Wilhelm Meisters Lehrjahre–Buch 5 by Johann Wolfgang von Goethe

This etext was prepared by Michael Pullen, globaltraveler5565@yahoo.com. Wilhelm Meisters Lehrjahre–Buch 5 Johann Wolfgang von Goethe F¸nftes Buch Erstes Kapitel So hatte Wilhelm zu seinen zwei kaum geheilten Wunden abermals eine frische dritte, die ihm nicht wenig unbequem war. Aurelie wollte nicht zugeben, dafl er sich eines Wundarztes bediente; sie selbst verband ihn unter allerlei
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  • 1795-1796
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This etext was prepared by Michael Pullen, globaltraveler5565@yahoo.com.

Wilhelm Meisters Lehrjahre–Buch 5

Johann Wolfgang von Goethe

F¸nftes Buch

Erstes Kapitel

So hatte Wilhelm zu seinen zwei kaum geheilten Wunden abermals eine frische dritte, die ihm nicht wenig unbequem war. Aurelie wollte nicht zugeben, dafl er sich eines Wundarztes bediente; sie selbst verband ihn unter allerlei wunderlichen Reden, Zeremonien und Spr¸chen und setzte ihn dadurch in eine sehr peinliche Lage. Doch nicht er allein, sondern alle Personen, die sich in ihrer N‰he befanden, litten durch ihre Unruhe und Sonderbarkeit; niemand aber mehr als der kleine Felix. Das lebhafte Kind war unter einem solchen Druck hˆchst ungeduldig und zeigte sich immer unartiger, je mehr sie es tadelte und zurechtwies.

Der Knabe gefiel sich in gewissen Eigenheiten, die man auch Unarten zu nennen pflegt und die sie ihm keinesweges nachzusehen gedachte. Er trank zum Beispiel lieber aus der Flasche als aus dem Glase, und offenbar schmeckten ihm die Speisen aus der Sch¸ssel besser als von dem Teller. Eine solche Unschicklichkeit wurde nicht ¸bersehen, und wenn er nun gar die T¸re aufliefl oder zuschlug und, wenn ihm etwas befohlen wurde, entweder nicht von der Stelle wich oder ungest¸m davonrannte, so muflte er eine grofle Lektion anhˆren, ohne dafl er darauf je einige Besserung h‰tte sp¸ren lassen. Vielmehr schien die Neigung zu Aurelien sich t‰glich mehr zu verlieren; in seinem Tone war nichts Z‰rtliches, wenn er sie Mutter nannte, er hing vielmehr leidenschaftlich an der alten Amme, die ihm denn freilich allen Willen liefl.

Aber auch diese war seit einiger Zeit so krank geworden, dafl man sie aus dem Hause in ein stilles Quartier bringen muflte, und Felix h‰tte sich ganz allein gesehen, w‰re nicht Mignon auch ihm als ein liebevoller Schutzgeist erschienen. Auf das artigste unterhielten sich beide Kinder miteinander; sie lehrte ihm kleine Lieder, und er, der ein sehr gutes Ged‰chtnis hatte, rezitierte sie oft zur Verwunderung der Zuhˆrer. Auch wollte sie ihm die Landkarten erkl‰ren, mit denen sie sich noch immer sehr abgab, wobei sie jedoch nicht mit der besten Methode verfuhr. Denn eigentlich schien sie bei den L‰ndern kein besonderes Interesse zu haben, als ob sie kalt oder warm seien. Von den Weltpolen, von dem schrecklichen Eise daselbst und von der zunehmenden W‰rme, je mehr man sich von ihnen entfernte, wuflte sie sehr gut Rechenschaft zu geben. Wenn jemand reiste, fragte sie nur, ob er nach Norden oder nach S¸den gehe, und bem¸hte sich, die Wege auf ihren kleinen Karten aufzufinden. Besonders wenn Wilhelm von Reisen sprach, war sie sehr aufmerksam und schien sich immer zu betr¸ben, sobald das Gespr‰ch auf eine andere Materie ¸berging. Sowenig man sie bereden konnte, eine Rolle zu ¸bernehmen oder auch nur, wenn gespielt wurde, auf das Theater zu gehen, so gern und fleiflig lernte sie Oden und Lieder auswendig und erregte, wenn sie ein solches Gedicht, gewˆhnlich von der ernsten und feierlichen Art, oft unvermutet wie aus dem Stegreife deklamierte, bei jedermann Erstaunen.

Serlo, der auf jede Spur eines aufkeimenden Talentes zu achten gewohnt war, suchte sie aufzumuntern; am meisten aber empfahl sie sich ihm durch einen sehr artigen, mannigfaltigen und manchmal selbst muntern Gesang, und auf ebendiesem Wege hatte sich der Harfenspieler seine Gunst erworben.

Serlo, ohne selbst Genie zur Musik zu haben oder irgendein Instrument zu spielen, wuflte ihren hohen Wert zu sch‰tzen; er suchte sich sooft als mˆglich diesen Genufl, der mit keinem andern verglichen werden kann, zu verschaffen. Er hatte wˆchentlich einmal Konzert, und nun hatte sich ihm durch Mignon, den Harfenspieler und Laertes, der auf der Violine nicht ungeschickt war, eine wunderliche kleine Hauskapelle gebildet.

Er pflegte zu sagen: “Der Mensch ist so geneigt, sich mir dem Gemeinsten abzugeben, Geist und Sinne stumpfen sich so leicht gegen die Eindr¸cke des Schˆnen und Vollkommenen ab, dafl man die F‰higkeit, es zu empfinden, bei sich auf alle Weise erhalten sollte. Denn einen solchen Genufl kann niemand ganz entbehren, und nur die Ungewohntheit, etwas Gutes zu genieflen, ist Ursache, dafl viele Menschen schon am Albernen und Abgeschmackten, wenn es nur neu ist, Vergn¸gen finden. Man sollte”, sagte er, “alle Tage wenigstens ein kleines Lied hˆren, ein gutes Gedicht lesen, ein treffliches Gem‰lde sehen und, wenn es mˆglich zu machen w‰re, einige vern¸nftige Worte sprechen.”

Bei diesen Gesinnungen, die Serlo gewissermaflen nat¸rlich waren, konnte es den Personen, die ihn umgaben, nicht an angenehmer Unterhaltung fehlen. Mitten in diesem vergn¸glichen Zustande brachte man Wilhelmen eines Tags einen schwarzgesiegelten Brief. Werners Petschaft deutete auf eine traurige Nachricht, und er erschrak nicht wenig, als er den Tod seines Vaters nur mit einigen Worten angezeigt fand. Nach einer unerwarteten, kurzen Krankheit war er aus der Welt gegangen und hatte seine h‰uslichen Angelegenheiten in der besten Ordnung hinterlassen.

Diese unvermutete Nachricht traf Wilhelmen im Innersten. Er f¸hlte tief, wie unempfindlich man oft Freunde und Verwandte, solange sie sich mit uns des irdischen Aufenthaltes erfreuen, vernachl‰ssigt und nur dann erst die Vers‰umnis bereut, wenn das schˆne Verh‰ltnis wenigstens f¸r diesmal aufgehoben ist. Auch konnte der Schmerz ¸ber das zeitige Absterben des braven Mannes nur durch das Gef¸hl gelindert werden, dafl er auf der Welt wenig geliebt, und durch die ¸berzeugung, dafl er wenig genossen habe.

Wilhelms Gedanken wandten sich nun bald auf seine eigenen Verh‰ltnisse, und er f¸hlte sich nicht wenig beunruhigt. Der Mensch kann in keine gef‰hrlichere Lage versetzt werden, als wenn durch ‰uflere Umst‰nde eine grofle Ver‰nderung seines Zustandes bewirkt wird, ohne dafl seine Art zu empfinden und zu denken darauf vorbereitet ist. Es gibt alsdann eine Epoche ohne Epoche, und es entsteht nur ein desto grˆflerer Widerspruch, je weniger der Mensch bemerkt, dafl er zu dem neuen Zustande noch nicht ausgebildet sei.

Wilhelm sah sich in einem Augenblicke frei, in welchem er mit sich selbst noch nicht einig werden konnte. Seine Gesinnungen waren edel, seine Absichten lauter, und seine Vors‰tze schienen nicht verwerflich. Das alles durfte er sich mit einigem Zutrauen selbst bekennen; allein er hatte Gelegenheit genug gehabt zu bemerken, dafl es ihm an Erfahrung fehle, und er legte daher auf die Erfahrung anderer und auf die Resultate, die sie daraus mit ¸berzeugung ableiteten, einen ¸berm‰fligen Wert und kam dadurch nur immer mehr in die Irre. Was ihm fehlte, glaubte er am ersten zu erwerben, wenn er alles Denkw¸rdige, was ihm in B¸chern und im Gespr‰ch vorkommen mochte, zu erhalten und zu sammeln untern‰hme. Er schrieb daher fremde und eigene Meinungen und Ideen, ja ganze Gespr‰che, die ihm interessant waren, auf und hielt leider auf diese Weise das Falsche so gut als das Wahre fest, blieb viel zu lange an einer Idee, ja man mˆchte sagen an einer Sentenz h‰ngen und verliefl dabei seine nat¸rliche Denk- und Handelsweise, indem er oft fremden Lichtern als Leitsternen folgte. Aureliens Bitterkeit und seines Freundes Laertes kalte Verachtung der Menschen bestachen ˆfter als billig war sein Urteil: niemand aber war ihm gef‰hrlicher gewesen als Jarno, ein Mann, dessen heller Verstand von gegenw‰rtigen Dingen ein richtiges, strenges Urteil f‰llte, dabei aber den Fehler hatte, dafl er diese einzelnen Urteile mit einer Art von Allgemeinheit aussprach, da doch die Ausspr¸che des Verstandes eigentlich nur einmal, und zwar in dem bestimmtesten Falle gelten und schon unrichtig werden, wenn man sie auf den n‰chsten anwendet.

So entfernte sich Wilhelm, indem er mit sich selbst einig zu werden strebte, immer mehr von der heilsamen Einheit, und bei dieser Verwirrung ward es seinen Leidenschaften um so leichter, alle Zur¸stungen zu ihrem Vorteil zu gebrauchen und ihn ¸ber das, was er zu tun hatte, nur noch mehr zu verwirren.

Serlo benutzte die Todespost zu seinem Vorteil, und wirklich hatte er auch t‰glich immer mehr Ursache, an eine andere Einrichtung seines Schauspiels zu denken. Er muflte entweder seine alten Kontrakte erneuern, wozu er keine grofle Lust hatte, indem mehrere Mitglieder, die sich f¸r unentbehrlich hielten, t‰glich unleidlicher wurden; oder er muflte, wohin auch sein Wunsch ging, der Gesellschaft eine ganz neue Gestalt geben.

Ohne selbst in Wilhelmen zu dringen, regte er Aurelien und Philinen auf; und die ¸brigen Gesellen, die sich nach Engagement sehnten, lieflen unserm Freunde gleichfalls keine Ruhe, so dafl er mit ziemlicher Verlegenheit an einem Scheidewege stand. Wer h‰tte gedacht, dafl ein Brief von Wernern, der ganz im entgegengesetzten Sinne geschrieben war, ihn endlich zu einer Entschlieflung hindr‰ngen sollte. Wir lassen nur den Eingang weg und geben ¸brigens das Schreiben mit weniger Ver‰nderung.

V. Buch, 2. Kapitel

Zweites Kapitel

“–So war es, und so mufl es denn auch wohl recht sein, dafl jeder bei jeder Gelegenheit seinem Gewerbe nachgeht und seine T‰tigkeit zeigt. Der gute Alte war kaum verschieden, als auch in der n‰chsten Viertelstunde schon nichts mehr nach seinem Sinne im Hause geschah. Freunde, Bekannte und Verwandte dr‰ngten sich zu, besonders aber alle Menschenarten, die bei solchen Gelegenheiten etwas zu gewinnen haben. Man brachte, man trug, man zahlte, schrieb und rechnete; die einen holten Wein und Kuchen, die andern tranken und aflen; niemanden sah ich aber ernsthafter besch‰ftigt als die Weiber, indem sie die Trauer aussuchten.

Du wirst mir also verzeihen, mein Lieber, wenn ich bei dieser Gelegenheit auch an meinen Vorteil dachte, mich deiner Schwester so hilfreich und t‰tig als mˆglich zeigte und ihr, sobald es nur einigermaflen schicklich war, begreiflich machte, dafl es nunmehr unsre Sache sei, eine Verbindung zu beschleunigen, die unsre V‰ter aus allzugrofler Umst‰ndlichkeit bisher verzˆgert hatten.

Nun muflt du aber ja nicht denken, dafl es uns eingefallen sei, das grofle, leere Haus in Besitz zu nehmen. Wir sind bescheidner und vern¸nftiger; unsern Plan sollst du hˆren. Deine Schwester zieht nach der Heirat gleich in unser Haus her¸ber, und sogar auch deine Mutter mit.

“Wie ist das mˆglich?” wirst du sagen; “ihr habt ja selbst in dem Neste kaum Platz.” Das ist eben die Kunst, mein Freund! Die geschickte Einrichtung macht alles mˆglich, und du glaubst nicht, wieviel Platz man findet, wenn man wenig Raum braucht. Das grofle Haus verkaufen wir, wozu sich sogleich eine gute Gelegenheit darbietet; das daraus gelˆste Geld soll hundertf‰ltige Zinsen tragen.

Ich hoffe, du bist damit einverstanden, und w¸nsche, dafl du nichts von den unfruchtbaren Liebhabereien deines Vaters und Groflvaters geerbt haben mˆgest. Dieser setzte seine hˆchste Gl¸ckseligkeit in eine Anzahl unscheinbarer Kunstwerke, die niemand, ich darf wohl sagen niemand, mit ihm genieflen konnte: jener lebte in einer kostbaren Einrichtung, die er niemand mit sich genieflen liefl. Wir wollen es anders machen, und ich hoffe deine Beistimmung.

Es ist wahr, ich selbst behalte in unserm ganzen Hause keinen Platz als den an meinem Schreibepulte, und noch seh ich nicht ab, wo man k¸nftig eine Wiege hinsetzen will; aber daf¸r ist der Raum aufler dem Hause desto grˆfler. Die Kaffeeh‰user und Klubs f¸r den Mann, die Spazierg‰nge und Spazierfahrten f¸r die Frau, und die schˆnen Lustˆrter auf dem Lande f¸r beide. Dabei ist der grˆflte Vorteil, dafl auch unser runder Tisch ganz besetzt ist und es dem Vater unmˆglich wird, Freunde zu sehen, die sich nur desto leichtfertiger ¸ber ihn aufhalten, je mehr er sich M¸he gegeben hat, sie zu bewirten.

Nur nichts ¸berfl¸ssiges im Hause! nur nicht zu viel Mˆbeln, Ger‰tschaften, nur keine Kutsche und Pferde! Nichts als Geld, und dann auf eine vern¸nftige Weise jeden Tag getan, was dir beliebt. Nur keine Garderobe, immer das Neueste und Beste auf dem Leibe; der Mann mag seinen Rock abtragen und die Frau den ihrigen vertrˆdeln, sobald er nur einigermaflen aus der Mode kˆmmt. Es ist mir nichts unertr‰glicher als so ein alter Kram von Besitztum. Wenn man mir den kostbarsten Edelstein schenken wollte mit der Bedingung, ihn t‰glich am Finger zu tragen, ich w¸rde ihn nicht annehmen; denn wie l‰flt sich bei einem toten Kapital nur irgendeine Freude denken? Das ist also mein lustiges Glaubensbekenntnis: seine Gesch‰fte verrichtet, Geld geschafft, sich mit den Seinigen lustig gemacht und um die ¸brige Welt sich nicht mehr bek¸mmert, als insofern man sie nutzen kann.

Nun wirst du aber sagen: wie ist denn in eurem saubern Plane an mich gedacht? Wo soll ich unterkommen, wenn ihr mir das v‰terliche Haus verkauft und in dem eurigen nicht der mindeste Raum ¸brigbleibt?’

Das ist freilich der Hauptpunkt, Br¸derchen, und auf den werde ich dir gleich dienen kˆnnen, wenn ich dir vorher das geb¸hrende Lob ¸ber deine vortrefflich angewendete Zeit werde entrichtet haben.

Sage nur, wie hast du es angefangen, in so wenigen Wochen ein Kenner aller n¸tzlichen und interessanten Gegenst‰nde zu werden? Soviel F‰higkeiten ich an dir kenne, h‰tte ich dir doch solche Aufmerksamkeit und solchen Fleifl nicht zugetraut. Dein Tagebuch hat uns ¸berzeugt, mit welchem Nutzen du die Reise gemacht hast; die Beschreibung der Eisen- und Kupferh‰mmer ist vortrefflich und zeigt von vieler Einsicht in die Sache. Ich habe sie ehemals auch besucht; aber meine Relation, wenn ich sie dagegenhalte, sieht sehr st¸mperm‰flig aus. Der ganze Brief ¸ber die Leinwandfabrikation ist lehrreich und die Anmerkung ¸ber die Konkurrenz sehr treffend. An einigen Orten hast du Fehler in der Addition gemacht, die jedoch sehr verzeihlich sind.

Was aber mich und meinen Vater am meisten und hˆchsten freut, sind deine gr¸ndlichen Einsichten in die Bewirtschaftung und besonders in die Verbesserung der Feldg¸ter. Wir haben Hoffnung, ein grofles Gut, das in Sequestration liegt, in einer sehr fruchtbaren Gegend zu erkaufen. Wir wenden das Geld, das wir aus dem v‰terlichen Hause lˆsen, dazu an; ein Teil wird geborgt, und ein Teil kann stehenbleiben; und wir rechnen auf dich, dafl du dahin ziehst, den Verbesserungen vorstehst, und so kann, um nicht zuviel zu sagen, das Gut in einigen Jahren um ein Drittel an Wert steigen; man verkauft es wieder, sucht ein grˆfleres, verbessert und handelt wieder, und dazu bist du der Mann. Unsere Federn sollen indes zu Hause nicht m¸flig sein, und wir wollen uns bald in einen beneidenswerten Zustand versetzen.

Jetzt lebe wohl! Geniefle das Leben auf der Reise und ziehe hin, wo du es vergn¸glich und n¸tzlich findest. Vor dem ersten halben Jahre bed¸rfen wir deiner nicht; du kannst dich also nach Belieben in der Welt umsehen: denn die beste Bildung findet ein gescheiter Mensch auf Reisen. Lebe wohl, ich freue mich, so nahe mit dir verbunden, auch nunmehr im Geist der T‰tigkeit mit dir vereint zu werden.”

So gut dieser Brief geschrieben war und soviel ˆkonomische Wahrheiten er enthalten mochte, miflfiel er doch Wilhelmen auf mehr als eine Weise. Das Lob, das er ¸ber seine fingierten statistischen, technologischen und ruralischen Kenntnisse erhielt, war ihm ein stiller Vorwurf; und das Ideal, das ihm sein Schwager vom Gl¸ck des b¸rgerlichen Lebens vorzeichnete, reizte ihn keineswegs; vielmehr ward er durch einen heimlichen Geist des Widerspruchs mit Heftigkeit auf die entgegengesetzte Seite getrieben. Er ¸berzeugte sich, dafl er nur auf dem Theater die Bildung, die er sich zu geben w¸nschte, vollenden kˆnne, und schien in seinem Entschlusse nur desto mehr best‰rkt zu werden, je lebhafter Werner, ohne es zu wissen, sein Gegner geworden war. Er faflte darauf alle seine Argumente zusammen und best‰tigte bei sich seine Meinung nur um desto mehr, je mehr er Ursache zu haben glaubte, sie dem klugen Werner in einem g¸nstigen Lichte darzustellen, und auf diese Weise entstand eine Antwort, die wir gleichfalls einr¸cken.

V. Buch, 3. Kapitel

Drittes Kapitel

“Dein Brief ist so wohl geschrieben und so gescheit und klug gedacht, dafl sich nichts mehr dazusetzen l‰flt. Du wirst mir aber verzeihen, wenn ich sage, dafl man gerade das Gegenteil davon meinen, behaupten und tun und doch auch recht haben kann. Deine Art, zu sein und zu denken, geht auf einen unbeschr‰nkten Besitz und auf eine leichte, lustige Art zu genieflen hinaus, und ich brauche dir kaum zu sagen, dafl ich daran nichts, was mich reizte, finden kann.

Zuerst mufl ich dir leider bekennen, dafl mein Tagebuch aus Not, um meinem Vater gef‰llig zu sein, mit H¸lfe eines Freundes aus mehreren B¸chern zusammengeschrieben ist und dafl ich wohl die darin enthaltenen Sachen und noch mehrere dieser Art weifl, aber keineswegs verstehe noch mich damit abgeben mag. Was hilft es mir, gutes Eisen zu fabrizieren, wenn mein eigenes Inneres voller Schlacken ist? und was, ein Landgut in Ordnung zu bringen, wenn ich mit mir selber uneins bin?

Dafl ich dir’s mit einem Worte sage: mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden, das war dunkel von Jugend auf mein Wunsch und meine Absicht. Noch hege ich ebendiese Gesinnungen, nur dafl mir die Mittel, die mir es mˆglich machen werden, etwas deutlicher sind. Ich habe mehr Welt gesehen, als du glaubst, und sie besser benutzt, als du denkst. Schenke deswegen dem, was ich sage, einige Aufmerksamkeit, wenn es gleich nicht ganz nach deinem Sinne sein sollte.

W‰re ich ein Edelmann, so w‰re unser Streit bald abgetan; da ich aber nur ein B¸rger bin, so mufl ich einen eigenen Weg nehmen, und ich w¸nsche, dafl du mich verstehen mˆgest. Ich weifl nicht, wie es in fremden L‰ndern ist, aber in Deutschland ist nur dem Edelmann eine gewisse allgemeine, wenn ich sagen darf personelle Ausbildung mˆglich. Ein B¸rger kann sich Verdienst erwerben und zur hˆchsten Not seinen Geist ausbilden; seine Persˆnlichkeit geht aber verloren, er mag sich stellen, wie er will. Indem es dem Edelmann, der mit den Vornehmsten umgeht, zur Pflicht wird, sich selbst einen vornehmen Anstand zu geben, indem dieser Anstand, da ihm weder T¸r noch Tor verschlossen ist, zu einem freien Anstand wird, da er mit seiner Figur, mit seiner Person, es sei bei Hofe oder bei der Armee, bezahlen mufl: so hat er Ursache, etwas auf sie zu halten und zu zeigen, dafl er etwas auf sie h‰lt. Eine gewisse feierliche Grazie bei gewˆhnlichen Dingen, eine Art von leichtsinniger Zierlichkeit bei ernsthaften und wichtigen kleidet ihn wohl, weil er sehen l‰flt, dafl er ¸berall im Gleichgewicht steht. Er ist eine ˆffentliche Person, und je ausgebildeter seine Bewegungen, je sonorer seine Stimme, je gehaltner und gemessener sein ganzes Wesen ist, desto vollkommner ist er. Wenn er gegen Hohe und Niedre, gegen Freunde und Verwandte immer ebenderselbe bleibt, so ist nichts an ihm auszusetzen, man darf ihn nicht anders w¸nschen. Er sei kalt, aber verst‰ndig; verstellt, aber klug. Wenn er sich ‰uflerlich in jedem Momente seines Lebens zu beherrschen weifl, so hat niemand eine weitere Forderung an ihn zu machen, und alles ¸brige, was er an und um sich hat, F‰higkeit, Talent, Reichtum, alles scheinen nur Zugaben zu sein.

