verk¸rzen die Umwege, durch welche der Mensch von seiner Bestimmung, nur allzu gef‰llig, abirren mag.

Sodann”, fuhr er fort, “darf ich hoffen, aus jenem herrlich gegr¸ndeten Mittelpunkt wird man Sie auf den Weg leiten, wo jenes gute M‰dchen zu finden ist, das einen so sonderbaren Eindruck auf Ihren Freund machte, der den Wert eines unschuldigen, ungl¸cklichen Geschˆpfes durch sittliches Gef¸hl und Betrachtung so hoch erhˆht hat, dafl er dessen Dasein zum Zweck und Ziel seines Lebens zu machen genˆtigt war. Ich hoffe, Sie werden ihn beruhigen kˆnnen; denn die Vorsehung hat tausend Mittel, die Gefallenen zu erheben und die Niedergebeugten aufzurichten. Manchmal sieht unser Schicksal aus wie ein Fruchtbaum im Winter. Wer sollte bei dem traurigen Ansehn desselben wohl denken, dafl diese starren ƒste, diese zackigen Zweige im n‰chsten Fr¸hjahr wieder gr¸nen, bl¸hen, sodann Fr¸chte tragen kˆnnten; doch wir hoffen’s, wir wissen’s.”