Nun denke dir irgendeinen B¸rger, der an jene Vorz¸ge nur einigen Anspruch zu machen ged‰chte; durchaus mufl es ihm mifllingen, und er m¸flte desto ungl¸cklicher werden, je mehr sein Naturell ihm zu jener Art zu sein F‰higkeit und Trieb gegeben h‰tte.

Wenn der Edelmann im gemeinen Leben gar keine Grenzen kennt, wenn man aus ihm Kˆnige oder kˆnig‰hnliche Figuren erschaffen kann, so darf er ¸berall mit einem stillen Bewufltsein vor seinesgleichen treten; er darf ¸berall vorw‰rtsdringen, anstatt dafl dem B¸rger nichts besser ansteht als das reine, stille Gef¸hl der Grenzlinie, die ihm gezogen ist. Er darf nicht fragen: “Was bist du?” sondern nur: “Was hast du? welche Einsicht, welche Kenntnis, welche F‰higkeit, wieviel Vermˆgen?” Wenn der Edelmann durch die Darstellung seiner Person alles gibt, so gibt der B¸rger durch seine Persˆnlichkeit nichts und soll nichts geben. Jener darf und soll scheinen; dieser soll nur sein, und was er scheinen will, ist l‰cherlich oder abgeschmackt. Jener soll tun und wirken, dieser soll leisten und schaffen; er soll einzelne F‰higkeiten ausbilden, um brauchbar zu werden, und es wird schon vorausgesetzt, dafl in seinem Wesen keine Harmonie sei noch sein d¸rfe, weil er, um sich auf eine Weise brauchbar zu machen, alles ¸brige vernachl‰ssigen mufl.

An diesem Unterschiede ist nicht etwa die Anmaflung der Edelleute und die Nachgiebigkeit der B¸rger, sondern die Verfassung der Gesellschaft selbst schuld; ob sich daran einmal etwas ‰ndern wird und was sich ‰ndern wird, bek¸mmert mich wenig; genug, ich habe, wie die Sachen jetzt stehen, an mich selbst zu denken und wie ich mich selbst und das, was mir ein unerl‰flliches Bed¸rfnis ist, rette und erreiche.

Ich habe nun einmal gerade zu jener harmonischen Ausbildung meiner Natur, die mir meine Geburt versagt, eine unwiderstehliche Neigung. Ich habe, seit ich dich verlassen, durch Leibes¸bung viel gewonnen; ich habe viel von meiner gewˆhnlichen Verlegenheit abgelegt und stelle mich so ziemlich dar. Ebenso habe ich meine Sprache und Stimme ausgebildet, und ich darf ohne Eitelkeit sagen, dafl ich in Gesellschaften nicht miflfalle. Nun leugne ich dir nicht, dafl mein Trieb t‰glich un¸berwindlicher wird, eine ˆffentliche Person zu sein und in einem weitern Kreise zu gefallen und zu wirken. Dazu kˆmmt meine Neigung zur Dichtkunst und zu allem, was mit ihr in Verbindung steht, und das Bed¸rfnis, meinen Geist und Geschmack auszubilden, damit ich nach und nach auch bei dem Genufl, den ich nicht entbehren kann, nur das Gute wirklich f¸r gut, und das Schˆne f¸r schˆn halte. Du siehst wohl, dafl das alles f¸r mich nur auf dem Theater zu finden ist und dafl ich mich in diesem einzigen Elemente nach Wunsch r¸hren und ausbilden kann. Auf den Brettern erscheint der gebildete Mensch so gut persˆnlich in seinem Glanz als in den obern Klassen; Geist und Kˆrper m¸ssen bei jeder Bem¸hung gleichen Schritt gehen, und ich werde da so gut sein und scheinen kˆnnen als irgend anderswo. Suche ich daneben noch Besch‰ftigungen, so gibt es dort mechanische Qu‰lereien genug, und ich kann meiner Geduld t‰gliche ¸bung verschaffen.

Disputiere mit mir nicht dar¸ber; denn eh du mir schreibst, ist der Schritt schon geschehen. Wegen der herrschenden Vorurteile will ich meinen Namen ver‰ndern, weil ich mich ohnehin sch‰me, als Meister aufzutreten. Lebe wohl. Unser Vermˆgen ist in so guter Hand, dafl ich mich darum gar nicht bek¸mmere; was ich brauche, verlange ich gelegentlich von dir; es wird nicht viel sein, denn ich hoffe, dafl mich meine Kunst auch n‰hren soll.”

Der Brief war kaum abgeschickt, als Wilhelm auf der Stelle Wort hielt und zu Serlos und der ¸brigen groflen Verwunderung sich auf einmal erkl‰rte: dafl er sich zum Schauspieler widme und einen Kontrakt auf billige Bedingungen eingehen wolle. Man war hier¸ber bald einig, denn Serlo hatte schon fr¸her sich so erkl‰rt, dafl Wilhelm und die ¸brigen damit gar wohl zufrieden sein konnten. Die ganze verungl¸ckte Gesellschaft, mit der wir uns so lange unterhalten haben, ward auf einmal angenommen, ohne dafl jedoch, aufler etwa Laertes, sich einer gegen Wilhelmen dankbar erzeigt h‰tte. Wie sie ohne Zutrauen gefordert hatten, so empfingen sie ohne Dank. Die meisten wollten lieber ihre Anstellung dem Einflusse Philinens zuschreiben und richteten ihre Danksagungen an sie. Indessen wurden die ausgefertigten Kontrakte unterschrieben, und durch eine unerkl‰rliche Verkn¸pfung von Ideen entstand vor Wilhelms Einbildungskraft in dem Augenblicke, als er seinen fingierten Namen unterzeichnete, das Bild jenes Waldplatzes, wo er verwundet in Philinens Schofl gelegen. Auf einem Schimmel kam die liebensw¸rdige Amazone aus den B¸schen, nahte sich ihm und stieg ab. Ihr menschenfreundliches Bem¸hen hiefl sie gehen und kommen; endlich stand sie vor ihm. Das Kleid fiel von ihren Schultern; ihr Gesicht, ihre Gestalt fing an zu gl‰nzen, und sie verschwand. So schrieb er seinen Namen nur mechanisch hin, ohne zu wissen, was er tat, und f¸hlte erst, nachdem er unterzeichnet hatte, dafl Mignon an seiner Seite stand, ihn am Arm hielt und ihm die Hand leise wegzuziehen versucht hatte.

V. Buch, 4. Kapitel

Viertes Kapitel

Eine der Bedingungen, unter denen Wilhelm sich aufs Theater begab, war von Serlo nicht ohne Einschr‰nkung zugestanden worden. Jener verlangte, dafl “Hamlet” ganz und unzerst¸ckt aufgef¸hrt werden sollte, und dieser liefl sich das wunderliche Begehren insofern gefallen, als es mˆglich sein w¸rde. Nun hatten sie hier¸ber bisher manchen Streit gehabt; denn was mˆglich oder nicht mˆglich sei und was man von dem St¸ck weglassen kˆnne, ohne es zu zerst¸cken, dar¸ber waren beide sehr verschiedener Meinung.

Wilhelm befand sich noch in den gl¸cklichen Zeiten, da man nicht begreifen kann, dafl an einem geliebten M‰dchen, an einem verehrten Schriftsteller irgend etwas mangelhaft sein kˆnne. Unsere Empfindung von ihnen ist so ganz, so mit sich selbst ¸bereinstimmend, dafl wir uns auch in ihnen eine solche vollkommene Harmonie denken m¸ssen. Serlo hingegen sonderte gern und beinah zuviel; sein scharfer Verstand wollte in einem Kunstwerke gewˆhnlich nur ein mehr oder weniger unvollkommenes Ganze erkennen. Er glaubte, so wie man die St¸cke finde, habe man wenig Ursache, mit ihnen so gar bed‰chtig umzugehen, und so muflte auch Shakespeare, so muflte besonders “Hamlet” vieles leiden.

Wilhelm wollte gar nicht hˆren, wenn jener von der Absonderung der Spreu von dem Weizen sprach. “Es ist nicht Spreu und Weizen durcheinander”, rief dieser, “es ist ein Stamm, ‰ste, Zweige, Bl‰tter, Knospen, Bl¸ten und Fr¸chte. Ist nicht eins mit dem andern und durch das andere?” Jener behauptete, man bringe nicht den ganzen Stamm auf den Tisch; der K¸nstler m¸sse goldene ‰pfel in silbernen Schalen seinen G‰sten reichen. Sie erschˆpften sich in Gleichnissen, und ihre Meinungen schienen sich immer weiter voneinander zu entfernen.

Gar verzweifeln wollte unser Freund, als Serlo ihm einst nach langem Streit das einfachste Mittel anriet, sich kurz zu resolvieren, die Feder zu ergreifen und in dem Trauerspiele, was eben nicht gehen wolle noch kˆnne, abzustreichen, mehrere Personen in eine zu dr‰ngen, und wenn er mit dieser Art noch nicht bekannt genug sei oder noch nicht Herz genug dazu habe, so solle er ihm die Arbeit ¸berlassen, und er wolle bald fertig sein.

“Das ist nicht unserer Abrede gem‰fl”, versetzte Wilhelm. “Wie kˆnnen Sie bei soviel Geschmack so leichtsinnig sein?”

“Mein Freund”, rief Serlo aus, “Sie werden es auch schon werden. Ich kenne das Abscheuliche dieser Manier nur zu wohl, die vielleicht noch auf keinem Theater in der Welt stattgefunden hat. Aber wo ist auch eins so verwahrlost als das unsere? Zu dieser ekelhaften Verst¸mmelung zwingen uns die Autoren, und das Publikum erlaubt sie. Wieviel St¸cke haben wir denn, die nicht ¸ber das Mafl des Personals, der Dekorationen und Theatermechanik, der Zeit, des Dialogs und der physischen Kr‰fte des Akteurs hinausschritten? Und doch sollen wir spielen und immer spielen und immer neu spielen. Sollen wir uns dabei nicht unsers Vorteils bedienen, da wir mit zerst¸ckelten Werken ebensoviel ausrichten als mit ganzen? Setzt uns das Publikum doch selbst in den Vorteil! Wenig Deutsche, und vielleicht nur wenige Menschen aller neuern Nationen haben Gef¸hl f¸r ein ‰sthetisches Ganze; sie loben und tadeln nur stellenweise; sie entz¸cken sich nur stellenweise: und f¸r wen ist das ein grˆfleres Gl¸ck als f¸r den Schauspieler, da das Theater immer nur ein gestoppeltes und gest¸ckeltes Wesen bleibt.”

“Ist!” versetzte Wilhelm; “aber mufl es denn auch so bleiben, mufl denn alles bleiben, was ist? ¸berzeugen Sie mich ja nicht, dafl Sie recht haben; denn keine Macht in der Welt w¸rde mich bewegen kˆnnen, einen Kontrakt zu halten, den ich nur im grˆbsten Irrtum geschlossen h‰tte.”

Serlo gab der Sache eine lustige Wendung und ersuchte Wilhelmen, ihre ˆftern Gespr‰che ¸ber “Hamlet” nochmals zu bedenken und selbst die Mittel zu einer gl¸cklichen Bearbeitung zu ersinnen.

Nach einigen Tagen, die er in der Einsamkeit zugebracht hatte, kam Wilhelm mit frohem Blicke zur¸ck. “Ich m¸flte mich sehr irren”, rief er aus, “wenn ich nicht gefunden h‰tte, wie dem Ganzen zu helfen ist; ja ich bin ¸berzeugt, dafl Shakespeare es selbst so w¸rde gemacht haben, wenn sein Genie nicht auf die Hauptsache so sehr gerichtet und nicht vielleicht durch die Novellen, nach denen er arbeitete, verf¸hrt worden w‰re.”

“Lassen Sie hˆren”, sagte Serlo, indem er sich gravit‰tisch aufs Kanapee setzte; “ich werde ruhig aufhorchen, aber auch desto strenger richten.”

Wilhelm versetzte: “Mir ist nicht bange; hˆren Sie nur. Ich unterscheide nach der genausten Untersuchung, nach der reiflichsten ¸berlegung in der Komposition dieses St¸cks zweierlei: das erste sind die groflen innern Verh‰ltnisse der Personen und der Begebenheiten, die m‰chtigen Wirkungen, die aus den Charakteren und Handlungen der Hauptfiguren entstehen, und diese sind einzeln vortrefflich und die Folge, in der sie aufgestellt sind, unverbesserlich. Sie kˆnnen durch keine Art von Behandlung zerstˆrt, ja kaum verunstaltet werden. Diese sind’s, die jedermann zu sehen verlangt, die niemand anzutasten wagt, die sich tief in die Seele eindr¸cken und die man, wie ich hˆre, beinahe alle auf das deutsche Theater gebracht hat. Nur hat man, wie ich glaube, darin gefehlt, dafl man das zweite, was bei diesem St¸ck zu bemerken ist, ich meine die ‰uflern Verh‰ltnisse der Personen, wodurch sie von einem Orte zum andern gebracht oder auf diese und jene Weise durch gewisse zuf‰llige Begebenheiten verbunden werden, f¸r allzu unbedeutend angesehen, nur im Vorbeigehn davon gesprochen oder sie gar weggelassen hat. Freilich sind diese F‰den nur d¸nn und lose, aber sie gehen doch durch’s ganze St¸ck und halten zusammen, was sonst auseinanderfiele, auch wirklich auseinanderf‰llt, wenn man sie wegschneidet und ein ¸briges getan zu haben glaubt, dafl man die Enden stehenl‰flt.

Zu diesen ‰uflern Verh‰ltnissen z‰hle ich die Unruhen in Norwegen, den Krieg mit dem jungen Fortinbras, die Gesandtschaft an den alten Oheim, den geschlichteten Zwist, den Zug des jungen Fortinbras nach Polen und seine R¸ckkehr am Ende; angleichen die R¸ckkehr des Horatio von Wittenberg, die Lust Hamlets, dahin zu gehen, die Reise des Laertes nach Frankreich, seine R¸ckkunft, die Verschickung Hamlets nach England, seine Gefangenschaft beim Seer‰uber, der Tod der beiden Hofleute auf den Uriasbrief: alles dieses sind Umst‰nde und Begebenheiten, die einen Roman weit und breit machen kˆnnen, die aber der Einheit dieses St¸cks, in dem besonders der Held keinen Plan hat, auf das ‰uflerste schaden und hˆchst fehlerhaft sind.”

“So hˆre ich Sie einmal gerne!” rief Serlo.

“Fallen Sie mir nicht ein”, versetzte Wilhelm, “Sie mˆchten mich nicht immer loben. Diese Fehler sind wie fl¸chtige St¸tzen eines Geb‰udes, die man nicht wegnehmen darf, ohne vorher eine feste Mauer unterzuziehen. Mein Vorschlag ist also, an jenen ersten, groflen Situationen gar nicht zu r¸hren, sondern sie sowohl im ganzen als einzelnen mˆglichst zu schonen, aber diese ‰uflern, einzelnen, zerstreuten und zerstreuenden Motive alle auf einmal wegzuwerfen und ihnen ein einziges zu substituieren.”

“Und das w‰re?” fragte Serlo, indem er sich aus seiner ruhigen Stellung aufhob.

“Es liegt auch schon im St¸cke”, erwiderte Wilhelm, “nur mache ich den rechten Gebrauch davon. Es sind die Unruhen in Norwegen. Hier haben Sie meinen Plan zur Pr¸fung.

Nach dem Tode des alten Hamlet werden die erst eroberten Norweger unruhig. Der dortige Statthalter schickt seinen Sohn Horatio, einen alten Schulfreund Hamlets, der aber an Tapferkeit und Lebensklugheit allen andern vorgelaufen ist, nach D‰nemark, auf die Ausr¸stung der Flotte zu dringen, welche unter dem neuen, der Schwelgerei ergebenen Kˆnig nur saumselig vonstatten geht. Horatio kennt den alten Kˆnig, denn er hat seinen letzten Schlachten beigewohnt, hat bei ihm in Gunsten gestanden, und die erste Geisterszene wird dadurch nicht verlieren. Der neue Kˆnig gibt sodann dem Horatio Audienz und schickt den Laertes nach Norwegen mit der Nachricht, dafl die Flotte bald anlanden werde, indes Horatio den Auftrag erh‰lt, die R¸stung derselben zu beschleunigen; dagegen will die Mutter nicht einwilligen, dafl Hamlet, wie er w¸nschte, mit Horatio zur See gehe.”

“Gott sei Dank!” rief Serlo, “so werden wir auch Wittenberg und die hohe Schule los, die mir immer ein leidiger Anstofl war. Ich finde Ihren Gedanken recht gut: denn aufler den zwei einzigen fernen Bildern, Norwegen und der Flotte, braucht der Zuschauer sich nichts zu denken; das ¸brige sieht er alles, das ¸brige geht alles vor, anstatt dafl sonst seine Einbildungskraft in der ganzen Welt herumgejagt w¸rde.”

“Sie sehen leicht”, versetzte Wilhelm, “wie ich nunmehr auch das ¸brige zusammenhalten kann. Wenn Hamlet dem Horatio die Missetat seines Stiefvaters entdeckt, so r‰t ihm dieser, mit nach Norwegen zu gehen, sich der Armee zu versichern und mit gewaffneter Hand zur¸ckzukehren. Da Hamlet dem Kˆnig und der Kˆnigin zu gef‰hrlich wird, haben sie kein n‰heres Mittel, ihn loszuwerden, als ihn nach der Flotte zu schicken und ihm Rosenkranz und G¸ldenstern zu Beobachtern mitzugeben; und da indes Laertes zur¸ckkommt, soll dieser bis zum Meuchelmord erhitzte J¸ngling ihm nachgeschickt werden. Die Flotte bleibt wegen ung¸nstigen Windes liegen; Hamlet kehrt nochmals zur¸ck, seine Wanderung ¸ber den Kirchhof kann vielleicht gl¸cklich motiviert werden; sein Zusammentreffen mit Laertes in Opheliens Grabe ist ein grofler, unentbehrlicher Moment. Hierauf mag der Kˆnig bedenken, dafl es besser sei, Hamlet auf der Stelle loszuwerden; das Fest der Abreise, der scheinbaren Versˆhnung mit Laertes wird nun feierlich begangen, wobei man Ritterspiele h‰lt und auch Hamlet und Laertes fechten. Ohne die vier Leichen kann ich das St¸ck nicht schlieflen; es darf niemand ¸brigbleiben. Hamlet gibt, da nun das Wahlrecht des Volks wieder eintritt, seine Stimme sterbend dem Horatio.”

“Nur geschwind”, versetzte Serlo, “setzen Sie sich hin und arbeiten das St¸ck aus; die Idee hat vˆllig meinen Beifall; nur dafl die Lust nicht verraucht.”

V. Buch, 5. Kapitel

F¸nftes Kapitel

Wilhelm hatte sich schon lange mit einer ¸bersetzung “Hamlets” abgegeben; er hatte sich dabei der geistvollen Wielandschen Arbeit bedient, durch die er ¸berhaupt Shakespearen zuerst kennenlernte. Was in derselben ausgelassen war, f¸gte er hinzu, und so war er im Besitz eines vollst‰ndigen Exemplars in dem Augenblicke, da er mit Serlo ¸ber die Behandlung so ziemlich einig geworden war. Er fing nun an, nach seinem Plane auszuheben und einzuschieben, zu trennen und zu verbinden, zu ver‰ndern und oft wiederherzustellen; denn so zufrieden er auch mit seiner Idee war, so schien ihm doch bei der Ausf¸hrung immer, dafl das Original nur verdorben werde.

Sobald er fertig war, las er es Serlo und der ¸brigen Gesellschaft vor. Sie bezeugten sich sehr zufrieden damit; besonders machte Serlo manche g¸nstige Bemerkung.

“Sie haben”, sagte er unter anderm, “sehr richtig empfunden, dafl ‰uflere Umst‰nde dieses St¸ck begleiten, aber einfacher sein m¸ssen, als sie uns der grofle Dichter gegeben hat. Was aufler dem Theater vorgeht, was der Zuschauer nicht sieht, was er sich vorstellen mufl, ist wie ein Hintergrund, vor dem die spielenden Figuren sich bewegen. Die grofle, einfache Aussicht auf die Flotte und Norwegen wird dem St¸cke sehr gut tun; n‰hme man sie ganz weg, so ist es nur eine Familienszene, und der grofle Begriff, dafl hier ein ganzes kˆnigliches Haus durch innere Verbrechen und Ungeschicklichkeiten zugrunde geht, wird nicht in seiner ganzen W¸rde dargestellt. Bliebe aber jener Hintergrund selbst mannigfaltig, beweglich, konfus: so t‰te er dem Eindrucke der Figuren Schaden.”

Wilhelm nahm nun wieder die Partie Shakespeares und zeigte, dafl er f¸r Insulaner geschrieben habe, f¸r Engl‰nder, die selbst im Hintergrunde nur Schiffe und Seereisen, die K¸ste von Frankreich und Kaper zu sehen gewohnt sind, und dafl, was jenen etwas ganz Gewˆhnliches sei, uns schon zerstreue und verwirre.

Serlo muflte nachgeben, und beide stimmten darin ¸berein, dafl, da das St¸ck nun einmal auf das deutsche Theater solle, dieser ernstere, einfachere Hintergrund f¸r unsre Vorstellungsart am besten passen werde.

Die Rollen hatte man schon fr¸her ausgeteilt; den Polonius ¸bernahm Serlo; Aurelie Ophelien; Laertes war durch seinen Namen schon bezeichnet; ein junger, untersetzter, muntrer, neuangekommener J¸ngling erhielt die Rolle des Horatio; nur wegen des Kˆnigs und des Geistes war man in einiger Verlegenheit. F¸r beide Rollen war nur der alte Polterer da. Serlo schlug den Pedanten zum Kˆnige vor; wogegen Wilhelm aber aufs ‰uflerste protestierte. Man konnte sich nicht entschlieflen.

Ferner hatte Wilhelm in seinem St¸cke die beiden Rollen von Rosenkranz und G¸ldenstern stehenlassen. “Warum haben Sie diese nicht in eine verbunden?” fragte Serlo, “diese Abbreviatur ist doch so leicht gemacht.”

“Gott bewahre mich vor solchen Verk¸rzungen, die zugleich Sinn und Wirkung aufheben!” versetzte Wilhelm. “Das, was diese beiden Menschen sind und tun, kann nicht durch einen vorgestellt werden. In solchen Kleinigkeiten zeigt sich Shakespeares Grˆfle. Dieses leise Auftreten, dieses Schmiegen und Biegen, dies Jasagen, Streicheln und Schmeicheln, diese Behendigkeit, dies Schw‰nzeln, diese Allheit und Leerheit, diese rechtliche Schurkerei, diese Unf‰higkeit, wie kann sie durch einen Menschen ausgedr¸ckt werden? Es sollten ihrer wenigstens ein Dutzend sein, wenn man sie haben kˆnnte; denn sie sind blofl in Gesellschaft etwas, sie sind die Gesellschaft, und Shakespeare war sehr bescheiden und weise, dafl er nur zwei solche Repr‰sentanten auftreten liefl. ¸berdies brauche ich sie in meiner Bearbeitung als ein Paar, das mit dem einen, guten, trefflichen Horatio kontrastiert.”

“Ich verstehe Sie”, sagte Serlo, “und wir kˆnnen uns helfen. Den einen geben wir Elmiren (so nannte man die ‰lteste Tochter des Polterers); es kann nicht schaden, wenn sie gut aussehen, und ich will die Puppen putzen und dressieren, dafl es eine Lust sein soll.”

Philine freute sich auflerordentlich, dafl sie die Herzogin in der kleinen Komˆdie spielen sollte. “Das will ich so nat¸rlich machen”, rief sie aus, “wie man in der Geschwindigkeit einen zweiten heiratet, nachdem man den ersten ganz auflerordentlich geliebt hat. Ich hoffe mir den grˆflten Beifall zu erwerben, und jeder Mann soll w¸nschen, der dritte zu werden.”

Aurelie machte ein verdrieflliches Gesicht bei diesen ‰uflerungen; ihr Widerwille gegen Philinen nahm mit jedem Tage zu.

“Es ist recht schade”, sagte Serlo, “dafl wir kein Ballett haben; sonst sollten Sie mir mit Ihrem ersten und zweiten Manne ein Pas de deux tanzen, und der Alte sollte nach dem Takt einschlafen, und Ihre F¸flchen und W‰dchen w¸rden sich dort hinten auf dem Kindertheater ganz allerliebst ausnehmen.”

“Von meinen W‰dchen wissen Sie ja wohl nicht viel”, versetzte sie schnippisch, “und was meine F¸flchen betrifft”, rief sie, indem sie schnell unter den Tisch reichte, ihre Pantˆffelchen heraufholte und nebeneinander vor Serlo hinstellte: “hier sind die Stelzchen, und ich gebe Ihnen auf, niedlichere zu finden.”

“Es war Ernst!” sagte er, als er die zierlichen Halbschuhe betrachtete. Gewifl, man konnte nicht leicht etwas Artigers sehen.

Sie waren Pariser Arbeit; Philine hatte sie von der Gr‰fin zum Geschenk erhalten, einer Dame, deren schˆner Fufl ber¸hmt war.

“Ein reizender Gegenstand!” rief Serlo, “das Herz h¸pft mir, wenn ich sie ansehe.”

“Welche Verzuckungen!” sagte Philine.

“Es geht nichts ¸ber ein Paar Pantˆffelchen von so feiner, schˆner Arbeit”, rief Serlo; “doch ist ihr Klang noch reizender als ihr Anblick.” Er hub sie auf und liefl sie einigemal hintereinander wechselsweise auf den Tisch fallen.

“Was soll das heiflen? Nur wieder her damit!” rief Philine.

“Darf ich sagen”, versetzte er mit verstellter Bescheidenheit und schalkhaftem Ernst, “wir andern Junggesellen, die wir nachts meist allein sind und uns doch wie andre Menschen f¸rchten und im Dunkeln uns nach Gesellschaft sehnen, besonders in Wirtsh‰usern und fremden Orten, wo es nicht ganz geheuer ist, wir finden es gar trˆstlich, wenn ein gutherziges Kind uns Gesellschaft und Beistand leisten will. Es ist Nacht, man liegt im Bette, es raschelt, man schaudert, die T¸re tut sich auf, man erkennt ein liebes, pisperndes Stimmchen, es schleicht was herbei, die Vorh‰nge rauschen, klipp! klapp! die Pantoffeln fallen, und husch! man ist nicht mehr allein. Ach der liebe, der einzige Klang, wenn die Abs‰tzchen auf den Boden aufschlagen! Je zierlicher sie sind, je feiner klingt’s. Man spreche mir von Philomelen, von rauschenden B‰chen, vom S‰useln der Winde und von allem, was je georgelt und gepfiffen worden ist, ich halte mich an das Klipp! Klapp!–Klipp! Klapp! ist das schˆnste Thema zu einem Rondeau, das man immer wieder von vorne zu hˆren w¸nscht.”

Philine nahm ihm die Pantoffeln aus den H‰nden und sagte: “Wie ich sie krummgetreten habe! Sie sind mir viel zu weit.” Dann spielte sie damit und rieb die Sohlen gegeneinander. “Was das heifl wird!” rief sie aus, indem sie die eine Sohle flach an die Wange hielt, dann wieder rieb und sie gegen Serlo hinreichte. Er war gutm¸tig genug, nach der W‰rme zu f¸hlen, und “Klipp! Klapp!” rief sie, indem sie ihm einen derben Schlag mit dem Absatz versetzte, dafl er schreiend die Hand zur¸ckzog. “Ich will euch lehren, bei meinen Pantoffeln was anders denken!” sagte Philine lachend.

“Und ich will dich lehren, alte Leute wie Kinder anf¸hren!” rief Serlo dagegen, sprang auf, faflte sie mit Heftigkeit und raubte ihr manchen Kufl, deren jeden sie sich mit ernstlichem Widerstreben gar k¸nstlich abzwingen liefl. ¸ber dem Balgen fielen ihre langen Haare herunter und wickelten sich um die Gruppe, der Stuhl schlug an den Boden, und Aurelie, die von diesem Unwesen innerlich beleidigt war, stand mit Verdrufl auf.

V. Buch, 6. Kapitel

Sechstes Kapitel

Obgleich bei der neuen Bearbeitung “Hamlets” manche Personen weggefallen waren, so blieb die Anzahl derselben doch immer noch grofl genug, und fast wollte die Gesellschaft nicht hinreichen.

“Wenn das so fortgeht”, sagte Serlo, “wird unser Souffleur auch noch aus dem Loche hervorsteigen m¸ssen, unter uns wandeln und zur Person werden.”

“Schon oft habe ich ihn an seiner Stelle bewundert”, versetzte Wilhelm.

“Ich glaube nicht, dafl es einen vollkommenern Einhelfer gibt”, sagte Serlo. “Kein Zuschauer wird ihn jemals hˆren; wir auf dem Theater verstehen jede Silbe. Er hat sich gleichsam ein eigen Organ dazu gemacht und ist wie ein Genius, der uns in der Not vernehmlich zulispelt. Er f¸hlt, welchen Teil seiner Rolle der Schauspieler vollkommen innehat, und ahnet von weitem, wenn ihn das Ged‰chtnis verlassen will. In einigen F‰llen, da ich die Rolle kaum ¸berlesen konnte, da er sie mir Wort vor Wort vorsagte, spielte ich sie mit Gl¸ck; nur hat er Sonderbarkeiten, die jeden andern unbrauchbar machen w¸rden: er nimmt so herzlichen Anteil an den St¸cken, dafl er pathetische Stellen nicht eben deklamiert, aber doch affektvoll rezitiert. Mit dieser Unart hat er mich mehr als einmal irregemacht.”

“So wie er mich”, sagte Aurelie, “mit einer andern Sonderbarkeit einst an einer sehr gef‰hrlichen Stelle steckenliefl.”

“Wie war das bei seiner Aufmerksamkeit mˆglich?” fragte Wilhelm.

“Er wird”, versetzte Aurelie, “bei gewissen Stellen so ger¸hrt, dafl er heifle Tr‰nen weint und einige Augenblicke ganz aus der Fassung kommt; und es sind eigentlich nicht die sogenannten r¸hrenden Stellen, die ihn in diesen Zustand versetzen; es sind, wenn ich mich deutlich ausdr¸cke, die schˆnen Stellen, aus welchen der reine Geist des Dichters gleichsam aus hellen, offenen Augen hervorsieht, Stellen, bei denen wir andern uns nur hˆchstens freuen und wor¸ber viele Tausende wegsehen.”

“Und warum erscheint er mit dieser zarten Seele nicht auf dem Theater?”

“Ein heiseres Organ und ein steifes Betragen schlieflen ihn von der B¸hne und seine hypochondrische Natur von der Gesellschaft aus”, versetzte Serlo. “Wieviel M¸he habe ich mir gegeben, ihn an mich zu gewˆhnen! aber vergebens. Er liest vortrefflich, wie ich nicht wieder habe lesen hˆren; niemand h‰lt wie er die zarte Grenzlinie zwischen Deklamation und affektvoller Rezitation.”

“Gefunden!” rief Wilhelm, “gefunden! Welch eine gl¸ckliche Entdeckung! Nun haben wir den Schauspieler, der uns die Stelle vom rauhen Pyrrhus rezitieren soll.”

“Man mufl so viel Leidenschaft haben wie Sie”, versetzte Serlo, “um alles zu seinem Endzwecke zu nutzen.”

“Gewifl, ich war in der grˆflten Sorge”, rief Wilhelm, “dafl vielleicht diese Stelle wegbleiben m¸flte, und das ganze St¸ck w¸rde dadurch gel‰hmt werden.”

“Das kann ich doch nicht einsehen”, versetzte Aurelie.

“Ich hoffe, Sie werden bald meiner Meinung sein”, sagte Wilhelm. “Shakespeare f¸hrt die ankommenden Schauspieler zu einem doppelten Endzweck herein. Erst macht der Mann, der den Tod des Priamus mit so viel eigner R¸hrung deklamiert, tiefen Eindruck auf den Prinzen selbst; er sch‰rft das Gewissen des jungen, schwankenden Mannes: und so wird diese Szene das Pr‰ludium zu jener, in welcher das kleine Schauspiel so grofle Wirkung auf den Kˆnig tut. Hamlet f¸hlt sich durch den Schauspieler besch‰mt, der an fremden, an fingierten Leiden so groflen Teil nimmt; und der Gedanke, auf ebendie Weise einen Versuch auf das Gewissen seines Stiefvaters zu machen, wird dadurch bei ihm sogleich erregt. Welch ein herrlicher Monolog ist’s, der den zweiten Akt schlieflt! Wie freue ich mich darauf, ihn zu rezitieren:

“Oh! welch ein Schurke, welch ein niedriger Sklave bin ich!–Ist es nicht ungeheuer, dafl dieser Schauspieler hier, nur durch Erdichtung, durch einen Traum von Leidenschaft seine Seele so nach seinem Willen zwingt, dafl ihre Wirkung sein ganzes Gesicht entf‰rbt:–Tr‰nen im Auge! Verwirrung im Betragen! Gebrochene Stimme! Sein ganzes Wesen von einem Gef¸hl durchdrungen! und das alles um nichts–um Hekuba!–Was ist Hekuba f¸r ihn oder er f¸r Hekuba, dafl er um sie weinen sollte?””

“Wenn wir nur unsern Mann auf das Theater bringen kˆnnen!” sagte Aurelie.

“Wir m¸ssen”, versetzte Serlo, “ihn nach und nach hineinf¸hren. Bei den Proben mag er die Stelle lesen, und wir sagen, dafl wir einen Schauspieler, der sie spielen soll, erwarten, und so sehen wir, wie wir ihm n‰herkommen.”

Nachdem sie dar¸ber einig waren, wendete sich das Gespr‰ch auf den Geist. Wilhelm konnte sich nicht entschlieflen, die Rolle des lebenden Kˆnigs dem Pedanten zu ¸berlassen, damit der Polterer den Geist spielen kˆnne, und meinte vielmehr, dafl man noch einige Zeit warten sollte, indem sich doch noch einige Schauspieler gemeldet h‰tten und sich unter ihnen der rechte Mann finden kˆnnte.

Man kann sich daher denken, wie verwundert Wilhelm war, als er unter der Adresse seines Theaternamens abends folgendes Billett mit wunderbaren Z¸gen versiegelt auf seinem Tische fand:

“Du bist, o sonderbarer J¸ngling, wir wissen es, in grofler Verlegenheit. Du findest kaum Menschen zu deinem “Hamlet”, geschweige Geister. Dein Eifer verdient ein Wunder; Wunder kˆnnen wir nicht tun, aber etwas Wunderbares soll geschehen. Hast du Vertrauen, so soll zur rechten Stunde der Geist erscheinen! Habe Mut und bleibe gefaflt! Es bedarf keiner Antwort; dein Entschlufl wird uns bekannt werden.”

Mit diesem seltsamen Blatte eilte er zu Serlo zur¸ck, der es las und wieder las und endlich mit bedenklicher Miene versicherte: die Sache sei von Wichtigkeit; man m¸sse wohl ¸berlegen, ob man es wagen d¸rfe und kˆnne. Sie sprachen vieles hin und wider; Aurelie war still und l‰chelte von Zeit zu Zeit, und als nach einigen Tagen wieder davon die Rede war, gab sie nicht undeutlich zu verstehen, dafl sie es f¸r einen Scherz von Serlo halte. Sie bat Wilhelmen, vˆllig aufler Sorge zu sein und den Geist geduldig zu erwarten.

¸berhaupt war Serlo von dem besten Humor; denn die abgehenden Schauspieler gaben sich alle mˆgliche M¸he, gut zu spielen, damit man sie ja recht vermissen sollte, und von der Neugierde auf die neue Gesellschaft konnte er auch die beste Einnahme erwarten.

Sogar hatte der Umgang Wilhelms auf ihn einigen Einflufl gehabt. Er fing an, mehr ¸ber Kunst zu sprechen, denn er war am Ende doch ein Deutscher, und diese Nation gibt sich gern Rechenschaft von dem, was sie tut. Wilhelm schrieb sich manche solche Unterredung auf; und wir werden, da die Erz‰hlung hier nicht so oft unterbrochen werden darf, denjenigen unsrer Leser, die sich daf¸r interessieren, solche dramaturgische Versuche bei einer andern Gelegenheit vorlegen.

Besonders war Serlo eines Abends sehr lustig, als er von der Rolle des Polonius sprach, wie er sie zu fassen gedachte. “Ich verspreche”, sagte er, “diesmal einen recht w¸rdigen Mann zum besten zu geben; ich werde die gehˆrige Ruhe und Sicherheit, Leerheit und Bedeutsamkeit, Annehmlichkeit und geschmackloses Wesen, Freiheit und Aufpassen, treuherzige Schalkheit und erlogene Wahrheit da, wo sie hingehˆren, recht zierlich aufstellen. Ich will einen solchen grauen, redlichen, ausdauernden, der Zeit dienenden Halbschelm aufs allerhˆflichste vorstellen und vortragen, und dazu sollen mir die etwas rohen und groben Pinselstriche unsers Autors gute Dienste leisten. Ich will reden wie ein Buch, wenn ich mich vorbereitet habe, und wie ein Tor, wenn ich bei guter Laune bin. Ich werde abgeschmackt sein, um jedem nach dem Maule zu reden, und immer so fein, es nicht zu merken, wenn mich die Leute zum besten haben. Nicht leicht habe ich eine Rolle mit solcher Lust und Schalkheit ¸bernommen.”

“Wenn ich nur auch von der meinigen soviel hoffen kˆnnte”, sagte Aurelie. “Ich habe weder Jugend noch Weichheit genug, um mich in diesen Charakter zu finden. Nur eins weifl ich leider: das Gef¸hl, das Ophelien den Kopf verr¸ckt, wird mich nicht verlassen.”

“Wir wollen es ja nicht so genau nehmen”, sagte Wilhelm; “denn eigentlich hat mein Wunsch, den Hamlet zu spielen, mich bei allem Studium des St¸cks aufs ‰uflerste irregef¸hrt. Je mehr ich mich in die Rolle studiere, desto mehr sehe ich, dafl in meiner ganzen Gestalt kein Zug der Physiognomie ist, wie Shakespeare seinen Hamlet aufstellt. Wenn ich es recht ¸berlege, wie genau in der Rolle alles zusammenh‰ngt, so getraue ich mir kaum, eine leidliche Wirkung hervorzubringen.”

“Sie treten mit grofler Gewissenhaftigkeit in Ihre Laufbahn”, versetzte Serlo. “Der Schauspieler schickt sich in die Rolle, wie er kann, und die Rolle richtet sich nach ihm, wie sie mufl. Wie hat aber Shakespeare seinen Hamlet vorgezeichnet? Ist er Ihnen denn so ganz un‰hnlich?”

“Zuvˆrderst ist Hamlet blond”, erwiderte Wilhelm.

“Das heifl ich weit gesucht”, sagte Aurelie. “Woher schlieflen Sie das?”

“Als D‰ne, als Nordl‰nder ist er blond von Hause aus und hat blaue Augen.”

“Sollte Shakespeare daran gedacht haben?”

“Bestimmt find ich es nicht ausgedr¸ckt, aber in Verbindung mit andern Stellen scheint es mir unwidersprechlich. Ihm wird das Fechten sauer, der Schweifl l‰uft ihm vom Gesichte, und die Kˆnigin spricht: “Er ist fett, laflt ihn zu Atem kommen.” Kann man sich ihn da anders als blond und wohlbeh‰glich vorstellen? Denn braune Leute sind in ihrer Jugend selten in diesem Falle. Paflt nicht auch seine schwankende Melancholie, seine weiche Trauer, seine t‰tige Unentschlossenheit besser zu einer solchen Gestalt, als wenn Sie sich einen schlanken, braunlockigen J¸ngling denken, von dem man mehr Entschlossenheit und Behendigkeit erwartet?”

“Sie verderben mir die Imagination”, rief Aurelie, “weg mit Ihrem fetten Hamlet! Stellen Sie uns ja nicht Ihren wohlbeleibten Prinzen vor! Geben Sie uns lieber irgendein Quiproquo, das uns reizt, das uns r¸hrt. Die Intention des Autors liegt uns nicht so nahe als unser Vergn¸gen, und wir verlangen einen Reiz, der uns homogen ist.”

V. Buch, 7. Kapitel

Siebentes Kapitel

Einen Abend stritt die Gesellschaft, ob der Roman oder das Drama den Vorzug verdiene. Serlo versicherte, es sei ein vergeblicher, miflverstandener Streit; beide kˆnnten in ihrer Art vortrefflich sein, nur m¸flten sie sich in den Grenzen ihrer Gattung halten.

“Ich bin selbst noch nicht ganz im klaren dar¸ber”, versetzte Wilhelm.

“Wer ist es auch?” sagte Serlo, “und doch w‰re es der M¸he wert, dafl man der Sache n‰herk‰me.”

Sie sprachen viel her¸ber und hin¸ber, und endlich war folgendes ungef‰hr das Resultat ihrer Unterhaltung:

Im Roman wie im Drama sehen wir menschliche Natur und Handlung. Der Unterschied beider Dichtungsarten liegt nicht blofl in der ‰uflern Form, nicht darin, dafl die Personen in dem einen sprechen und dafl in dem andern gewˆhnlich von ihnen erz‰hlt wird. Leider viele Dramen sind nur dialogierte Romane, und es w‰re nicht unmˆglich, ein Drama in Briefen zu schreiben.

Im Roman sollen vorz¸glich Gesinnungen und Begebenheiten vorgestellt werden; im Drama Charaktere und Taten. Der Roman mufl langsam gehen, und die Gesinnungen der Hauptfigur m¸ssen, es sei auf welche Weise es wolle, das Vordringen des Ganzen zur Entwickelung aufhalten. Das Drama soll eilen, und der Charakter der Hauptfigur mufl sich nach dem Ende dr‰ngen und nur aufgehalten werden. Der Romanheld mufl leidend, wenigstens nicht im hohen Grade wirkend sein; von dem dramatischen verlangt man Wirkung und Tat. Grandison, Clarisse, Pamela, der Landpriester von Wakefield, Tom Jones selbst sind, wo nicht leidende, doch retardierende Personen, und alle Begebenheiten werden gewissermaflen nach ihren Gesinnungen gemodelt. Im Drama modelt der Held nichts nach sich, alles widersteht ihm, und er r‰umt und r¸ckt die Hindernisse aus dem Wege oder unterliegt ihnen.

So vereinigte man sich auch dar¸ber, dafl man dem Zufall im Roman gar wohl sein Spiel erlauben kˆnne; dafl er aber immer durch die Gesinnungen der Personen gelenkt und geleitet werden m¸sse; dafl hingegen das Schicksal, das die Menschen ohne ihr Zutun durch unzusammenh‰ngende ‰uflere Umst‰nde zu einer unvorgesehenen Katastrophe hindr‰ngt, nur im Drama statthabe; dafl der Zufall wohl pathetische, niemals aber tragische Situationen hervorbringen d¸rfe; das Schicksal hingegen m¸sse immer f¸rchterlich sein und werde im hˆchsten Sinne tragisch, wenn es schuldige und unschuldige, voneinander unabh‰ngige Taten in eine ungl¸ckliche Verkn¸pfung bringt.

Diese Betrachtungen f¸hrten wieder auf den wunderlichen “Hamlet” und auf die Eigenheiten dieses St¸cks. Der Held, sagte man, hat eigentlich auch nur Gesinnungen; es sind nur Begebenheiten, die zu ihm stoflen, und deswegen hat das St¸ck etwas von dem Gedehnten des Romans; weil aber das Schicksal den Plan gezeichnet hat, weil das St¸ck von einer f¸rchterlichen Tat ausgeht und der Held immer vorw‰rts zu einer f¸rchterlichen Tat gedr‰ngt wird, so ist es im hˆchsten Sinne tragisch und leidet keinen andern als einen tragischen Ausgang.

Nun sollte Leseprobe gehalten werden, welche Wilhelm eigentlich als ein Fest ansah. Er hatte die Rollen vorher kollationiert, dafl also von dieser Seite kein Anstofl sein konnte. Die s‰mtlichen Schauspieler waren mit dem St¸cke bekannt, und er suchte sie nur, ehe sie anfingen, von der Wichtigkeit einer Leseprobe zu ¸berzeugen. Wie man von jedem Musikus verlange, dafl er bis auf einen gewissen Grad vom Blatte spielen kˆnne, so solle auch jeder Schauspieler, ja jeder wohlerzogene Mensch sich ¸ben, vom Blatte zu lesen, einem Drama, einem Gedicht, einer Erz‰hlung sogleich ihren Charakter abzugewinnen und sie mit Fertigkeit vorzutragen. Alles Memorieren helfe nichts, wenn der Schauspieler nicht vorher in den Geist und Sinn des guten Schriftstellers eingedrungen sei; der Buchstabe kˆnne nichts wirken.

Serlo versicherte, dafl er jeder andern Probe, ja der Hauptprobe nachsehen wolle, sobald der Leseprobe ihr Recht widerfahren sei: “Denn gewˆhnlich”, sagte er, “ist nichts lustiger, als wenn Schauspieler von Studieren sprechen; es kommt mir ebenso vor, als wenn die Freim‰urer von Arbeiten reden.”

Die Probe lief nach Wunsch ab, und man kann sagen, dafl der Ruhm und die gute Einnahme der Gesellschaft sich auf diese wenigen wohlangewandten Stunden gr¸ndete.

“Sie haben wohlgetan, mein Freund”, sagte Serlo, nachdem sie wieder allein waren, “dafl Sie unsern Mitarbeitern so ernstlich zusprachen, wenn ich gleich f¸rchte, dafl sie Ihre W¸nsche schwerlich erf¸llen werden.”

“Wieso?” versetzte Wilhelm.

“Ich habe gefunden”, sagte Serlo, “dafl, so leicht man der Menschen Imagination in Bewegung setzen kann, so gern sie sich M‰rchen erz‰hlen lassen, ebenso selten ist es, eine Art von produktiver Imagination bei ihnen zu finden. Bei den Schauspielern ist dieses sehr auffallend. Jeder ist sehr wohl zufrieden, eine schˆne, lobensw¸rdige, brillante Rolle zu ¸bernehmen; selten aber tut einer mehr, als sich mit Selbstgef‰lligkeit an die Stelle des Helden setzen, ohne sich im mindesten zu bek¸mmern, ob ihn auch jemand daf¸r halten werde. Aber mit Lebhaftigkeit zu umfassen, was sich der Autor beim St¸ck gedacht hat, was man von seiner Individualit‰t hingeben m¸sse, um einer Rolle genugzutun, wie man durch eigene ¸berzeugung, man sei ein ganz anderer Mensch, den Zuschauer gleichfalls zur ¸berzeugung hinreifle, wie man durch eine innere Wahrheit der Darstellungskraft diese Bretter in Tempel, diese Pappen in W‰lder verwandelt, ist wenigen gegeben. Diese innere St‰rke des Geistes, wodurch ganz allein der Zuschauer get‰uscht wird, diese erlogene Wahrheit, die ganz allein Wirkung hervorbringt, wodurch ganz allein die Illusion erzielt wird, wer hat davon einen Begriff?

Lassen Sie uns daher ja nicht zu sehr auf Geist und Empfindung dringen! Das sicherste Mittel ist, wenn wir unsern Freunden mit Gelassenheit zuerst den Sinn des Buchstabens erkl‰ren und ihnen den Verstand erˆffnen. Wer Anlage hat, eilt alsdann selbst dem geistreichen und empfindungsvollen Ausdrucke entgegen; und wer sie nicht hat, wird wenigstens niemals ganz falsch spielen und rezitieren. Ich habe aber bei Schauspielern, so wie ¸berhaupt, keine schlimmere Anmaflung gefunden, als wenn jemand Anspr¸che an Geist macht, solange ihm der Buchstabe noch nicht deutlich und gel‰ufig ist.”

V. Buch, 8. Kapitel

Achtes Kapitel

Wilhelm kam zur ersten Theaterprobe sehr zeitig und fand sich auf den Brettern allein. Das Lokal ¸berraschte ihn und gab ihm die wunderbarsten Erinnerungen. Die Wald- und Dorfdekoration stand genau so wie auf der B¸hne seiner Vaterstadt auch bei einer Probe, als ihm an jenem Morgen Mariane lebhaft ihre Liebe bekannte und ihm die erste gl¸ckliche Nacht zusagte. Die Bauernh‰user glichen sich auf dem Theater wie auf dem Lande; die wahre Morgensonne beschien, durch einen halb offenen Fensterladen hereinfallend, einen Teil der Bank, die neben der T¸re schlecht befestigt war; nur leider schien sie nicht wie damals auf Marianens Schofl und Busen. Er setzte sich nieder, dachte dieser wunderbaren ¸bereinstimmung nach und glaubte zu ahnen, dafl er sie vielleicht auf diesem Platze bald wiedersehen werde. Ach, und es war weiter nichts, als dafl ein Nachspiel, zu welchem diese Dekoration gehˆrte, damals auf dem deutschen Theater sehr oft gegeben wurde.

In diesen Betrachtungen stˆrten ihn die ¸brigen ankommenden Schauspieler, mit denen zugleich zwei Theater- und Garderobenfreunde hereintreten und Wilhelmen mit Enthusiasmus begr¸flten. Der eine war gewissermaflen an Madame Melina attachiert; der andere aber ein ganz reiner Freund der Schauspielkunst und beide von der Art, wie sich jede gute Gesellschaft Freunde w¸nschen sollte. Man wuflte nicht zu sagen, ob sie das Theater mehr kannten oder liebten. Sie liebten es zu sehr, um es recht zu kennen; sie kannten es genug, um das Gute zu sch‰tzen und das Schlechte zu verbannen. Aber bei ihrer Neigung war ihnen das Mittelm‰flige nicht unertr‰glich, und der herrliche Genufl, mit dem sie das Gute vor und nach kosteten, war ¸ber allen Ausdruck. Das Mechanische machte ihnen Freude, das Geistige entz¸ckte sie, und ihre Neigung war so grofl, dafl auch eine zerst¸ckelte Probe sie in eine Art von Illusion versetzte. Die M‰ngel schienen ihnen jederzeit in die Ferne zu treten, das Gute ber¸hrte sie wie ein naher Gegenstand. Kurz, sie waren Liebhaber, wie sie sich der K¸nstler in seinem Fache w¸nscht. Ihre liebste Wanderung war von den Kulissen ins Parterre, vom Parterre in die Kulissen, ihr angenehmster Aufenthalt in der Garderobe, ihre emsigste Besch‰ftigung, an der Stellung, Kleidung, Rezitation und Deklamation der Schauspieler etwas zuzustutzen, ihr lebhaftestes Gespr‰ch ¸ber den Effekt, den man hervorgebracht hatte, und ihre best‰ndigste Bem¸hung, den Schauspieler aufmerksam, t‰tig und genau zu erhalten, ihm etwas zugute oder zuliebe zu tun und ohne Verschwendung der Gesellschaft manchen Genufl zu verschaffen. Sie hatten sich beide das ausschlieflliche Recht verschafft, bei Proben und Auff¸hrungen auf dem Theater zu erscheinen. Sie waren, was die Auff¸hrung “Hamlets” betraf, mit Wilhelmen nicht bei allen Stellen einig; hie und da gab er nach, meistens aber behauptete er seine Meinung, und im ganzen diente diese Unterhaltung sehr zur Bildung seines Geschmacks. Er liefl die beiden Freunde sehen, wie sehr er sie sch‰tze, und sie dagegen weissagten nichts weniger von diesen vereinten Bem¸hungen als eine neue Epoche f¸rs deutsche Theater.

Die Gegenwart dieser beiden M‰nner war bei den Proben sehr n¸tzlich. Besonders ¸berzeugten sie unsre Schauspieler, dafl man bei der Probe Stellung und Aktion, wie man sie bei der Auff¸hrung zu zeigen gedenke, immerfort mit der Rede verbinden und alles zusammen durch Gewohnheit mechanisch vereinigen m¸sse. Besonders mit den H‰nden solle man ja bei der Probe einer Tragˆdie keine gemeine Bewegung vornehmen; ein tragischer Schauspieler, der in der Probe Tabak schnupft, mache sie immer bange: denn hˆchstwahrscheinlich werde er an einer solchen Stelle bei der Auff¸hrung die Prise vermissen. Ja sie hielten daf¸r, dafl niemand in Stiefeln probieren solle, wenn die Rolle in Schuhen zu spielen sei. Nichts aber, versicherten sie, schmerze sie mehr, als wenn die Frauenzimmer in den Proben ihre H‰nde in die Rockfalten versteckten.

Auflerdem ward durch das Zureden dieser M‰nner noch etwas sehr Gutes bewirkt, dafl n‰mlich alle Mannspersonen exerzieren lernten. “Da so viele Milit‰rrollen vorkommen”, sagten sie, “sieht nichts betr¸bter aus, als Menschen, die nicht die mindeste Dressur zeigen, in Hauptmanns- und Majorsuniform auf dem Theater herumschwanken zu sehen.”

Wilhelm und Laertes waren die ersten, die sich der P‰dagogik eines Unteroffiziers unterwarfen, und setzten dabei ihre Fecht¸bungen mit grofler Anstrengung fort.

So viel M¸he gaben sich beide M‰nner mit der Ausbildung einer Gesellschaft, die sich so gl¸cklich zusammengefunden hatte. Sie sorgten f¸r die k¸nftige Zufriedenheit des Publikums, indes sich dieses ¸ber ihre entschiedene Liebhaberei gelegentlich aufhielt. Man wuflte nicht, wieviel Ursache man hatte, ihnen dankbar zu sein, besonders da sie nicht vers‰umten, den Schauspielern oft den Hauptpunkt einzusch‰rfen, dafl es n‰mlich ihre Pflicht sei, laut und vernehmlich zu sprechen. Sie fanden hierbei mehr Widerstand und Unwillen, als sie anfangs gedacht hatten. Die meisten wollten so gehˆrt sein, wie sie sprachen, und wenige bem¸hten sich, so zu sprechen, dafl man sie hˆren kˆnnte. Einige schoben den Fehler aufs Geb‰ude, andere sagten, man kˆnne doch nicht schreien, wenn man nat¸rlich, heimlich oder z‰rtlich zu sprechen habe.

Unsre Theaterfreunde, die eine uns‰gliche Geduld hatten, suchten auf alle Weise diese Verwirrung zu lˆsen, diesem Eigensinne beizukommen. Sie sparten weder Gr¸nde noch Schmeicheleien und erreichten zuletzt doch ihren Endzweck, wobei ihnen das gute Beispiel Wilhelms besonders zustatten kam. Er bat sich aus, dafl sie sich bei den Proben in die entferntesten Ecken setzen und, sobald sie ihn nicht vollkommen verstanden, mit dem Schl¸ssel auf die Bank pochen mˆchten. Er artikulierte gut, sprach gem‰fligt aus, steigerte den Ton stufenweise und ¸berschrie sich nicht in den heftigsten Stellen. Die pochenden Schl¸ssel hˆrte man bei jeder Probe weniger; nach und nach lieflen sich die andern dieselbe Operation gefallen, und man konnte hoffen, dafl das St¸ck endlich in allen Winkeln des Hauses von jedermann w¸rde verstanden werden.

Man sieht aus diesem Beispiel, wie gern die Menschen ihren Zweck nur auf ihre eigene Weise erreichen mˆchten, wieviel Not man hat, ihnen begreiflich zu machen, was sich eigentlich von selbst versteht, und wie schwer es ist, denjenigen, der etwas zu leisten w¸nscht, zur Erkenntnis der ersten Bedingungen zu bringen, unter denen sein Vorhaben allein mˆglich wird.

V. Buch, 9. Kapitel

Neuntes Kapitel

Man fuhr nun fort, die nˆtigen Anstalten zu Dekorationen und Kleidern, und was sonst erforderlich war, zu machen. ¸ber einige Szenen und Stellen hatte Wilhelm besondere Grillen, denen Serlo nachgab, teils in R¸cksicht auf den Kontrakt, teils aus ¸berzeugung und weil er hoffte, Wilhelmen durch diese Gef‰lligkeit zu gewinnen und in der Folge desto mehr nach seinen Absichten zu lenken.

So sollte zum Beispiel Kˆnig und Kˆnigin bei der ersten Audienz auf dem Throne sitzend erscheinen, die Hofleute an den Seiten und Hamlet unbedeutend unter ihnen stehen. “Hamlet”, sagte er, “mufl sich ruhig verhalten; seine schwarze Kleidung unterscheidet ihn schon genug. Er mufl sich eher verbergen als zum Vorschein kommen. Nur dann, wenn die Audienz geendigt ist, wenn der Kˆnig mit ihm als Sohn spricht, dann mag er herbeitreten und die Szene ihren Gang gehen.”

Noch eine Hauptschwierigkeit machten die beiden Gem‰lde, auf die sich Hamlet in der Szene mit seiner Mutter so heftig bezieht. “Mir sollen”, sagte Wilhelm, “in Lebensgrˆfle beide im Grunde des Zimmers neben der Hauptt¸re sichtbar sein, und zwar mufl der alte Kˆnig in vˆlliger R¸stung, wie der Geist, auf ebender Seite h‰ngen, wo dieser hervortritt. Ich w¸nsche, dafl die Figur mit der rechten Hand eine befehlende Stellung annehme, etwas gewandt sei und gleichsam ¸ber die Schulter sehe, damit sie dem Geiste vˆllig gleiche in dem Augenblicke, da dieser zur T¸re hinausgeht. Es wird eine sehr grofle Wirkung tun, wenn in diesem Augenblick Hamlet nach dem Geiste und die Kˆnigin nach dem Bilde sieht. Der Stiefvater mag dann im kˆniglichen Ornat, doch unscheinbarer als jener, vorgestellt werden.”

So gab es noch verschiedene Punkte, von denen wir zu sprechen vielleicht Gelegenheit haben.

“Sind Sie auch unerbittlich, dafl Hamlet am Ende sterben mufl?” fragte Serlo.

“Wie kann ich ihn am Leben erhalten”, sagte Wilhelm, “da ihn das ganze St¸ck zu Tode dr¸ckt? Wir haben ja schon so weitl‰ufig dar¸ber gesprochen.”

“Aber das Publikum w¸nscht ihn lebendig.’

“Ich will ihm gern jeden andern Gefallen tun, nur diesmal ist’s unmˆglich. Wir w¸nschen auch, dafl ein braver, n¸tzlicher Mann, der an einer chronischen Krankheit stirbt, noch l‰nger leben mˆge. Die Familie weint und beschwˆrt den Arzt, der ihn nicht halten kann: und sowenig als dieser einer Naturnotwendigkeit zu widerstehen vermag, sowenig kˆnnen wir einer anerkannten Kunstnotwendigkeit gebieten. Es ist eine falsche Nachgiebigkeit gegen die Menge, wenn man ihnen die Empfindungen erregt, die sie haben wollen, und nicht, die sie haben sollen.”

“Wer das Geld bringt, kann die Ware nach seinem Sinne verlangen.”

“Gewissermaflen; aber ein grofles Publikum verdient, dafl man es achte, dafl man es nicht wie Kinder, denen man das Geld abnehmen will, behandle. Man bringe ihm nach und nach durch das Gute Gef¸hl und Geschmack f¸r das Gute bei, und es wird sein Geld mit doppeltem Vergn¸gen einlegen, weil ihm der Verstand, ja die Vernunft selbst bei dieser Ausgabe nichts vorzuwerfen hat. Man kann ihm schmeicheln wie einem geliebten Kinde, schmeicheln, um es zu bessern, um es k¸nftig aufzukl‰ren; nicht wie einem Vornehmen und Reichen, um den Irrtum, den man nutzt, zu verewigen.”

So handelten sie noch manches ab, das sich besonders auf die Frage bezog: was man noch etwa an dem St¸cke ver‰ndern d¸rfe und was unber¸hrt bleiben m¸sse. Wir lassen uns hierauf nicht weiter ein, sondern legen vielleicht k¸nftig die neue Bearbeitung “Hamlets” selbst demjenigen Teile unsrer Leser vor, der sich etwa daf¸r interessieren kˆnnte.

V. Buch, 10. Kapitel

Zehntes Kapitel

Die Hauptprobe war vorbei; sie hatte ¸berm‰flig lange gedauert. Serlo und Wilhelm fanden noch manches zu besorgen: denn ungeachtet der vielen Zeit, die man zur Vorbereitung verwendet hatte, waren doch sehr notwendige Anstalten bis auf den letzten Augenblick verschoben worden.

So waren zum Beispiel die Gem‰lde der beiden Kˆnige noch nicht fertig, und die Szene zwischen Hamlet und seiner Mutter, von der man einen so groflen Effekt hoffte, sah noch sehr mager aus, indem weder der Geist noch sein gemaltes Ebenbild dabei gegenw‰rtig war. Serlo scherzte bei dieser Gelegenheit und sagte: “Wir w‰ren doch im Grunde recht ¸bel angef¸hrt, wenn der Geist ausbliebe, die Wache wirklich mit der Luft fechten und unser Souffleur aus der Kulisse den Vortrag des Geistes supplieren m¸flte.”

“Wir wollen den wunderbaren Freund nicht durch unsern Unglauben verscheuchen”, versetzte Wilhelm; “er kommt gewifl zur rechten Zeit und wird uns so gut als die Zuschauer ¸berraschen.”

“Gewifl”, rief Serlo, “ich werde froh sein, wenn das St¸ck morgen gegeben ist: es macht uns mehr Umst‰nde, als ich geglaubt habe.”

“Aber niemand in der Welt wird froher sein als ich, wenn das St¸ck morgen gespielt ist”, versetzte Philine, “sowenig mich meine Rolle dr¸ckt. Denn immer und ewig von einer Sache reden zu hˆren, wobei doch nichts weiter herauskommt als eine Repr‰sentation, die, wie so viele hundert andere, vergessen werden wird, dazu will meine Geduld nicht hinreichen. Macht doch in Gottes Namen nicht soviel Umst‰nde! Die G‰ste, die vom Tische aufstehen, haben nachher an jedem Gerichte was auszusetzen; ja wenn man sie zu Hause reden hˆrt, so ist es ihnen kaum begreiflich, wie sie eine solche Not haben ausstehen kˆnnen.”

“Lassen Sie mich Ihr Gleichnis zu meinem Vorteile brauchen, schˆnes Kind”, versetzte Wilhelm. “Bedenken Sie, was Natur und Kunst, was Handel, Gewerke und Gewerbe zusammen schaffen m¸ssen, bis ein Gastmahl gegeben werden kann. Wieviel Jahre mufl der Hirsch im Walde, der Fisch im Flufl oder Meere zubringen, bis er unsre Tafel zu besetzen w¸rdig ist, und was hat die Hausfrau, die Kˆchin nicht alles in der K¸che zu tun! Mit welcher Nachl‰ssigkeit schl¸rft man die Sorge des entferntesten Winzers, des Schiffers, des Kellermeisters beim Nachtische hinunter, als m¸sse es nur so sein. Und sollten deswegen alle diese Menschen nicht arbeiten, nicht schaffen und bereiten, sollte der Hausherr das alles nicht sorgf‰ltig zusammenbringen und zusammenhalten, weil am Ende der Genufl nur vor¸bergehend ist? Aber kein Genufl ist vor¸bergehend: denn der Eindruck, den er zur¸ckl‰flt, ist bleibend, und was man mit Fleifl und Anstrengung tut, teilt dem Zuschauer selbst eine verborgene Kraft mit, von der man nicht wissen kann, wie weit sie wirkt.”

“Mir ist alles einerlei”, versetzte Philine, “nur mufl ich auch diesmal erfahren, dafl M‰nner immer im Widerspruch mit sich selbst sind. Bei all eurer Gewissenhaftigkeit, den groflen Autor nicht verst¸mmeln zu wollen, laflt ihr doch den schˆnsten Gedanken aus dem St¸cke.”

“Den schˆnsten?” rief Wilhelm.

“Gewifl den schˆnsten, auf den sich Hamlet selbst was zugute tut.”

“Und der w‰re?” rief Serlo.

“Wenn Sie eine Per¸cke aufh‰tten”, versetzte Philine, “w¸rde ich sie Ihnen ganz s‰uberlich abnehmen: denn es scheint nˆtig, dafl man Ihnen das Verst‰ndnis erˆffne.”

Die andern dachten nach, und die Unterhaltung stockte. Man war aufgestanden, es war schon sp‰t, man schien auseinandergehen zu wollen. Als man so unentschlossen dastand, fing Philine ein Liedchen, auf eine sehr zierliche und gef‰llige Melodie, zu singen an:

Singet nicht in Trauertˆnen
Von der Einsamkeit der Nacht;
Nein, sie ist, o holde Schˆnen,
Zur Geselligkeit gemacht.

Wie das Weib dem Mann gegeben
Als die schˆnste H‰lfte war,
Ist die Nacht das halbe Leben,
Und die schˆnste H‰lfte zwar.

Kˆnnt ihr euch des Tages freuen,
Der nur Freuden unterbricht?
Er ist gut, sich zu zerstreuen;
Zu was anderm taugt er nicht.

Aber wenn in n‰cht’ger Stunde
S¸fler Lampe D‰mmrung flieflt
Und vom Mund zum nahen Munde
Scherz und Liebe sich ergieflt;

Wenn der rasche, lose Knabe,
Der sonst wild und feurig eilt,
Oft bei einer kleinen Gabe
Unter leichten Spielen weilt;

Wenn die Nachtigall Verliebten
Liebevoll ein Liedchen singt,
Das Gefangnen und Betr¸bten
Nur wie Ach und Wehe klingt:

Mit wie leichtem Herzensregen
Horchet ihr der Glocke nicht,
Die mit zwˆlf bed‰cht’gen Schl‰gen Ruh und Sicherheit verspricht!

Darum an dem langen Tage
Merke dir es, liebe Brust:
Jeder Tag hat seine Plage,
Und die Nacht hat ihre Lust.

Sie machte eine leichte Verbeugung, als sie geendigt hatte, und Serlo rief ihr ein lautes Bravo zu. Sie sprang zur T¸r hinaus und eilte mit Gel‰chter fort. Man hˆrte sie die Treppe hinunter singen und mit den Abs‰tzen klappern.

Serlo ging in das Seitenzimmer, und Aurelie blieb vor Wilhelmen, der ihr eine gute Nacht w¸nschte, noch einige Augenblicke stehen und sagte.

“Wie sie mir zuwider ist! recht meinem innern Wesen zuwider! bis auf die kleinsten Zuf‰lligkeiten. Die rechte braune Augenwimper bei den blonden Haaren, die der Bruder so reizend findet, mag ich gar nicht ansehn, und die Schramme auf der Stirne hat mir so was Widriges, so was Niedriges, dafl ich immer zehn Schritte von ihr zur¸cktreten mˆchte. Sie erz‰hlte neulich als einen Scherz, ihr Vater habe ihr in ihrer Kindheit einen Teller an den Kopf geworfen, davon sie noch das Zeichen trage. Wohl ist sie recht an Augen und Stirne gezeichnet, dafl man sich vor ihr h¸ten mˆge.”

Wilhelm antwortete nichts, und Aurelie schien mit mehr Unwillen fortzufahren:

“Es ist mir beinahe unmˆglich, ein freundliches, hˆfliches Wort mit ihr zu reden, so sehr hasse ich sie, und doch ist sie so anschmiegend. Ich wollte, wir w‰ren sie los. Auch Sie, mein Freund, haben eine gewisse Gef‰lligkeit gegen dieses Geschˆpf, ein Betragen, das mich in der Seele kr‰nkt, eine Aufmerksamkeit, die an Achtung grenzt und die sie, bei Gott, nicht verdiente”

“Wie sie ist, bin ich ihr Dank schuldig”, versetzte Wilhelm; “ihre Auff¸hrung ist zu tadeln; ihrem Charakter mufl ich Gerechtigkeit widerfahren lassen.”

“Charakter!” rief Aurelie, “glauben Sie, dafl so eine Kreatur einen Charakter hat? O ihr M‰nner, daran erkenne ich euch! Solcher Frauen seid ihr wert!”

“Sollten Sie mich in Verdacht haben, meine Freundin?” versetzte Wilhelm. “Ich will von jeder Minute Rechenschaft geben, die ich mit ihr zugebracht habe.”

“Nun, nun”, sagte Aurelie, “es ist sp‰t, wir wollen nicht streiten. Alle wie einer, einer wie alle! Gute Nacht, mein Freund! gute Nacht, mein feiner Paradiesvogel!”

Wilhelm fragte, wie er zu diesem Ehrentitel komme.

“Ein andermal”, versetzte Aurelie, “ein andermal. Man sagt, sie h‰tten keine F¸fle, sie schwebten in der Luft und n‰hrten sich vom ‰ther. Es ist aber ein M‰rchen”, fuhr sie fort, “eine poetische Fiktion. Gute Nacht, laflt Euch was Schˆnes tr‰umen, wenn Ihr Gl¸ck habt.”

Sie ging in ihr Zimmer und liefl ihn allein; er eilte auf das seinige.

Halb unwillig ging er auf und nieder. Der scherzende, aber entschiedne Ton Aureliens hatte ihn beleidigt: er f¸hlte tief, wie unrecht sie ihm tat. Philine konnte er nicht widrig, nicht unhold begegnen; sie hatte nichts gegen ihn verbrochen, und dann f¸hlte er sich so fern von jeder Neigung zu ihr, dafl er recht stolz und standhaft vor sich selbst bestehen konnte.

Eben war er im Begriffe, sich auszuziehen, nach seinem Lager zu gehen und die Vorh‰nge aufzuschlagen, als er zu seiner grˆflten Verwunderung ein Paar Frauenpantoffeln vor dem Bett erblickte; der eine stand, der andere lag.–Es waren Philinens Pantoffeln, die er nur zu gut erkannte; er glaubte auch eine Unordnung an den Vorh‰ngen zu sehen, ja es schien, als bewegten sie sich; er stand und sah mit unverwandten Augen hin.

Eine neue Gem¸tsbewegung, die er f¸r Verdrufl hielt, versetzte ihm den Atem; und nach einer kurzen Pause, in der er sich erholt hatte, rief er gefaflt:

“Stehen Sie auf, Philine! Was soll das heiflen? Wo ist Ihre Klugheit, Ihr gutes Betragen? Sollen wir morgen das M‰rchen des Hauses werden?”

Es r¸hrte sich nichts.

“Ich scherze nicht”, fuhr er fort, “diese Neckereien sind bei mir ¸bel angewandt.”

Kein Laut! Keine Bewegung!

Entschlossen und unmutig ging er endlich auf das Bette zu und rifl die Vorh‰nge voneinander. “Stehen Sie auf”, sagte er, “wenn ich Ihnen nicht das Zimmer diese Nacht ¸berlassen soll.”

Mit groflem Erstaunen fand er sein Bette leer, die Kissen und Decken in schˆnsten Ruhe. Er sah sich um, suchte nach, suchte alles durch und fand keine Spur von dem Schalk. Hinter dem Bette, dem Ofen, den Schr‰nken war nichts zu sehen; er suchte emsiger und emsiger; ja ein boshafter Zuschauer h‰tte glauben mˆgen, er suche, um zu finden.

Kein Schlaf stellte sich ein; er setzte die Pantoffeln auf seinen Tisch, ging auf und nieder, blieb manchmal bei dem Tische stehen, und ein schelmischer Genius, der ihn belauschte, will versichern: er habe sich einen groflen Teil der Nacht mit den allerliebsten Stelzchen besch‰ftigt; er habe sie mit einem gewissen Interesse angesehen, behandelt, damit gespielt und sich erst gegen Morgen in seinen Kleidern aufs Bette geworfen, wo er unter den seltsamsten Phantasien einschlummerte.

Und wirklich schlief er noch, als Serlo hereintrat und rief “Wo sind Sie? Noch im Bette? Unmˆglich! Ich suchte Sie auf dem Theater, wo noch so mancherlei zu tun ist.”

V. Buch, 11. Kapitel

Eilftes Kapitel

Vor- und Nachmittag verflossen eilig. Das Haus war schon voll, und Wilhelm eilte, sich anzuziehen. Nicht mit der Behaglichkeit, mit der er die Maske zum erstenmal anprobierte, konnte er sie gegenw‰rtig anlegen; er zog sich an, um fertig zu werden. Als er zu den Frauen ins Versammlungszimmer kam, beriefen sie ihn einstimmig, dafl nichts recht sitze; der schˆne Federbusch sei verschoben, die Schnalle passe nicht; man fing wieder an, aufzutrennen, zu n‰hen, zusammenzustecken. Die Symphonie ging an, Philine hatte etwas gegen die Krause einzuwenden, Aurelie viel an dem Mantel auszusetzen. “Laflt mich, ihr Kinder!” rief er, “diese Nachl‰ssigkeit wird mich erst recht zum Hamlet machen.” Die Frauen lieflen ihn nicht los und fuhren fort zu putzen. Die Symphonie hatte aufgehˆrt, und das St¸ck war angegangen. Er besah sich im Spiegel, dr¸ckte den Hut tiefer ins Gesicht und erneuerte die Schminke.

In diesem Augenblick st¸rzte jemand herein und rief: “Der Geist! der Geist!”

Wilhelm hatte den ganzen Tag nicht Zeit gehabt, an die Hauptsorge zu denken, ob der Geist auch kommen werde. Nun war sie ganz weggenommen, und man hatte die wunderlichste Gastrolle zu erwarten. Der Theatermeister kam und fragte ¸ber dieses und jenes; Wilhelm hatte nicht Zeit, sich nach dem Gespenst umzusehen, und eilte nur, sich am Throne einzufinden, wo Kˆnig und Kˆnigin schon von ihrem Hofe umgeben in aller Herrlichkeit gl‰nzten; er hˆrte nur noch die letzten Worte des Horatio, der ¸ber die Erscheinung des Geistes ganz verwirrt sprach und fast seine Rolle vergessen zu haben schien.

Der Zwischenvorhang ging in die Hˆhe, und er sah das volle Haus vor sich. Nachdem Horatio seine Rede gehalten und vom Kˆnige abgefertigt war, dr‰ngte er sich an Hamlet, und als ob er sich ihm, dem Prinzen, pr‰sentiere, sagte er: “Der Teufel steckt in dem Harnische! Er hat uns alle in Furcht gejagt.”

In der Zwischenzeit sah man nur zwei grofle M‰nner in weiflen M‰nteln und Kapuzen in den Kulissen stehen, und Wilhelm, dem in der Zerstreuung, Unruhe und Verlegenheit der erste Monolog, wie er glaubte, miflgl¸ckt war, trat, ob ihn gleich ein lebhafter Beifall beim Abgehen begleitete, in der schauerlichen dramatischen Winternacht wirklich recht unbehaglich auf. Doch nahm er sich zusammen und sprach die so zweckm‰flig angebrachte Stelle ¸ber das Schmausen und Trinken der Nordl‰nder mit der gehˆrigen Gleichg¸ltigkeit, vergafl, so wie die Zuschauer, dar¸ber des Geistes und erschrak wirklich, als Horatio ausrief: “Seht her, es kommt!” Er fuhr mit Heftigkeit herum, und die edle, grofle Gestalt, der leise, unhˆrbare Tritt, die leichte Bewegung in der schwer scheinenden R¸stung machten einen so starken Eindruck auf ihn, dafl er wie versteinert dastand und nur mit halber Stimme: “Ihr Engel und himmlischen Geister, besch¸tzt uns!” ausrufen konnte. Er starrte ihn an, holte einigemal Atem und brachte die Anrede an den Geist so verwirrt, zerst¸ckt und gezwungen vor, dafl die grˆflte Kunst sie nicht so trefflich h‰tte ausdr¸cken kˆnnen.

Seine ¸bersetzung dieser Stelle kam ihm sehr zustatten. Er hatte sich nahe an das Original gehalten, dessen Wortstellung ihm die Verfassung eines ¸berraschten, erschreckten, von Entsetzen ergriffenen Gem¸ts einzig auszudr¸cken schien.

“Sei du ein guter Geist, sei ein verdammter Kobold, bringe D¸fte des Himmels mit dir oder D‰mpfe der Hˆlle, sei Gutes oder Bˆses dein Beginnen, du kommst in einer so w¸rdigen Gestalt, ja ich rede mit dir, ich nenne dich Hamlet, Kˆnig, Vater, o antworte mir!”-Man sp¸rte im Publiko die grˆflte Wirkung. Der Geist winkte, der Prinz folgte ihm unter dem lautesten Beifall.

Das Theater verwandelte sich, und als sie auf den entfernten Platz kamen, hielt der Geist unvermutet inne und wandte sich um; dadurch kam ihm Hamlet etwas zu nahe zu stehen. Mit Verlangen und Neugierde sah Wilhelm sogleich zwischen das niedergelassene Visier hinein, konnte aber nur tiefliegende Augen neben einer wohlgebildeten Nase erblicken. Furchtsam aussp‰hend stand er vor ihm; allein als die ersten Tˆne aus dem Helme hervordrangen, als eine wohlklingende, nur ein wenig rauhe Stimme sich in den Worten hˆren liefl: “Ich bin der Geist deines Vaters”, trat Wilhelm einige Schritte schaudernd zur¸ck, und das ganze Publikum schauderte. Die Stimme schien jedermann bekannt, und Wilhelm glaubte eine ‰hnlichkeit mit der Stimme seines Vaters zu bemerken. Diese wunderbaren Empfindungen und Erinnerungen, die Neugierde, den seltsamen Freund zu entdecken, und die Sorge, ihn zu beleidigen, selbst die Unschicklichkeit, ihm als Schauspieler in dieser Situation zu nahe zu treten, bewegten Wilhelmen nach entgegengesetzten Seiten. Er ver‰nderte w‰hrend der langen Erz‰hlung des Geistes seine Stellung so oft, schien so unbestimmt und verlegen, so aufmerksam und so zerstreut, dafl sein Spiel eine allgemeine Bewunderung so wie der Geist ein allgemeines Entsetzen erregte. Dieser sprach mehr mit einem tiefen Gef¸hl des Verdrusses als des Jammers, aber eines geistigen, langsamen und un¸bersehlichen Verdrusses. Es war der Miflmut einer groflen Seele, die von allem Irdischen getrennt ist und doch unendlichen Leiden unterliegt. Zuletzt versank der Geist, aber auf eine sonderbare Art: denn ein leichter, grauer, durchsichtiger Flor, der wie ein Dampf aus der Versenkung zu steigen schien, legte sich ¸ber ihn weg und zog sich mit ihm hinunter.

Nun kamen Hamlets Freunde zur¸ck und schwuren auf das Schwert. Da war der alte Maulwurf so gesch‰ftig unter der Erde, dafl er ihnen, wo sie auch stehen mochten, immer unter den F¸flen rief: “Schwˆrt!” und sie, als ob der Boden unter ihnen brennte, schnell von einem Ort zum andern eilten. Auch erschien da, wo sie standen, jedesmal eine kleine Flamme aus dem Boden, vermehrte die Wirkung und hinterliefl bei allen Zuschauern den tiefsten Eindruck.

Nun ging das St¸ck unaufhaltsam seinen Gang fort, nichts miflgl¸ckte, alles geriet; das Publikum bezeigte seine Zufriedenheit; die Lust und der Mut der Schauspieler schien mit jeder Szene zuzunehmen.

V. Buch, 12. Kapitel

Zwˆlftes Kapitel

Der Vorhang fiel, und der lebhafteste Beifall erscholl aus allen Ecken und Enden. Die vier f¸rstlichen Leichen sprangen behend in die Hˆhe und umarmten sich vor Freuden. Polonius und Ophelia kamen auch aus ihren Gr‰bern hervor und hˆrten noch mit lebhaftem Vergn¸gen, wie Horatio, als er zum Ank¸ndigen heraustrat, auf das heftigste beklatscht wurde. Man wollte ihn zu keiner Anzeige eines andern St¸cks lassen, sondern begehrte mit Ungest¸m die Wiederholung des heutigen.

“Nun haben wir gewonnen”, rief Serlo, “aber auch heute abend kein vern¸nftig Wort mehr! Alles kommt auf den ersten Eindruck an. Man soll ja keinem Schauspieler ¸belnehmen, wenn er bei seinen Deb¸ts vorsichtig und eigensinnig ist.”

Der Kassier kam und ¸berreichte ihm eine schwere Kasse. “Wir haben gut deb¸tiert”, rief er aus, “und das Vorurteil wird uns zustatten kommen. Wo ist denn nun das versprochene Abendessen? Wir d¸rfen es uns heute schmecken lassen.”

Sie hatten ausgemacht, dafl sie in ihren Theaterkleidern beisammen bleiben und sich selbst ein Fest feiern wollten. Wilhelm hatte unternommen, das Lokal, und Madame Melina, das Essen zu besorgen.

Ein Zimmer, worin man sonst zu malen pflegte, war aufs beste ges‰ubert, mit allerlei kleinen Dekorationen umstellt und so herausgeputzt worden, dafl es halb einem Garten, halb einem S‰ulengange ‰hnlich sah. Beim Hereintreten wurde die Gesellschaft von dem Glanz vieler Lichter geblendet, die einen feierlichen Schein durch den Dampf des s¸flesten R‰ucherwerks, das man nicht gespart hatte, ¸ber eine wohl geschm¸ckte und bestellte Tafel verbreiteten. Mit Ausrufungen tobte man die Anstalten und nahm wirklich mit Anstand Platz; es schien, als wenn eine kˆnigliche Familie im Geisterreiche zusammenk‰me. Wilhelm safl zwischen Aurelien und Madame Melina; Serlo zwischen Philinen und Elmiren; niemand war mit sich selbst noch mit seinem Platze unzufrieden.

Die beiden Theaterfreunde, die sich gleichfalls eingefunden hatten, vermehrten das Gl¸ck der Gesellschaft. Sie waren einigemal w‰hrend der Vorstellung auf die B¸hne gekommen und konnten nicht genug von ihrer eignen und von des Publikums Zufriedenheit sprechen; nunmehr ging’s aber ans Besondere; jedes ward f¸r seinen Teil reichlich belohnt.

Mit einer unglaublichen Lebhaftigkeit ward ein Verdienst nach dem andern, eine Stelle nach der andern herausgehoben. Dem Souffleur, der bescheiden am Ende der Tafel safl, ward ein grofles Lob ¸ber seinen rauhen Pyrrhus; die Fecht¸bung Hamlets und Laertes’ konnte man nicht genug erheben; Opheliens Trauer war ¸ber allen Ausdruck schˆn und erhaben; von Polonius’ Spiel durfte man gar nicht sprechen; jeder Gegenw‰rtige hˆrte sein Lob in dem andern und durch ihn.

Aber auch der abwesende Geist nahm seinen Teil Lob und Bewunderung hinweg. Er hatte die Rolle mit einem sehr gl¸cklichen Organ und in einem groflen Sinne gesprochen, und man wunderte sich am meisten, dafl er von allem, was bei der Gesellschaft vorgegangen war, unterrichtet schien. Er glich vˆllig dem gemalten Bilde, als wenn er dem K¸nstler gestanden h‰tte, und die Theaterfreunde konnten nicht genug r¸hmen, wie schauerlich es ausgesehen habe, als er unfern von dem Gem‰lde hervorgetreten und vor seinem Ebenbilde vorbeigeschritten sei. Wahrheit und Irrtum habe sich dabei so sonderbar vermischt, und man habe wirklich sich ¸berzeugt, dafl die Kˆnigin die eine Gestalt nicht sehe. Madame Melina ward bei dieser Gelegenheit sehr gelobt, dafl sie bei dieser Stelle in die Hˆhe nach dem Bilde gestarrt, indes Hamlet nieder auf den Geist gewiesen.

Man erkundigte sich, wie das Gespenst habe hereinschleichen kˆnnen, und erfuhr vom Theatermeister, dafl zu einer hintern T¸re, die sonst immer mit Dekorationen verstellt sei, diesen Abend aber, weil man den gotischen Saal gebraucht, frei geworden, zwei grofle Figuren in weiflen M‰nteln und Kapuzen hereingekommen, die man voneinander nicht unterscheiden kˆnnen, und so seien sie nach geendigtem dritten Akt wahrscheinlich auch wieder hinausgegangen.

Serlo lobte besonders an ihm, dafl er nicht so schneiderm‰flig gejammert und sogar am Ende eine Stelle, die einem so groflen Helden besser zieme, seinen Sohn zu befeuern, angebracht habe. Wilhelm hatte sie im Ged‰chtnis behalten und versprach, sie ins Manuskript nachzutragen.

Man hatte in der Freude des Gastmahls nicht bemerkt, dafl die Kinder und der Harfenspieler fehlten; bald aber machten sie eine sehr angenehme Erscheinung. Denn sie traten zusammen herein, sehr abenteuerlich ausgeputzt; Felix schlug den Triangel, Mignon das Tamburin, und der Alte hatte die schwere Harfe umgehangen und spielte sie, indem er sie vor sich trug. Sie zogen um den Tisch und sangen allerlei Lieder. Man gab ihnen zu essen, und die G‰ste glaubten den Kindern eine Wohltat zu erzeigen, wenn sie ihnen so viel s¸flen Wein g‰ben, als sie nur trinken wollten; denn die Gesellschaft selbst hatte die kˆstlichen Flaschen nicht geschont, welche diesen Abend als ein Geschenk der Theaterfreunde in einigen Kˆrben angekommen waren. Die Kinder sprangen und sangen fort, und besonders war Mignon ausgelassen, wie man sie niemals gesehen. Sie schlug das Tamburin mit aller mˆglichen Zierlichkeit und Lebhaftigkeit, indem sie bald mit druckendem Finger auf dem Felle schnell hin und her schnurrte, bald mit dem R¸cken der Hand, bald mit den Knˆcheln daraufpochte, ja mit abwechselnden Rhythmen das Pergament bald wider die Knie, bald wider den Kopf schlug, bald sch¸ttelnd die Schellen allein klingen liefl und so aus dem einfachsten Instrumente gar verschiedene Tˆne hervorlockte. Nachdem sie lange gel‰rmt hatten, setzten sie sich in einen Lehnsessel, der gerade Wilhelmen gegen¸ber am Tische leer geblieben war.

“Bleibt von dem Sessel weg!” rief Serlo, “er steht vermutlich f¸r den Geist da; wenn er kommt, kann’s euch ¸bel gehen.”

“Ich f¸rchte ihn nicht”, rief Mignon; “kommt er, so stehen wir auf. Es ist mein Oheim, er tut mir nichts zuleide.” Diese Rede verstand niemand, als wer wuflte, dafl sie ihren vermeintlichen Vater den “Groflen Teufel” genannt hatte.

Die Gesellschaft sah einander an und ward noch mehr in dem Verdacht best‰rkt, dafl Serlo um die Erscheinung des Geistes wisse. Man schwatzte und trank, und die M‰dchen sahen von Zeit zu Zeit furchtsam nach der T¸re.

Die Kinder, die, in dem groflen Sessel sitzend, nur wie Pulcinellpuppen aus dem Kasten ¸ber den Tisch hervorragten, fingen an, auf diese Weise ein St¸ck aufzuf¸hren. Mignon machte den schnurrenden Ton sehr artig nach, und sie stieflen zuletzt die Kˆpfe dergestalt zusammen und auf die Tischkante, wie es eigentlich nur Holzpuppen aushalten kˆnnen. Mignon ward bis zur Wut lustig, und die Gesellschaft, sosehr sie anfangs ¸ber den Scherz gelacht hatte, muflte zuletzt Einhalt tun. Aber wenig half das Zureden, denn nun sprang sie auf und raste, die Schellentrommel in der Hand, um den Tisch herum. Ihre Haare flogen, und indem sie den Kopf zur¸ck und alle ihre Glieder gleichsam in die Luft warf, schien sie einer M‰nade ‰hnlich, deren wilde und beinah unmˆgliche Stellungen uns auf alten Monumenten noch oft in Erstaunen setzen.

Durch das Talent der Kinder und ihren L‰rm aufgereizt, suchte jedermann zur Unterhaltung der Gesellschaft etwas beizutragen. Die Frauenzimmer sangen einige Kanons, Laertes liefl eine Nachtigall hˆren, und der Pedant gab ein Konzert pianissimo auf der Maultrommel. Indessen spielten die Nachbarn und Nachbarinnen allerlei Spiele, wobei sich die H‰nde begegnen und vermischen, und es fehlte manchem Paare nicht am Ausdruck einer hoffnungsvollen Z‰rtlichkeit. Madame Melina besonders schien eine lebhafte Neigung zu Wilhelmen nicht zu verhehlen. Es war sp‰t in der Nacht, und Aurelie, die fast allein noch Herrschaft ¸ber sich behalten hatte, ermahnte die ¸brigen, indem sie aufstand, auseinanderzugehen.

Serlo gab noch zum Abschied ein Feuerwerk, indem er mit dem Munde auf eine fast unbegreifliche Weise den Ton der Raketen, Schw‰rmer und Feuerr‰der nachzuahmen wuflte. Man durfte die Augen nur zumachen, so war die T‰uschung vollkommen. Indessen war jedermann aufgestanden, und man reichte den Frauenzimmern den Arm, sie nach Hause zu f¸hren. Wilhelm ging zuletzt mit Aurelien. Auf der Treppe begegnete ihnen der Theatermeister und sagte: “Hier ist der Schleier, worin der Geist verschwand. Er ist an der Versenkung h‰ngengeblieben, und wir haben ihn eben gefunden.”–“Eine wunderbare Reliquie!” rief Wilhelm und nahm ihn ab.

In dem Augenblicke f¸hlte er sich am linken Arme ergriffen und zugleich einen sehr heftigen Schmerz. Mignon hatte sich versteckt gehabt, hatte ihn angefaflt und ihn in den Arm gebissen. Sie fuhr an ihm die Treppe hinunter und verschwand.

Als die Gesellschaft in die freie Luft kam, merkte fast jedes, dafl man f¸r diesen Abend des Guten zuviel genossen hatte. Ohne Abschied zu nehmen, verlor man sich auseinander.

Wilhelm hatte kaum seine Stube erreicht, als er seine Kleider abwarf und nach ausgelˆschtem Licht ins Bett eilte. Der Schlaf wollte sogleich sich seiner bemeistern; allein ein Ger‰usch, das in seiner Stube hinter dem Ofen zu entstehen schien, machte ihn aufmerksam. Eben schwebte vor seiner erhitzten Phantasie das Bild des geharnischten Kˆnigs; er richtete sich auf, das Gespenst anzureden, als er sich von zarten Armen umschlungen, seinen Mund mit lebhaften K¸ssen verschlossen und eine Brust an der seinigen f¸hlte, die er wegzustoflen nicht Mut hatte.

V. Buch, 13. Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Wilhelm fuhr des andern Morgens mit einer unbehaglichen Empfindung in die Hˆhe und fand sein Bett leer. Von dem nicht vˆllig ausgeschlafenen Rausche war ihm der Kopf d¸ster, und die Erinnerung an den unbekannten n‰chtlichen Besuch machte ihn unruhig. Sein erster Verdacht fiel auf Philinen, und doch schien der liebliche Kˆrper, den er in seine Arme geschlossen hatte, nicht der ihrige gewesen zu sein. Unter lebhaften Liebkosungen war unser Freund an der Seite dieses seltsamen, stummen Besuches eingeschlafen, und nun war weiter keine Spur mehr davon zu entdecken. Er sprang auf, und indem er sich anzog, fand er seine T¸re, die er sonst zu verriegeln pflegte, nur angelehnt und wuflte sich nicht zu erinnern, ob er sie gestern abend zugeschlossen hatte.

Am wunderbarsten aber erschien ihm der Schleier des Geistes, den er auf seinem Bette fand. Er hatte ihn mit heraufgebracht und wahrscheinlich selbst dahin geworfen. Es war ein grauer Flor, an dessen Saum er eine Schrift mit schwarzen Buchstaben gestickt sah. Er entfaltete sie und las die Worte: “Zum ersten- und letztenmal! Flieh! J¸ngling, flieh!” Er war betroffen und wuflte nicht, was er sagen sollte.

In eben dem Augenblick trat Mignon herein und brachte ihm das Fr¸hst¸ck. Wilhelm erstaunte ¸ber den Anblick des Kindes, ja man kann sagen, er erschrak. Sie schien diese Nacht grˆfler geworden zu sein; sie trat mit einem hohen, edlen Anstand vor ihn hin und sah ihm sehr ernsthaft in die Augen, so dafl er den Blick nicht ertragen konnte. Sie r¸hrte ihn nicht an wie sonst, da sie gewˆhnlich ihm die Hand dr¸ckte, seine Wange, seinen Mund, seinen Arm oder seine Schulter k¸flte, sondern ging, nachdem sie seine Sachen in Ordnung gebracht, stillschweigend wieder fort.

Die Zeit einer angesetzten Leseprobe kam nun herbei; man versammelte sich, und alle waren durch das gestrige Fest verstimmt. Wilhelm nahm sich zusammen, so gut er konnte, um nicht gleich anfangs gegen seine so lebhaft gepredigten Grunds‰tze zu verstoflen. Seine grofle ¸bung half ihm durch; denn ¸bung und Gewohnheit m¸ssen in jeder Kunst die L¸cken ausf¸llen, welche Genie und Laune so oft lassen w¸rden.

Eigentlich aber konnte man bei dieser Gelegenheit die Bemerkung recht wahr finden, dafl man keinen Zustand, der l‰nger dauern, ja der eigentlich ein Beruf, eine Lebensweise werden soll, mit einer Feierlichkeit anfangen d¸rfe. Man feire nur, was gl¸cklich vollendet ist; alle Zeremonien zum Anfange erschˆpfen Lust und Kr‰fte, die das Streben hervorbringen und uns bei einer fortgesetzten M¸he beistehen sollen. Unter allen Festen ist das Hochzeitfest das unschicklichste; keines sollte mehr in Stille, Demut und Hoffnung begangen werden als dieses.

So schlich der Tag nun weiter, und Wilhelmen war noch keiner jemals so allt‰glich vorgekommen. Statt der gewˆhnlichen Unterhaltung abends fing man zu g‰hnen an; das Interesse an “Hamlet” war erschˆpft, und man fand eher unbequem, dafl er des folgenden Tages zum zweitenmal vorgestellt werden sollte. Wilhelm zeigte den Schleier des Geistes vor; man muflte daraus schlieflen, dafl er nicht wiederkommen werde. Serlo war besonders dieser Meinung; er schien mit den Ratschl‰gen der wunderbaren Gestalt sehr vertraut zu sein; dagegen lieflen sich aber die Worte: “Flieh! J¸ngling, flieh!” nicht erkl‰ren. Wie konnte Serlo mit jemanden einstimmen, der den vorz¸glichsten Schauspieler seiner Gesellschaft zu entfernen die Absicht zu haben schien.

Notwendig war es nunmehr, die Rolle des Geistes dem Polterer und die Rolle des Kˆnigs dem Pedanten zu geben. Beide erkl‰rten, dafl sie schon einstudiert seien, und es war kein Wunder, denn bei den vielen Proben und der weitl‰ufigen Behandlung dieses St¸cks waren alle so damit bekannt geworden, dafl sie s‰mtlich gar leicht mit den Rollen h‰tten wechseln kˆnnen. Doch probierte man einiges in der Geschwindigkeit, und als man sp‰t genug auseinanderging, fl¸sterte Philine beim Abschiede Wilhelmen leise zu: “Ich mufl meine Pantoffeln holen; du schiebst doch den Riegel nicht vor?” Diese Worte setzten ihn, als er auf seine Stube kam, in ziemliche Verlegenheit; denn die Vermutung, dafl der Gast der vorigen Nacht Philine gewesen, ward dadurch best‰rkt, und wir sind auch genˆtigt, uns zu dieser Meinung zu schlagen, besonders da wir die Ursachen, welche ihn hier¸ber zweifelhaft machten und ihm einen andern, sonderbaren Argwohn einflˆflen muflten, nicht entdecken kˆnnen. Er ging unruhig einigemal in seinem Zimmer auf und ab und hatte wirklich den Riegel noch nicht vorgeschoben.

Auf einmal st¸rzte Mignon in das Zimmer, faflte ihn an und rief: “Meister! Rette das Haus! Es brennt!” Wilhelm sprang vor die T¸re, und ein gewaltiger Rauch dr‰ngte sich die obere Treppe herunter ihm entgegen. Auf der Gasse hˆrte man schon das Feuergeschrei, und der Harfenspieler kam, sein Instrument in der Hand, durch den Rauch atemlos die Treppe herunter. Aurelie st¸rzte aus ihrem Zimmer und warf den kleinen Felix in Wilhelms Arme.

“Retten Sie das Kind!” rief sie, “wir wollen nach dem ¸brigen greifen.”

Wilhelm, der die Gefahr nicht f¸r so grofl hielt, gedachte zuerst nach dem Ursprunge des Brandes hinzudringen, um ihn vielleicht noch im Anfange zu ersticken. Er gab dem Alten das Kind und befahl ihm, die steinerne Wendeltreppe hinunter, die durch ein kleines Gartengewˆlbe in den Garten f¸hrte, zu eilen und mit den Kindern im Freien zu bleiben. Mignon nahm ein Licht, ihm zu leuchten. Wilhelm bat darauf Aurelien, ihre Sachen auf ebendiesem Wege zu retten. Er selbst drang durch den Rauch hinauf; aber vergebens setzte er sich der Gefahr aus. Die Flamme schien von dem benachbarten Hause her¸berzudringen und hatte schon das Holzwerk des Bodens und eine leichte Treppe gefaflt; andre, die zur Rettung herbeieilten, litten wie er vom Qualm und Feuer. Doch sprach er ihnen Mut ein und rief nach Wasser; er beschwor sie, der Flamme nur Schritt vor Schritt zu weichen, und versprach, bei ihnen zu bleiben. In diesem Augenblick sprang Mignon herauf und rief: “Meister! Rette deinen Felix! Der Alte ist rasend! Der Alte bringt ihn um!” Wilhelm sprang, ohne sich zu besinnen, die Treppe hinab, und Mignon folgte ihm an den Fersen.

Auf den letzten Stufen, die ins Gartengewˆlbe f¸hrten, blieb er mit Entsetzen stehen. Grofle B¸ndel Stroh und Reisholz, die man daselbst aufgeh‰uft hatte, brannten mit heller Flamme; Felix lag am Boden und schrie; der Alte stand mit niedergesenktem Haupte seitw‰rts an der Wand. “Was machst du, Ungl¸cklicher?” rief Wilhelm. Der Alte schwieg, Mignon hatte den Felix aufgehoben und schleppte mit M¸he den Knaben in den Garten, indes Wilhelm das Feuer auseinanderzuzerren und zu d‰mpfen strebte, aber dadurch nur die Gewalt und Lebhaftigkeit der Flamme vermehrte. Endlich muflte er mit verbrannten Augenwimpern und Haaren auch in den Garten fliehen, indem er den Alten mit durch die Flamme rifl, der ihm mit versengtem Barte unwillig folgte.

Wilhelm eilte sogleich, die Kinder im Garten zu suchen. Auf der Schwelle eines entfernten Lusth‰uschens fand er sie, und Mignon tat ihr mˆglichstes, den Kleinen zu beruhigen. Wilhelm nahm ihn auf den Schofl, fragte ihn, bef¸hlte ihn und konnte nichts Zusammenh‰ngendes aus beiden Kindern herausbringen.

Indessen hatte das Feuer gewaltsam mehrere H‰user ergriffen und erhellte die ganze Gegend. Wilhelm besah das Kind beim roten Schein der Flamme; er konnte keine Wunde, kein Blut, ja keine Beule wahrnehmen. Er betastete es ¸berall, es gab kein Zeichen von Schmerz von sich, es beruhigte sich vielmehr nach und nach und fing an, sich ¸ber die Flamme zu verwundern, ja sich ¸ber die schˆnen, der Ordnung nach, wie eine Illumination, brennenden Sparren und Geb‰lke zu erfreuen.

Wilhelm dachte nicht an die Kleider und was er sonst verloren haben konnte; er f¸hlte stark, wie wert ihm diese beiden menschlichen Geschˆpfe seien, die er einer so groflen Gefahr entronnen sah. Er dr¸ckte den Kleinen mit einer ganz neuen Empfindung an sein Herz und wollte auch Mignon mit freudiger Z‰rtlichkeit umarmen, die es aber sanft ablehnte, ihn bei der Hand nahm und sie festhielt.

“Meister”, sagte sie (noch niemals als diesen Abend hatte sie ihm diesen Namen gegeben, denn anfangs pflegte sie ihn Herr und nachher Vater zu nennen), “Meister! wir sind einer groflen Gefahr entronnen: dein Felix war am Tode.”

Durch viele Fragen erfuhr endlich Wilhelm, dafl der Harfenspieler, als sie in das Gewˆlbe gekommen, ihr das Licht aus der Hand gerissen und das Stroh sogleich angez¸ndet habe. Darauf habe er den Felix niedergesetzt, mit wunderlichen Geb‰rden die H‰nde auf des Kindes Kopf gelegt und ein Messer gezogen, als wenn er ihn opfern wolle. Sie sei zugesprungen und habe ihm das Messer aus der Hand gerissen; sie habe geschrien, und einer vom Hause, der einige Sachen nach dem Garten zu gerettet, sei ihr zu H¸lfe gekommen, der m¸sse aber in der Verwirrung wieder weggegangen sein und den Alten und das Kind allein gelassen haben.

Zwei bis drei H‰user standen in vollen Flammen. In den Garten hatte sich niemand retten kˆnnen wegen des Brandes im Gartengewˆlbe. Wilhelm war verlegen wegen seiner Freunde, weniger wegen seiner Sachen. Er getraute sich nicht, die Kinder zu verlassen, und sah das Ungl¸ck sich immer vergrˆflern.

Er brachte einige Stunden in einer b‰nglichen Lage zu. Felix war auf seinem Schofle eingeschlafen, Mignon lag neben ihm und hielt seine Hand fest. Endlich hatten die getroffenen Anstalten dem Feuer Einhalt getan. Die ausgebrannten Geb‰ude st¸rzten zusammen, der Morgen kam herbei, die Kinder fingen an zu frieren, und ihm selbst ward in seiner leichten Kleidung der fallende Tau fast unertr‰glich. Er f¸hrte sie zu den Tr¸mmern des zusammengest¸rzten Geb‰udes, und sie fanden neben einem Kohlen- und Aschenhaufen eine sehr behagliche W‰rme.

Der anbrechende Tag brachte nun alle Freunde und Bekannte nach und nach zusammen. Jedermann hatte sich gerettet, niemand hatte viel verloren.

Wilhelms Koffer fand sich auch wieder, und Serlo trieb, als es gegen zehn Uhr ging, zur Probe von “Hamlet”, wenigstens einiger Szenen, die mit neuen Schauspielern besetzt waren. Er hatte darauf noch einige Debatten mit der Polizei. Die Geistlichkeit verlangte: dafl nach einem solchen Strafgerichte Gottes das Schauspielhaus geschlossen bleiben sollte, und Serlo behauptete: dafl teils zum Ersatz dessen, was er diese Nacht verloren, teils zur Aufheiterung der erschreckten Gem¸ter die Auff¸hrung eines interessanten St¸ckes mehr als jemals am Platz sei. Diese letzte Meinung drang durch, und das Haus war gef¸llt. Die Schauspieler spielten mit seltenem Feuer und mit mehr leidenschaftlicher Freiheit als das erstemal. Die Zuschauer, deren Gef¸hl durch die schreckliche n‰chtliche Szene erhˆht und durch die Langeweile eines zerstreuten und verdorbenen Tages noch mehr auf eine interessante Unterhaltung gespannt war, hatten mehr Empf‰nglichkeit f¸r das Auflerordentliche. Der grˆflte Teil waren neue, durch den Ruf des St¸cks herbeigezogene Zuschauer, die keine Vergleichung mit dem ersten Abend anstellen konnten. Der Polterer spielte ganz im Sinne des unbekannten Geistes, und der Pedant hatte seinem Vorg‰nger gleichfalls gut aufgepaflt; daneben kam ihm seine Erb‰rmlichkeit sehr zustatten, dafl ihm Hamlet wirklich nicht unrecht tat, wenn er ihn, trotz seines Purpurmantels und Hermelinkragens, einen zusammengeflickten Lumpenkˆnig schalt.

Sonderbarer als er war vielleicht niemand zum Throne gelangt; und obgleich die ¸brigen, besonders aber Philine, sich ¸ber seine neue W¸rde ‰uflerst lustig machten, so liefl er doch merken, dafl der Graf, als ein grofler Kenner, das und noch viel mehr von ihm beim ersten Anblick vorausgesagt habe; dagegen ermahnte ihn Philine zur Demut und versicherte: sie werde ihm gelegentlich die Rock‰rmel pudern, damit er sich jener ungl¸cklichen Nacht im Schlosse erinnern und die Krone mit Bescheidenheit tragen mˆge.

V. Buch, 14. Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Man hatte sich in der Geschwindigkeit nach Quartieren umgesehen, und die Gesellschaft war dadurch sehr zerstreut worden. Wilhelm hatte das Lusthaus in dem Garten, bei dem er die Nacht zugebracht, liebgewonnen; er erhielt leicht die Schl¸ssel dazu und richtete sich daselbst ein; da aber Aurelie in ihrer neuen Wohnung sehr eng war, muflte er den Felix bei sich behalten, und Mignon wollte den Knaben nicht verlassen.

Die Kinder hatten ein artiges Zimmer in dem ersten Stocke eingenommen, Wilhelm hatte sich in dem untern Saale eingerichtet. Die Kinder schliefen, aber er konnte keine Ruhe finden.

Neben dem anmutigen Garten, den der eben aufgegangene Vollmond herrlich erleuchtete, standen die traurigen Ruinen, von denen hier und da noch Dampf aufstieg; die Luft war angenehm und die Nacht auflerordentlich schˆn. Philine hatte beim Herausgehen aus dem Theater ihn mit dem Ellenbogen angestrichen und ihm einige Worte zugelispelt, die er aber nicht verstanden hatte. Er war verwirrt und verdriefllich und wuflte nicht, was er erwarten oder tun sollte. Philine hatte ihn einige Tage gemieden und ihm nur diesen Abend wieder ein Zeichen gegeben. Leider war nun die T¸re verbrannt, die er nicht zuschlieflen sollte, und die Pantˆffelchen waren in Rauch aufgegangen. Wie die Schˆne in den Garten kommen wollte, wenn es ihre Absicht war, wuflte er nicht. Er w¸nschte sie nicht zu sehen, und doch h‰tte er sich gar zu gern mit ihr erkl‰ren mˆgen.

Was ihm aber noch schwerer auf dem Herzen lag, war das Schicksal des Harfenspielers, den man nicht wieder gesehen hatte. Wilhelm f¸rchtete, man w¸rde ihn beim Aufr‰umen tot unter dem Schutte finden. Wilhelm hatte gegen jedermann den Verdacht verborgen, den er hegte, dafl der Alte schuld an dem Brande sei. Denn er kam ihm zuerst von dem brennenden und rauchenden Boden entgegen, und die Verzweiflung im Gartengewˆlbe schien die Folge eines solchen ungl¸cklichen Ereignisses zu sein. Doch war es bei der Untersuchung, welche die Polizei sogleich anstellte, wahrscheinlich geworden, dafl nicht in dem Hause, wo sie wohnten, sondern in dem dritten davon der Brand entstanden sei, der sich auch sogleich unter den D‰chern weggeschlichen hatte.

Wilhelm ¸berlegte das alles in einer Laube sitzend, als er in einem nahen Gange jemanden schleichen hˆrte. An dem traurigen Gesange, der sogleich angestimmt ward, erkannte er den Harfenspieler. Das Lied, das er sehr wohl verstehen konnte, enthielt den Trost eines Ungl¸cklichen, der sich dem Wahnsinne ganz nahe f¸hlt. Leider hat Wilhelm davon nur die letzte Strophe behalten.

An die T¸ren will ich schleichen,
Still und sittsam will ich stehn,
Fromme Hand wird Nahrung reichen,
Und ich werde weitergehn.
Jeder wird sich gl¸cklich scheinen, Wenn mein Bild vor ihm erscheint,
Eine Tr‰ne wird er weinen,
Und ich weifl nicht, was er weint.

Unter diesen Worten war er an die Gartent¸re gekommen, die nach einer entlegenen Strafle ging; er wollte, da er sie verschlossen fand, an den Spalieren ¸bersteigen; allein Wilhelm hielt ihn zur¸ck und redete ihn freundlich an. Der Alte bat ihn, aufzuschlieflen, weil er fliehen wolle und m¸sse. Wilhelm stellte ihm vor, dafl er wohl aus dem Garten, aber nicht aus der Stadt kˆnne, und zeigte ihm, wie sehr er sich durch einen solchen Schritt verd‰chtig mache; allein vergebens! Der Alte bestand auf seinem Sinne. Wilhelm gab nicht nach und dr‰ngte ihn endlich halb mit Gewalt ins Gartenhaus, schlofl sich daselbst mit ihm ein und f¸hrte ein wunderbares Gespr‰ch mit ihm, das wir aber, um unsere Leser nicht mit unzusammenh‰ngenden Ideen und b‰nglichen Empfindungen zu qu‰len, lieber verschweigen als ausf¸hrlich mitteilen.

V. Buch, 15. Kapitel

Funfzehntes Kapitel

Aus der groflen Verlegenheit, worin sich Wilhelm befand, was er mit dem ungl¸cklichen Alten beginnen sollte, der so deutliche Spuren des Wahnsinns zeigte, rifl ihn Laertes noch am selbigen Morgen. Dieser, der nach seiner alten Gewohnheit ¸berall zu sein pflegte, hatte auf dem Kaffeehaus einen Mann gesehen, der vor einiger Zeit die heftigsten Anf‰lle von Melancholie erduldete. Man hatte ihn einem Landgeistlichen anvertraut, der sich ein besonders Gesch‰ft daraus machte, dergleichen Leute zu behandeln. Auch diesmal war es ihm gelungen; noch war er in der Stadt, und die Familie des Wiederhergestellten erzeigte ihm grofle Ehre.

Wilhelm eilte sogleich, den Mann aufzusuchen, vertraute ihm den Fall und ward mit ihm einig. Man wuflte unter gewissen Vorw‰nden ihm den Alten zu ¸bergeben. Die Scheidung schmerzte Wilhelmen tief, und nur die Hoffnung, ihn wiederhergestellt zu sehen, konnte sie ihm einigermaflen ertr‰glich machen, so sehr war er gewohnt, den Mann um sich zu sehen und seine geistreichen und herzlichen Tˆne zu vernehmen. Die Harfe war mit verbrannt; man suchte eine andere, die man ihm auf die Reise mitgab.

Auch hatte das Feuer die kleine Garderobe Mignons verzehrt, und als man ihr wieder etwas Neues schaffen wollte, tat Aurelie den Vorschlag, dafl man sie doch endlich als M‰dchen kleiden solle.

“Nun gar nicht!” rief Mignon aus und bestand mit grofler Lebhaftigkeit auf ihrer alten Tracht, worin man ihr denn auch willfahren muflte.

Die Gesellschaft hatte nicht viel Zeit, sich zu besinnen; die Vorstellungen gingen ihren Gang.

Wilhelm horchte oft ins Publikum, und nur selten kam ihm eine Stimme entgegen, wie er sie zu hˆren w¸nschte, ja ˆfters vernahm er, was ihn betr¸bte oder verdrofl. So erz‰hlte zum Beispiel gleich nach der ersten Auff¸hrung “Hamlets” ein junger Mensch mit grofler Lebhaftigkeit, wie zufrieden er an jenem Abend im Schauspielhause gewesen. Wilhelm lauschte und hˆrte zu seiner groflen Besch‰mung, dafl der junge Mann zum Verdrufl seiner Hinterm‰nner den Hut aufbehalten und ihn hartn‰ckig das ganze St¸ck hindurch nicht abgetan hatte, welcher Heldentat er sich mit dem grˆflten Vergn¸gen erinnerte.

Ein anderer versicherte: Wilhelm habe die Rolle des Laertes sehr gut gespielt; hingegen mit dem Schauspieler, der den Hamlet unternommen, kˆnne man nicht ebenso zufrieden sein. Diese Verwechslung war nicht ganz unnat¸rlich, denn Wilhelm und Laertes glichen sich, wiewohl in einem sehr entfernten Sinne.

Ein dritter lobte sein Spiel, besonders in der Szene mit der Mutter, aufs lebhafteste und bedauerte nur: dafl eben in diesem feurigen Augenblick ein weifles Band unter der Weste hervorgesehen habe, wodurch die Illusion ‰uflerst gestˆrt worden sei.

In dem Innern der Gesellschaft gingen indessen allerlei Ver‰nderungen vor. Philine hatte seit jenem Abend nach dem Brande Wilhelmen auch nicht das geringste Zeichen einer Ann‰herung gegeben. Sie hatte, wie es schien vors‰tzlich, ein entfernteres Quartier gemietet, vertrug sich mit Elmiren und kam seltener zu Serlo, womit Aurelie wohl zufrieden war. Serlo, der ihr immer gewogen blieb, besuchte sie manchmal, besonders da er Elmiren bei ihr zu finden hoffte, und nahm eines Abends Wilhelmen mit sich. Beide waren im Hereintreten sehr verwundert, als sie Philinen in dem zweiten Zimmer in den Armen eines jungen Offiziers sahen, der eine rote Uniform und weifle Unterkleider anhatte, dessen abgewendetes Gesicht sie aber nicht sehen konnten. Philine kam ihren besuchenden Freunden in das Vorzimmer entgegen und verschlofl das andere. “Sie ¸berraschen mich bei einem wunderbaren Abenteuer!” rief sie aus.

“So wunderbar ist es nicht”, sagte Serlo; “lassen Sie uns den h¸bschen, jungen, beneidenswerten Freund sehen; Sie haben uns ohnedem schon so zugestutzt, dafl wir nicht eifers¸chtig sein d¸rfen.”

“Ich mufl Ihnen diesen Verdacht noch eine Zeitlang lassen”, sagte Philine scherzend; “doch kann ich Sie versichern, dafl es nur eine gute Freundin ist, die sich einige Tage unbekannt bei mir aufhalten will. Sie sollen ihre Schicksale k¸nftig erfahren, ja vielleicht das interessante M‰dchen selbst kennenlernen, und ich werde wahrscheinlich alsdann Ursache haben, meine Bescheidenheit und Nachsicht zu ¸ben; denn ich f¸rchte, die Herren werden ¸ber ihre neue Bekanntschaft ihre alte Freundin vergessen.”

Wilhelm stand versteinert da; denn gleich beim ersten Anblick hatte ihn die rote Uniform an den so sehr geliebten Rock Marianens erinnert; es war ihre Gestalt, es waren ihre blonden Haare, nur schien ihm der gegenw‰rtige Offizier etwas grˆfler zu sein.

“Um des Himmels willen!” rief er aus, “lassen Sie uns mehr von Ihrer Freundin wissen, lassen Sie uns das verkleidete M‰dchen sehen. Wir sind nun einmal Teilnehmer des Geheimnisses; wir wollen versprechen, wir wollen schwˆren, aber lassen Sie uns das M‰dchen sehen!”

“O wie er in Feuer ist!” rief Philine, “nur gelassen, nur geduldig, heute wird einmal nichts draus.”

“So lassen Sie uns nur ihren Namen wissen!” rief Wilhelm.

“Das w‰re alsdann ein schˆnes Geheimnis”, versetzte Philine.

“Wenigstens nur den Vornamen.”

“Wenn Sie ihn raten, meinetwegen. Dreimal d¸rfen Sie raten, aber nicht ˆfter; Sie kˆnnten mich sonst durch den ganzen Kalender durchf¸hren.”

“Gut”, sagte Wilhelm; “Cecilie also?”

“Nichts von Cecilien!”

“Henriette?”

“Keineswegs! Nehmen Sie sich in acht! Ihre Neugierde wird ausschlafen m¸ssen.”

Wilhelm zauderte und zitterte; er wollte seinen Mund auftun, aber die Sprache versagte ihm. “Mariane?” stammelte er endlich, “Mariane!”

“Bravo!” rief Philine, “getroffen!” indem sie sich nach ihrer Gewohnheit auf dem Absatze herumdrehte.

Wilhelm konnte kein Wort hervorbringen, und Serlo, der seine Gem¸tsbewegung nicht bemerkte, fuhr fort, in Philinen zu dringen, dafl sie die T¸re ˆffnen sollte.

Wie verwundert waren daher beide, als Wilhelm auf einmal heftig ihre Neckerei unterbrach, sich Philinen zu F¸flen warf und sie mit dem lebhaftesten Ausdrucke der Leidenschaft bat und beschwor. “Lassen Sie mich das M‰dchen sehen”, rief er aus, “sie ist mein, es ist meine Mariane! Sie, nach der ich mich alle Tage meines Lebens gesehnt habe, sie, die mir noch immer statt aller andern Weiber in der Welt ist! Gehen Sie wenigstens zu ihr hinein, sagen Sie ihr, dafl ich hier bin, dafl der Mensch hier ist, der seine erste Liebe und das ganze Gl¸ck seiner Jugend an sie kn¸pfte. Er will sich rechtfertigen, dafl er sie unfreundlich verliefl, er will sie um Verzeihung bitten, er will ihr vergeben, was sie auch gegen ihn gefehlt haben mag, er will sogar keine Anspr¸che an sie mehr machen, wenn er sie nur noch einmal sehen kann, wenn er nur sehen kann, dafl sie lebt und gl¸cklich ist!”

Philine sch¸ttelte den Kopf und sagte: “Mein Freund, reden Sie leise! Betriegen wir uns nicht; und ist das Frauenzimmer wirklich Ihre Freundin, so m¸ssen wir sie schonen, denn sie vermutet keinesweges, Sie hier zu sehen. Ganz andere Angelegenheiten f¸hren sie hierher, und das wissen Sie doch, man mˆchte oft lieber ein Gespenst als einen alten Liebhaber zur unrechten Zeit vor Augen sehen. Ich will sie fragen, ich will sie vorbereiten, und wir wollen ¸berlegen, was zu tun ist. Ich schreibe Ihnen morgen ein Billett, zu welcher Stunde Sie kommen sollen, oder ob Sie kommen d¸rfen; gehorchen Sie mir p¸nktlich, denn ich schwˆre, niemand soll gegen meinen und meiner Freundin Willen dieses liebensw¸rdige Geschˆpf mit Augen sehen. Meine T¸ren werde ich besser verschlossen halten, und mit Axt und Beil werden Sie mich nicht besuchen wollen.”

Wilhelm beschwor sie, Serlo redete ihr zu; vergebens! Beide Freunde muflten zuletzt nachgeben, das Zimmer und das Haus r‰umen.

Welche unruhige Nacht Wilhelm zubrachte, wird sich jedermann denken. Wie langsam die Stunden des Tages dahinzogen, in denen er Philinens Billett erwartete, l‰flt sich begreifen. Ungl¸cklicherweise muflte er selbigen Abend spielen; er hatte niemals eine grˆflere Pein ausgestanden. Nach geendigtem St¸cke eilte er zu Philinen, ohne nur zu fragen, ob er eingeladen worden. Er fand ihre T¸re verschlossen, und die Hausleute sagten: Mademoiselle sei heute fr¸h mit einem jungen Offizier weggefahren; sie habe zwar gesagt, dafl sie in einigen Tagen wiederkomme, man glaube es aber nicht, weil sie alles bezahlt und ihre Sachen mitgenommen habe.

Wilhelm war aufler sich ¸ber diese Nachricht. Er eilte zu Laertes und schlug ihm vor, ihr nachzusetzen und, es koste, was es wolle, ¸ber ihren Begleiter Gewiflheit zu erlangen. Laertes dagegen verwies seinem Freunde seine Leidenschaft und Leichtgl‰ubigkeit. “Ich will wetten”, sagte er, “es ist niemand anders als Friedrich. Der Junge ist von gutem Hause, ich weifl es recht wohl; er ist unsinnig in das M‰dchen verliebt und hat wahrscheinlich seinen Verwandten so viel Geld angelockt, dafl er wieder eine Zeitlang mit ihr leben kann.”

Durch diese Einwendungen ward Wilhelm nicht ¸berzeugt, doch zweifelhaft. Laertes stellte ihm vor, wie unwahrscheinlich das M‰rchen sei, das Philine ihnen vorgespiegelt hatte, wie Figur und Haar sehr gut auf Friedrichen passe, wie sie bei zwˆlf Stunden Vorsprung so leicht nicht einzuholen sein w¸rden und haupts‰chlich, wie Serlo keinen von ihnen beiden beim Schauspiele entbehren kˆnne.

Durch all diese Gr¸nde wurde Wilhelm endlich nur so weit gebracht, dafl er Verzicht darauf tat, selbst nachzusetzen. Laertes wuflte noch in selbiger Nacht einen t¸chtigen Mann zu schaffen, dem man den Auftrag geben konnte. Es war ein gesetzter Mann, der mehreren Herrschaften auf Reisen als Kurier und F¸hrer gedient hatte und eben jetzt ohne Besch‰ftigung stillelag. Man gab ihm Geld, man unterrichtete ihn von der ganzen Sache, mit dem Auftrage, dafl er die Fl¸chtlinge aufsuchen und einholen, sie alsdann nicht aus den Augen lassen und die Freunde sogleich, wo und wie er sie f‰nde, benachrichtigen solle. Er setzte sich in derselbigen Stunde zu Pferde und ritt dem zweideutigen Paare nach, und Wilhelm war durch diese Anstalt wenigstens einigermaflen beruhigt.

V. Buch, 16. Kapitel–1

Sechzehntes Kapitel

Die Entfernung Philinens machte keine auffallende Sensation weder auf dem Theater noch im Publiko. Es war ihr mit allem wenig Ernst; die Frauen haflten sie durchg‰ngig, und die M‰nner h‰tten sie lieber unter vier Augen als auf dem Theater gesehen, und so war ihr schˆnes und f¸r die B¸hne selbst gl¸ckliches Talent verloren. Die ¸brigen Glieder der Gesellschaft gaben sich desto mehr M¸he; Madame Melina besonders tat sich durch Fleifl und Aufmerksamkeit sehr hervor. Sie merkte, wie sonst, Wilhelmen seine Grunds‰tze ab, richtete sich nach seiner Theorie und seinem Beispiel und hatte zeither ein ich weifl nicht was in ihrem Wesen, das sie interessanter machte. Sie erlangte bald ein richtiges Spiel und gewann den nat¸rlichen Ton der Unterhaltung vollkommen und den der Empfindung bis auf einen gewissen Grad. Sie wuflte sich in Serlos Launen zu schicken und beflifl sich des Singens ihm zu Gefallen, worin sie auch bald so weit kam, als man dessen zur geselligen Unterhaltung bedarf.

Durch einige neu angenommene Schauspieler ward die Gesellschaft noch vollst‰ndiger, und indem Wilhelm und Serlo jeder in seiner Art wirkte, jener bei jedem St¸cke auf den Sinn und Ton des Ganzen drang, dieser die einzelnen Teile gewissenhaft durcharbeitete, belebte ein lobensw¸rdiger Eifer auch die Schauspieler, und das Publikum nahm an ihnen einen lebhaften Anteil.

“Wir sind auf einem guten Wege”, sagte Serlo einst, “und wenn wir so fortfahren, wird das Publikum auch bald auf dem rechten sein. Man kann die Menschen sehr leicht durch tolle und unschickliche Darstellungen irremachen; aber man lege ihnen das Vern¸nftige und Schickliche auf eine interessante Weise vor, so werden sie gewifl darnach greifen.

Was unserm Theater haupts‰chlich fehlt und warum weder Schauspieler noch Zuschauer zur Besinnung kommen, ist, dafl es darauf im ganzen zu bunt aussieht und dafl man nirgends eine Grenze hat, woran man sein Urteil anlehnen kˆnnte. Es scheint mir kein Vorteil zu sein, dafl wir unser Theater gleichsam zu einem unendlichen Naturschauplatze ausgeweitet haben; doch kann jetzt weder Direktor noch Schauspieler sich in die Enge ziehen, bis vielleicht der Geschmack der Nation in der Folge den rechten Kreis selbst bezeichnet. Eine jede gute Soziet‰t existiert nur unter gewissen Bedingungen, so auch ein gutes Theater. Gewisse Manieren und Redensarten, gewisse Gegenst‰nde und Arten des Betragens m¸ssen ausgeschlossen sein. Man wird nicht ‰rmer, wenn man sein Hauswesen zusammenzieht.”

Sie waren hier¸ber mehr oder weniger einig und uneinig. Wilhelm und die meisten waren auf der Seite des englischen, Serlo und einige auf der Seite des franzˆsischen Theaters.

Man ward einig, in leeren Stunden, deren ein Schauspieler leider so viele hat, in Gesellschaft die ber¸hmtesten Schauspiele beider Theater durchzugehen und das Beste und Nachahmenswerte derselben zu bemerken. Man machte auch wirklich einen Anfang mit einigen franzˆsischen St¸cken. Aurelie entfernte sich jedesmal, sobald die Vorlesung anging. Anfangs hielt man sie f¸r krank; einst aber fragte sie Wilhelm dar¸ber, dem es aufgefallen war.

“Ich werde bei keiner solchen Vorlesung gegenw‰rtig sein”, sagte sie, “denn wie soll ich hˆren und urteilen, wenn mir das Herz zerrissen ist? Ich hasse die franzˆsische Sprache von ganzer Seele.”

“Wie kann man einer Sprache feind sein”, rief Wilhelm aus, “der man den grˆflten Teil seiner Bildung schuldig ist und der wir noch viel schuldig werden m¸ssen, ehe unser Wesen eine Gestalt gewinnen kann?”

“Es ist kein Vorurteil!” versetzte Aurelie, “ein ungl¸cklicher Eindruck, eine verhaflte Erinnerung an meinen treulosen Freund hat mir die Lust an dieser schˆnen und ausgebildeten Sprache geraubt. Wie ich sie jetzt von ganzem Herzen hasse! W‰hrend der Zeit unserer freundschaftlichen Verbindung schrieb er Deutsch, und welch ein herzliches, wahres, kr‰ftiges Deutsch! Nun, da er mich los sein wollte, fing er an, Franzˆsisch zu schreiben, das vorher manchmal nur im Scherze geschehen war. Ich f¸hlte, ich merkte, was es bedeuten sollte. Was er in seiner Muttersprache zu sagen errˆtete, konnte er nun mit gutem Gewissen hinschreiben. Zu Reservationen, Halbheiten und L¸gen ist es eine treffliche Sprache; sie ist eine perfide Sprache! Ich finde, Gott sei Dank! kein deutsches Wort, um “perfid” in seinem ganzen Umfange auszudr¸cken. Unser armseliges treulos ist ein unschuldiges Kind dagegen. Perfid ist treulos mit Genufl, mit ¸bermut und Schadenfreude. Oh, die Ausbildung einer Nation ist zu beneiden, die so feine Schattierungen in einem Worte auszudr¸cken weifl! Franzˆsisch ist recht die Sprache der Welt, wert, die allgemeine Sprache zu sein, damit sie sich nur alle untereinander recht betr¸gen und bel¸gen kˆnnen! Seine franzˆsischen Briefe lieflen sich noch immer gut genug lesen. Wenn man sich’s einbilden wollte, klangen sie warm und selbst leidenschaftlich; doch genau besehen waren es Phrasen, vermaledeite Phrasen! Er hat mir alle Freude an der ganzen Sprache, an der franzˆsischen Literatur, selbst an dem schˆnen und kˆstlichen Ausdruck edler Seelen in dieser Mundart verdorben; mich schaudert, wenn ich ein franzˆsisches Wort hˆre!”

Auf diese Weise konnte sie stundenlang fortfahren, ihren Unmut zu zeigen und jede andere Unterhaltung zu unterbrechen oder zu verstimmen. Serlo machte fr¸her oder sp‰ter ihren launischen ‰uflerungen mit einiger Bitterkeit ein Ende; aber gewˆhnlich war f¸r diesen Abend das Gespr‰ch zerstˆrt.

¸berhaupt ist es leider der Fall, dafl alles, was durch mehrere zusammentreffende Menschen und Umst‰nde hervorgebracht werden soll, keine lange Zeit sich vollkommen erhalten kann. Von einer Theatergesellschaft so gut wie von einem Reiche, von einem Zirkel Freunde so gut wie von einer Armee l‰flt sich gewˆhnlich der Moment angeben, wenn sie auf der hˆchsten Stufe ihrer Vollkommenheit, ihrer ¸bereinstimmung, ihrer Zufriedenheit und T‰tigkeit standen; oft aber ver‰ndert sich schnell das Personal, neue Glieder treten hinzu, die Personen passen nicht mehr zu den Umst‰nden, die Umst‰nde nicht mehr zu den Personen; es wird alles anders, und was vorher verbunden war, f‰llt nunmehr bald auseinander. So konnte man sagen, dafl Serlos Gesellschaft eine Zeitlang so vollkommen war, als irgend eine deutsche sich h‰tte r¸hmen kˆnnen. Die meisten Schauspieler standen an ihrem Platze; alle hatten genug zu tun, und alle taten gern, was zu tun war. Ihre persˆnlichen Verh‰ltnisse waren leidlich, und jedes schien in seiner Kunst viel zu versprechen, weil jedes die ersten Schritte mit Feuer und Munterkeit tat. Bald aber entdeckte sich, dafl ein Teil doch nur Automaten waren, die nur das erreichen konnten, wohin man ohne Gef¸hl gelangen kann, und bald mischten sich die Leidenschaften dazwischen, die gewˆhnlich jeder guten Einrichtung im Wege stehen und alles so leicht auseinanderzerren, was vern¸nftige und wohldenkende Menschen zusammenzuhalten w¸nschen.

Philinens Abgang war nicht so unbedeutend, als man anfangs glaubte. Sie hatte mit grofler Geschicklichkeit Serlo zu unterhalten und die ¸brigen mehr oder weniger zu reizen gewuflt. Sie ertrug Aureliens Heftigkeit mit grofler Geduld, und ihr eigenstes Gesch‰ft war, Wilhelmen zu schmeicheln. So war sie eine Art von Bindungsmittel f¸rs Ganze, und ihr Verlust muflte bald f¸hlbar werden.

Serlo konnte ohne eine kleine Liebschaft nicht leben. Elmire, die in weniger Zeit herangewachsen und, man kˆnnte beinahe sagen, schˆn geworden war, hatte schon lange seine Aufmerksamkeit erregt, und Philine war klug genug, diese Leidenschaft, die sie merkte, zu beg¸nstigen. “Man mufl sich”, pflegte sie zu sagen, “beizeiten aufs Kuppeln legen; es bleibt uns doch weiter nichts ¸brig, wenn wir alt werden.” Dadurch hatten sich Serlo und Elmire dergestalt gen‰hert, dafl sie nach Philinens Abschiede bald einig wurden, und der kleine Roman interessierte sie beide um so mehr, als sie ihn vor dem Alten, der ¸ber eine solche Unregelm‰fligkeit keinen Scherz verstanden h‰tte, geheimzuhalten alle Ursache hatten. Elmirens Schwester war mit im Verst‰ndnis, und Serlo muflte beiden M‰dchen daher vieles nachsehen. Eine ihrer grˆflten Untugenden war eine unm‰flige N‰scherei, ja, wenn man will, eine unleidliche Gefr‰fligkeit, worin sie Philinen keinesweges glichen, die dadurch einen neuen Schein von Liebensw¸rdigkeit erhielt, dafl sie gleichsam nur von der Luft lebte, sehr wenig afl und nur den Schaum eines Champagnerglases mit der grˆflten Zierlichkeit wegschl¸rfte.

Nun aber muflte Serlo, wenn er seiner Schˆnen gefallen wollte, das Fr¸hst¸ck mit dem Mittagessen verbinden und an dieses durch ein Vesperbrot das Abendessen ankn¸pfen. Dabei hatte Serlo einen Plan, dessen Ausf¸hrung ihn beunruhigte. Er glaubte eine gewisse Neigung zwischen Wilhelmen und Aurelien zu entdecken und w¸nschte sehr, dafl sie ernstlich werden mˆchte. Er hoffte den ganzen mechanischen Teil der Theaterwirtschaft Wilhelmen aufzub¸rden und an ihm, wie an seinem ersten Schwager, ein treues und fleifliges Werkzeug zu finden. Schon hatte er ihm nach und nach den grˆflten Teil der Besorgung unmerklich ¸bertragen, Aurelie f¸hrte die Kasse, und Serlo lebte wieder wie in fr¸heren Zeiten ganz nach seinem Sinne. Doch war etwas, was sowohl ihn als seine Schwester heimlich kr‰nkte.

Das Publikum hat eine eigene Art, gegen ˆffentliche Menschen von anerkanntem Verdienste zu verfahren; es f‰ngt nach und nach an, gleichg¸ltig gegen sie zu werden, und beg¸nstigt viel geringere, aber neu erscheinende Talente; es macht an jene ¸bertriebene Forderungen und l‰flt sich von diesen alles gefallen.

Serlo und Aurelie hatten Gelegenheit genug, hier¸ber Betrachtungen anzustellen. Die neuen Ankˆmmlinge, besonders die jungen und wohlgebildeten, hatten alle Aufmerksamkeit, allen Beifall auf sich gezogen, und beide Geschwister muflten die meiste Zeit, nach ihren eifrigsten Bem¸hungen, ohne den willkommenen Klang der zusammenschlagenden H‰nde abtreten. Freilich kamen dazu noch besondere Ursachen. Aureliens Stolz war auffallend, und von ihrer Verachtung des Publikums waren viele unterrichtet. Serlo schmeichelte zwar jedermann im einzelnen, aber seine spitzen Reden ¸ber das Ganze waren doch auch ˆfters herumgetragen und wiederholt worden. Die neuen Glieder hingegen waren teils fremd und unbekannt, teils jung, liebensw¸rdig und h¸lfsbed¸rftig und hatten also auch s‰mtlich Gˆnner gefunden.

Nun gab es auch bald innerliche Unruhen und manches Miflvergn¸gen; denn kaum bemerkte man, dafl Wilhelm die Besch‰ftigung eines Regisseurs ¸bernommen hatte, so fingen die meisten Schauspieler um desto mehr an, unartig zu werden, als er nach seiner Weise etwas mehr Ordnung und Genauigkeit in das Ganze zu bringen w¸nschte und besonders darauf bestand, dafl alles Mechanische vor allen Dingen p¸nktlich und ordentlich gehen solle.

In kurzer Zeit war das ganze Verh‰ltnis, das wirklich eine Zeitlang beinahe idealisch gehalten hatte, so gemein, als man es nur irgend bei einem herumreisenden Theater finden mag. Und leider in dem Augenblicke, als Wilhelm durch M¸he, Fleifl und Anstrengung sich mit allen Erfordernissen des Metiers bekannt gemacht und seine Person sowohl als seine Gesch‰ftigkeit vollkommen dazu gebildet hatte, schien es ihm endlich in tr¸ben Stunden, dafl dieses Handwerk weniger als irgendein anders den nˆtigen Aufwand von Zeit und Kr‰ften verdiene. Das Gesch‰ft war l‰stig und die Belohnung gering. Er h‰tte jedes andere lieber ¸bernommen, bei dem man doch, wenn es vorbei ist, der Ruhe des Geistes genieflen kann, als dieses, wo man nach ¸berstandenen mechanischen M¸hseligkeiten noch durch die hˆchste Anstrengung des Geistes und der Empfindung erst das Ziel seiner T‰tigkeit erreichen soll. Er muflte die Klagen Aureliens ¸ber die Verschwendung des Bruders hˆren, er muflte die Winke Serlos miflverstehen, wenn dieser ihn zu einer Heirat mit der Schwester von ferne zu leiten suchte. Er hatte dabei seinen Kummer zu verbergen, der ihn auf das tiefste dr¸ckte, indem der nach dem zweideutigen Offizier fortgeschickte Bote nicht zur¸ckkam, auch nichts von sich hˆren liefl und unser Freund daher seine Mariane zum zweitenmal verloren zu haben f¸rchten muflte.

Zu eben der Zeit fiel eine allgemeine Trauer ein, wodurch man genˆtigt ward, das Theater auf einige Wochen zu schlieflen. Er ergriff diese Zwischenzeit, um jenen Geistlichen zu besuchen, bei welchem der Harfenspieler in der Kost war. Er fand ihn in einer angenehmen Gegend, und das erste, was er in dem Pfarrhofe erblickte, war der Alte, der einem Knaben auf seinem Instrumente Lektion gab. Er bezeugte viel Freude, Wilhelmen wiederzusehen, stand auf und reichte ihm die Hand und sagte: “Sie sehen, dafl ich in der Welt doch noch zu etwas n¸tze bin; Sie erlauben, dafl ich fortfahre, denn die Stunden sind eingeteilt.”

Der Geistliche begr¸flte Wilhelmen auf das freundlichste und erz‰hlte ihm, dafl der Alte sich schon recht gut anlasse und dafl man Hoffnung zu seiner vˆlligen Genesung habe.

Ihr Gespr‰ch fiel nat¸rlich auf die Methode, Wahnsinnige zu kurieren.

“Aufler dem Physischen”, sagte der Geistliche, “das uns oft un¸berwindliche Schwierigkeiten in den Weg legt und wor¸ber ich einen denkenden Arzt zu Rate ziehe, finde ich die Mittel, vom Wahnsinne zu heilen, sehr einfach. Es sind ebendieselben, wodurch man gesunde Menschen hindert, wahnsinnig zu werden. Man errege ihre Selbstt‰tigkeit, man gewˆhne sie an Ordnung, man gebe ihnen einen Begriff, dafl sie ihr Sein und Schicksal mit so vielen gemein haben, dafl das auflerordentliche Talent, das grˆflte Gl¸ck und das hˆchste Ungl¸ck nur kleine Abweichungen von dem Gewˆhnlichen sind; so wird sich kein Wahnsinn einschleichen und, wenn er da ist, nach und nach wieder verschwinden. Ich habe des alten Mannes Stunden eingeteilt, er unterrichtet einige Kinder auf der Harfe, er hilft im Garten arbeiten und ist schon viel heiterer. Er w¸nscht von dem Kohle zu genieflen, den er pflanzt, und w¸nscht meinen Sohn, dem er die Harfe auf den Todesfall geschenkt hat, recht emsig zu unterrichten, damit sie der Knabe ja auch brauchen kˆnne. Als Geistlicher suche ich ihm ¸ber seine wunderbaren Skrupel nur wenig zu sagen, aber ein t‰tiges Leben f¸hrt so viele Ereignisse herbei, dafl er bald f¸hlen mufl, dafl jede Art von Zweifel nur durch Wirksamkeit gehoben werden kann. Ich gehe sachte zu Werke; wenn ich ihm aber noch seinen Bart und seine Kutte wegnehmen kann, so habe ich viel gewonnen: denn es bringt uns nichts n‰her dem Wahnsinn, als wenn wir uns vor andern auszeichnen, und nichts erh‰lt so sehr den gemeinen Verstand, als im allgemeinen Sinne mit vielen Menschen zu leben. Wie vieles ist leider nicht in unserer Erziehung und in unsern b¸rgerlichen Einrichtungen, wodurch wir uns und unsere Kinder zur Tollheit vorbereiten.”

Wilhelm verweilte bei diesem vern¸nftigen Manne einige Tage und erfuhr die interessantesten Geschichten, nicht allein von verr¸ckten Menschen, sondern auch von solchen, die man f¸r klug, ja f¸r weise zu halten pflegt und deren Eigent¸mlichkeiten nahe an den Wahnsinn grenzen.

Dreifach belebt aber ward die Unterhaltung, als der Medikus eintrat, der den Geistlichen, seinen Freund, ˆfters zu besuchen und ihm bei seinen menschenfreundlichen Bem¸hungen beizustehen pflegte. Es war ein ‰ltlicher Mann, der bei einer schw‰chlichen Gesundheit viele Jahre in Aus¸bung der edelsten Pflichten zugebracht hatte. Er war ein grofler Freund vom Landleben und konnte fast nicht anders als in freier Luft sein; dabei war er ‰uflerst gesellig und t‰tig und hatte seit vielen Jahren eine besondere Neigung, mit allen Landgeistlichen Freundschaft zu stiften. Jedem, an dem er eine n¸tzliche Besch‰ftigung kannte, suchte er auf alle Weise beizustehen; andern, die noch unbestimmt waren, suchte er eine Liebhaberei einzureden; und da er zugleich mit den Edelleuten, Amtm‰nnern und Gerichtshaltern in Verbindung stand, so hatte er in Zeit von zwanzig Jahren sehr viel im stillen zur Kultur mancher Zweige der Landwirtschaft beigetragen und alles, was dem Felde, Tieren und Menschen erspriefllich ist, in Bewegung gebracht und so die wahrste Aufkl‰rung befˆrdert. F¸r den Menschen, sagte er, sei nur das eine ein Ungl¸ck, wenn sich irgendeine Idee bei ihm festsetze, die keinen Einflufl ins t‰tige Leben habe oder ihn wohl gar vom t‰tigen Leben abziehe. “Ich habe”, sagte er, “gegenw‰rtig einen solchen Fall an einem vornehmen und reichen Ehepaar, wo mir bis jetzt noch alle Kunst miflgl¸ckt ist; fast gehˆrt der Fall in Ihr Fach, lieber Pastor, und dieser junge Mann wird ihn nicht weitererz‰hlen.

In der Abwesenheit eines vornehmen Mannes verkleidete man, mit einem nicht ganz lobensw¸rdigen Scherze, einen jungen Menschen in die Hauskleidung dieses Herrn. Seine Gemahlin sollte dadurch angef¸hrt werden, und ob man mir es gleich nur als eine Posse erz‰hlt hat, so f¸rchte ich doch sehr, man hatte die Absicht, die edle, liebensw¸rdige Dame vom rechten Wege abzuleiten. Der Gemahl kommt unvermutet zur¸ck, tritt in sein Zimmer, glaubt sich selbst zu sehen und f‰llt von der Zeit an in eine Melancholie, in der er die ¸berzeugung n‰hrt, dafl er bald sterben werde.

Er ¸berl‰flt sich Personen, die ihm mit religiˆsen Ideen schmeicheln, und ich sehe nicht, wie er abzuhalten ist, mit seiner Gemahlin unter die Herrenhuter zu gehen und den grˆflten Teil seines Vermˆgens, da er keine Kinder hat, seinen Verwandten zu entziehen.”

“Mit seiner Gemahlin?” rief Wilhelm, den diese Erz‰hlung nicht wenig erschreckt hatte, ungest¸m aus.

“Und leider”, versetzte der Arzt, der in Wilhelms Ausrufung nur eine menschenfreundliche Teilnahme zu hˆren glaubte, “ist diese Dame mit einem noch tiefern Kummer behaftet, der ihr eine Entfernung von der Welt nicht widerlich macht. Eben dieser junge Mensch nimmt Abschied von ihr, sie ist nicht vorsichtig genug, eine aufkeimende Neigung zu verbergen; er wird k¸hn, schlieflt sie in seine Arme und dr¸ckt ihr das grofle, mit Brillanten besetzte Portr‰t ihres Gemahls gewaltsam wider die Brust. Sie empfindet einen heftigen Schmerz, der nach und nach vergeht, erst eine kleine Rˆte und dann keine Spur zur¸ckl‰flt. Ich bin als Mensch ¸berzeugt, dafl sie sich nichts weiter vorzuwerfen hat; ich bin als Arzt gewifl, dafl dieser Druck keine ¸blen Folgen haben werde, aber sie l‰flt sich nicht ausreden, es sei eine Verh‰rtung da, und wenn man ihr durch das Gef¸hl den Wahn benehmen will, so behauptet sie, nur in diesem Augenblick sei nichts zu f¸hlen; sie hat sich fest eingebildet, es werde dieses ¸bel mit einem Krebsschaden sich endigen, und so ist ihre Jugend, ihre Liebensw¸rdigkeit f¸r sie und andere vˆllig verloren.”

“Ich Ungl¸ckseliger!” rief Wilhelm, indem er sich vor die Stirne schlug und aus der Gesellschaft ins Feld lief. Er hatte sich noch nie in einem solchen Zustande befunden.

V. Buch, 16. Kapitel–2

Der Arzt und der Geistliche, ¸ber diese seltsame Entdeckung hˆchlich erstaunt, hatten abends genug mit ihm zu tun, als er zur¸ckkam und bei dem umst‰ndlichem Bekenntnis dieser Begebenheit sich aufs lebhafteste anklagte. Beide M‰nner nahmen den grˆflten Anteil an ihm, besonders da er ihnen seine ¸brige Lage nun auch mit schwarzen Farben der augenblicklichen Stimmung malte.

Den andern Tag liefl sich der Arzt nicht lange bitten, mit ihm nach der Stadt zu gehen, um ihm Gesellschaft zu leisten, um Aurelien, die ihr Freund in bedenklichen Umst‰nden zur¸ckgelassen hatte, wo mˆglich H¸lfe zu verschaffen.

Sie fanden sie auch wirklich schlimmer, als sie vermuteten. Sie hatte eine Art von ¸berspringendem Fieber, dem um so weniger beizukommen war, als sie die Anf‰lle nach ihrer Art vors‰tzlich unterhielt und verst‰rkte. Der Fremde ward nicht als Arzt eingef¸hrt und betrug sich sehr gef‰llig und klug. Man sprach ¸ber den Zustand ihres Kˆrpers und ihres Geistes, und der neue Freund erz‰hlte manche Geschichten, wie Personen ungeachtet einer solchen Kr‰nklichkeit ein hohes Alter erreichen kˆnnten; nichts aber sei sch‰dlicher in solchen F‰llen als eine vors‰tzliche Erneuerung leidenschaftlicher Empfindungen. Besonders verbarg er nicht, dafl er diejenigen Personen sehr gl¸cklich gefunden habe, die bei einer nicht ganz herzustellenden kr‰nklichen Anlage wahrhaft religiˆse Gesinnungen bei sich zu n‰hren bestimmt gewesen w‰ren. Er sagte das auf eine sehr bescheidene Weise und gleichsam historisch und versprach dabei, seinen neuen Freunden eine sehr interessante Lekt¸re an einem Manuskript zu verschaffen, das er aus den H‰nden einer nunmehr abgeschiedenen vortrefflichen Freundin erhalten habe. “Es ist mir unendlich wert”, sagte er, “und ich vertraue Ihnen das Original selbst an. Nur der Titel ist von meiner Hand: “Bekenntnisse einer schˆnen Seele”.”

¸ber di‰tetische und medizinische Behandlung der ungl¸cklichen, aufgespannten Aurelie vertraute der Arzt Wilhelmen noch seinen besten Rat, versprach zu schreiben und womˆglich selbst wiederzukommen.

Inzwischen hatte sich in Wilhelms Abwesenheit eine Ver‰nderung vorbereitet, die er nicht vermuten konnte. Wilhelm hatte w‰hrend der Zeit seiner Regie das ganze Gesch‰ft mit einer gewissen Freiheit und Liberalit‰t behandelt, vorz¸glich auf die Sache gesehen und besonders bei Kleidungen, Dekorationen und Requisiten alles reichlich und anst‰ndig angeschafft, auch, um den guten Willen der Leute zu erhalten, ihrem Eigennutze geschmeichelt, da er ihnen durch edlere Motive nicht beikommen konnte; und er fand sich hierzu um so mehr berechtigt, als Serlo selbst keine Anspr¸che machte, ein genauer Wirt zu sein, den Glanz seines Theaters gerne loben hˆrte und zufrieden war, wenn Aurelie, welche die ganze Haushaltung f¸hrte, nach Abzug aller Kosten versicherte, dafl sie keine Schulden habe, und noch soviel hergab, als nˆtig war, die Schulden abzutragen, die Serlo unterdessen durch auflerordentliche Freigebigkeit gegen seine Schˆnen und sonst etwa auf sich geladen haben mochte.

Melina, der indessen die Garderobe besorgte, hatte, kalt und heimt¸ckisch wie er war, der Sache im stillen zugesehen und wuflte bei der Entfernung Wilhelms und bei der zunehmenden Krankheit Aureliens Serlo f¸hlbar zu machen, dafl man eigentlich mehr einnehmen, weniger ausgeben und entweder etwas zur¸cklegen oder doch am Ende nach Willk¸r noch lustiger leben kˆnne. Serlo hˆrte das gern, und Melina wagte sich mit seinem Plane hervor.

“Ich will”, sagte er, “nicht behaupten, dafl einer von den Schauspielern gegenw‰rtig zuviel Gage hat: es sind verdienstvolle Leute, und sie w¸rden an jedem Orte willkommen sein; allein f¸r die Einnahme, die sie uns verschaffen, erhalten sie doch zuviel. Mein Vorschlag w‰re, eine Oper einzurichten, und was das Schauspiel betrifft, so mufl ich Ihnen sagen, Sie sind der Mann, allein ein ganzes Schauspiel auszumachen. M¸ssen Sie jetzt nicht selbst erfahren, dafl man Ihre Verdienste verkennt? Nicht, weil Ihre Mitspieler vortrefflich, sondern weil sie gut sind, l‰flt man Ihrem auflerordentlichen Talente keine Gerechtigkeit mehr widerfahren.

Stellen Sie sich, wie wohl sonst geschehen ist, nur allein hin, suchen Sie mittelm‰flige, ja ich darf sagen: schlechte Leute f¸r geringe Gage an sich zu ziehen, stutzen Sie das Volk, wie Sie es so sehr verstehen, im Mechanischen zu, wenden Sie das ¸brige an die Oper, und Sie werden sehen, dafl Sie mit derselben M¸he und mit denselben Kosten mehr Zufriedenheit erregen und ungleich mehr Geld als bisher gewinnen werden.”

Serlo war zu sehr geschmeichelt, als dafl seine Einwendungen einige St‰rke h‰tten haben sollen. Er gestand Melinan gern zu, dafl er bei seiner Liebhaberei zur Musik l‰ngst so etwas gew¸nscht habe; doch sehe er freilich ein, dafl die Neigung des Publikums dadurch noch mehr auf Abwege geleitet und dafl bei so einer Vermischung eines Theaters, das nicht recht Oper, nicht recht Schauspiel sei, notwendig der ¸berrest von Geschmack an einem bestimmten und ausf¸hrlichen Kunstwerke sich vˆllig verlieren m¸sse.

Melina scherzte nicht ganz fein ¸ber Wilhelms pedantische Ideale dieser Art, ¸ber die Anmaflung, das Publikum zu bilden, statt sich von ihm bilden zu lassen, und beide vereinigten sich mit grofler ¸berzeugung, dafl man nur Geld einnehmen, reich werden oder sich lustig machen solle, und verbargen sich kaum, dafl sie nur jener Personen los zu sein w¸nschten, die ihrem Plane im Wege standen. Melina bedauerte, dafl die schw‰chliche Gesundheit Aureliens ihr kein langes Leben verspreche, dachte aber gerade das Gegenteil. Serlo schien zu beklagen, dafl Wilhelm nicht S‰nger sei, und gab dadurch zu verstehen, dafl er ihn f¸r bald entbehrlich halte. Melina trat mit einem ganzen Register von Ersparnissen, die zu machen seien, hervor, und Serlo sah in ihm seinen ersten Schwager dreifach ersetzt. Sie f¸hlten wohl, dafl sie sich ¸ber diese Unterredung das Geheimnis zuzusagen hatten, wurden dadurch nur noch mehr aneinandergekn¸pft und nahmen Gelegenheit, insgeheim ¸ber alles, was vorkam, sich zu besprechen, was Aurelie und Wilhelm unternahmen, zu tadeln und ihr neues Projekt in Gedanken immer mehr auszuarbeiten.

So verschwiegen auch beide ¸ber ihren Plan sein mochten und sowenig sie durch Worte sich verrieten, so waren sie doch nicht politisch genug, in dem Betragen ihre Gesinnungen zu verbergen. Melina widersetzte sich Wilhelmen in manchen F‰llen, die in seinem Kreise lagen, und Serlo, der niemals glimpflich mit seiner Schwester umgegangen war, ward nur bitterer, je mehr ihre Kr‰nklichkeit zunahm und je mehr sie bei ihren ungleichen, leidenschaftlichen Launen Schonung verdient h‰tte.

Zu eben dieser Zeit nahm man “Emilie Galotti” vor. Dieses St¸ck war sehr gl¸cklich besetzt, und alle konnten in dem beschr‰nkten Kreise dieses Trauerspiels die ganze Mannigfaltigkeit ihres Spieles zeigen. Serlo war als Marinelli an seinem Platze, Odoardo ward sehr gut vorgetragen, Madame Melina spielte die Mutter mit vieler Einsicht, Elmire zeichnete sich in der Rolle Emiliens zu ihrem Vorteil aus, Laertes trat als Appiani mit vielem Anstand auf, und Wilhelm hatte ein Studium von mehreren Monaten auf die Rolle des Prinzen verwendet. Bei dieser Gelegenheit hatte er sowohl mit sich selbst als mit Serlo und Aurelien die Frage oft abgehandelt: welch ein Unterschied sich zwischen einem edlen und vornehmen Betragen zeige und inwiefern jenes in diesem, dieses aber nicht in jenem enthalten zu sein brauche.

Serlo, der selbst als Marinelli den Hofmann rein, ohne Karikatur vorstellte, ‰uflerte ¸ber diesen Punkt manchen guten Gedanken. “Der vornehme Anstand”, sagte er, “ist schwer nachzuahmen, weil er eigentlich negativ ist und eine lange anhaltende ¸bung voraussetzt. Denn man soll nicht etwa in seinem Benehmen etwas darstellen, das W¸rde anzeigt: denn leicht f‰llt man dadurch in ein fˆrmliches, stolzes Wesen; man soll vielmehr nur alles vermeiden, was unw¸rdig, was gemein ist; man soll sich nie vergessen, immer auf sich und andere achthaben, sich nichts vergeben, andern nicht zuviel, nicht zuwenig tun, durch nichts ger¸hrt scheinen, durch nichts bewegt werden, sich niemals ¸bereilen, sich in jedem Momente zu fassen wissen und so ein ‰ufleres Gleichgewicht erhalten, innerlich mag es st¸rmen, wie es will. Der edle Mensch kann sich in Momenten vernachl‰ssigen, der vornehme nie. Dieser ist wie ein sehr wohlgekleideter Mann: er wird sich nirgends anlehnen, und jedermann wird sich h¸ten, an ihn zu streichen; er unterscheidet sich vor andern, und doch darf er nicht allein stehenbleiben; denn wie in jeder Kunst, also auch in dieser, soll zuletzt das Schwerste mit Leichtigkeit ausgef¸hrt werden; so soll der Vornehme ungeachtet aller Absonderung immer mit andern verbunden scheinen, nirgends steif, ¸berall gewandt sein, immer als der Erste erscheinen und sich nie als ein solcher aufdringen.

Man sieht also, dafl man, um vornehm zu scheinen, wirklich vornehm sein m¸sse; man sieht, warum Frauen im Durchschnitt sich eher dieses Ansehen geben kˆnnen als M‰nner, warum Hofleute und Soldaten am schnellsten zu diesem Anstande gelangen.”

Wilhelm verzweifelte nun fast an seiner Rolle, allein Serlo half ihm wieder auf, indem er ihm ¸ber das Einzelne die feinsten Bemerkungen mitteilte und ihn dergestalt ausstattete dafl er bei der Auff¸hrung, wenigstens in den Augen der Menge, einen recht feinen Prinzen darstellte.

Serlo hatte versprochen, ihm nach der Vorstellung die Bemerkungen mitzuteilen, die er noch allenfalls ¸ber ihn machen w¸rde; allein ein unangenehmer Streit zwischen Bruder und Schwester hinderte jede kritische Unterhaltung. Aurelie hatte die Rolle der Orsina auf eine Weise gespielt, wie man sie wohl niemals wieder sehen wird. Sie war mit der Rolle ¸berhaupt sehr bekannt und hatte sie in den Proben gleichg¸ltig behandelt; bei der Auff¸hrung selbst aber zog sie, mˆchte man sagen, alle Schleusen ihres individuellen Kummers auf, und es ward dadurch eine Darstellung, wie sie sich kein Dichter in dem ersten Feuer der Empfindung h‰tte denken kˆnnen. Ein unm‰fliger Beifall des Publikums belohnte ihre schmerzlichen Bem¸hungen, aber sie lag auch halb ohnm‰chtig in einem Sessel, als man sie nach der Auff¸hrung aufsuchte.

Serlo hatte schon ¸ber ihr ¸bertriebenes Spiel, wie er es nannte, und ¸ber die Entblˆflung ihres innersten Herzens vor dem Publikum, das doch mehr oder weniger mit jener fatalen Geschichte bekannt war, seinen Unwillen zu erkennen gegeben und, wie er es im Zorn zu tun pflegte, mit den Z‰hnen geknirscht und mit den F¸flen gestampft. “Laflt sie”, sagte er, als er sie von den ¸brigen umgeben in dem Sessel fand, “sie wird noch ehstens ganz nackt auf das Theater treten, und dann wird erst der Beifall recht vollkommen sein.”

“Undankbarer!” rief sie aus, “Unmenschlicher! Man wird mich bald nackt dahin tragen, wo kein Beifall mehr zu unsern Ohren kommt!” Mit diesen Worten sprang sie auf und eilte nach der T¸re. Die Magd hatte vers‰umt, ihr den Mantel zu bringen, die Portechaise war nicht da; es hatte geregnet, und ein sehr rauher Wind zog durch die Straflen. Man redete ihr vergebens zu, denn sie war ¸berm‰flig erhitzt; sie ging vors‰tzlich langsam und lobte die K¸hlung, die sie recht begierig einzusaugen schien. Kaum war sie zu Hause, als sie vor Heiserkeit kaum ein Wort mehr sprechen konnte; sie gestand aber nicht, dafl sie im Nacken und den R¸cken hinab eine vˆllige Steifigkeit f¸hlte. Nicht lange, so ¸berfiel sie eine Art von L‰hmung der Zunge, so dafl sie ein Wort f¸rs andere sprach; man brachte sie zu Bette, durch h‰ufig angewandte Mittel legte sich ein ¸bel, indem sich das andere zeigte. Das Fieber ward stark und ihr Zustand gef‰hrlich.

Den andern Morgen hatte sie eine ruhige Stunde. Sie liefl Wilhelm rufen und ¸bergab ihm einen Brief. “Dieses Blatt”, sagte sie, “wartet schon lange auf diesen Augenblick. Ich f¸hle, dafl das Ende meines Lebens bald herannaht; versprechen Sie mir, dafl Sie es selbst abgeben und dafl Sie durch wenige Worte meine Leiden an dem Ungetreuen r‰chen wollen. Er ist nicht f¸hllos, und wenigstens soll ihn mein Tod einen Augenblick schmerzen.”

Wilhelm ¸bernahm den Brief, indem er sie jedoch trˆstete und den Gedanken des Todes von ihr entfernen wollte.

“Nein”, versetzte sie, “benehmen Sie mir nicht meine n‰chste Hoffnung. Ich habe ihn lange erwartet und will ihn freudig in die Arme schlieflen.”

Kurz darauf kam das vom Arzt versprochene Manuskript an. Sie ersuchte Wilhelmen, ihr daraus vorzulesen, und die Wirkung, die es tat, wird der Leser am besten beurteilen kˆnnen, wenn er sich mit dem folgenden Buche bekannt gemacht hat. Das heftige und trotzige Wesen unsrer armen Freundin ward auf einmal gelindert. Sie nahm den Brief zur¸ck und schrieb einen andern, wie es schien in sehr sanfter Stimmung; auch forderte sie Wilhelmen auf, ihren Freund, wenn er irgend durch die Nachricht ihres Todes betr¸bt werden sollte, zu trˆsten, ihn zu versichern, dafl sie ihm verziehen habe und dafl sie ihm alles Gl¸ck w¸nsche.

Von dieser Zeit an war sie sehr still und schien sich nur mit wenigen Ideen zu besch‰ftigen, die sie sich aus dem Manuskript eigen zu machen suchte, woraus ihr Wilhelm von Zeit zu Zeit vorlesen muflte. Die Abnahme ihrer Kr‰fte war nicht sichtbar, und unvermutet fand sie Wilhelm eines Morgens tot, als er sie besuchen wollte.

Bei der Achtung, die er f¸r sie, gehabt, und bei der Gewohnheit, mit ihr zu leben, war ihm ihr Verlust sehr schmerzlich. Sie war die einzige Person, die es eigentlich gut mit ihm meinte, und die K‰lte Serlos in der letzten Zeit hatte er nur allzusehr gef¸hlt. Er eilte daher, die aufgetragene Botschaft auszurichten, und w¸nschte sich auf einige Zeit zu entfernen. Von der andern Seite war f¸r Melina diese Abreise sehr erw¸nscht: denn dieser hatte sich bei der weitl‰ufigen Korrespondenz, die er unterhielt, gleich mit einem S‰nger und einer S‰ngerin eingelassen, die das Publikum einstweilen durch Zwischenspiele zur k¸nftigen Oper vorbereiten sollten. Der Verlust Aureliens und Wilhelms Entfernung sollten auf diese Weise in der ersten Zeit ¸bertragen werden, und unser Freund war mit allem zufrieden, was ihm seinen Urlaub auf einige Wochen erleichterte.

Er hatte sich eine sonderbar wichtige Idee von seinem Auftrage gemacht. Der Tod seiner Freundin hatte ihn tief ger¸hrt, und da er sie so fr¸hzeitig von dem Schauplatze abtreten sah, muflte er notwendig gegen den, der ihr Leben verk¸rzt und dieses kurze Leben ihr so qualvoll gemacht, feindselig gesinnt sein.

Ungeachtet der letzten gelinden Worte der Sterbenden nahm er sich doch vor, bei ¸berreichung des Briefs ein strenges Gericht ¸ber den ungetreuen Freund ergehen zu lassen, und da er sich nicht einer zuf‰lligen Stimmung vertrauen wollte, dachte er an eine Rede, die in der Ausarbeitung pathetischer als billig ward. Nachdem er sich vˆllig von der guten Komposition seines Aufsatzes ¸berzeugt hatte, machte er, indem er ihn auswendig lernte, Anstalt zu seiner Abreise. Mignon war beim Einpacken gegenw‰rtig und fragte ihn, ob er nach S¸den oder nach Norden reise, und als sie das letzte von ihm erfuhr, sagte sie. “So will ich dich hier wieder erwarten.” Sie bat ihn um die Perlenschnur Marianens, die er dem lieben Geschˆpf nicht versagen konnte; das Halstuch hatte sie schon. Dagegen steckte sie ihm den Schleier des Geistes in den Mantelsack, ob er ihr gleich sagte, dafl ihm dieser Flor zu keinem Gebrauch sei.

Melina ¸bernahm die Regie, und seine Frau versprach, auf die Kinder ein m¸tterliches Auge zu haben, von denen sich Wilhelm ungern losrifl. Felix war sehr lustig beim Abschied, und als man ihn fragte, was er wolle mitgebracht haben, sagte er: “Hˆre! bringe mir einen Vater mit.” Mignon nahm den Scheidenden bei der Hand, und indem sie, auf die Zehen gehoben, ihm einen treuherzigen und lebhaften Kufl, doch ohne Z‰rtlichkeit, auf die Lippen dr¸ckte, sagte sie: “Meister! vergifl uns nicht und komm bald wieder.”

Und so lassen wir unsern Freund unter tausend Gedanken und Empfindungen seine Reise antreten und zeichnen hier noch zum Schlusse ein Gedicht auf, das Mignon mit groflem Ausdruck einigemal rezitiert hatte und das wir fr¸her mitzuteilen durch den Drang so mancher sonderbaren Ereignisse verhindert wurden.

Heifl mich nicht reden, heifl mich schweigen, Denn mein Geheimnis ist mir Pflicht;
Ich mˆchte dir mein ganzes Innre zeigen, Allein das Schicksal will es nicht.

Zur rechten Zeit vertreibt der Sonne Lauf Die finstre Nacht, und sie mufl sich erhellen, Der harte Fels schlieflt seinen Busen auf, Miflgˆnnt der Erde nicht die tiefverborgnen Quellen.

Ein jeder sucht im Arm des Freundes Ruh, Dort kann die Brust in Klagen sich ergieflen; Allein ein Schwur dr¸ckt mir die Lippen zu, Und nur ein Gott vermag sie aufzuschlieflen.