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Die Leiden des jungen Werther von Johann Wolfgang von Goethe
Hamburger Ausgabe, Band 6
Erstes Buch
Am 4. Mai 1771
Wie froh bin ich, daï¬ ich weg bin! Bester Freund, was ist das Herz des Menschen! Dich zu verlassen, den ich so liebe, von dem ich unzertrennlich war, und froh zu sein! Ich weiï¬, du verzeihst mir’s. Waren nicht meine ¸brigen Verbindungen recht ausgesucht vom Schicksal, um ein Herz wie das meine zu â°ngstigen? Die arme Leonore! Und doch war ich unschuldig. Konnt’ ich daf¸r, daï¬, wâ°hrend die eigensinnigen Reize ihrer Schwester mir eine angenehme Unterhaltung verschafften, daï¬ eine Leidenschaft in dem armen Herzen sich bildete? Und doch–bin ich ganz unschuldig? Hab’ ich nicht ihre Empfindungen genâ°hrt? Hab’ ich mich nicht an den ganz wahren Ausdr¸cken der Natur, die uns so oft zu lachen machten, so wenig lâ°cherlich sie waren, selbst ergetzt? Hab’ ich nicht–o was ist der Mensch, daï¬ er ¸ber sich klagen darf! Ich will, lieber Freund, ich verspreche dir’s, ich will mich bessern, will nicht mehr ein biï¬chen â¹bel, das uns das Schicksal vorlegt, wiederkâ°uen, wie ich’s immer getan habe; ich will das Gegenwâ°rtige genieï¬en, und das Vergangene soll mir vergangen sein. Gewiï¬, du hast recht, Bester, der Schmerzen wâ°ren minder unter den Menschen, wenn sie nicht–Gott weiï¬, warum sie so gemacht sind!–mit so viel Emsigkeit der Einbildungskraft sich beschâ°ftigten, die Erinnerungen des vergangenen â¹bels zur¸ckzurufen, eher als eine gleichg¸ltige Gegenwart zu ertragen.
Du bist so gut, meiner Mutter zu sagen, daï¬ ich ihr Geschâ°ft bestens betreiben und ihr ehstens Nachricht davon geben werde. Ich habe meine Tante gesprochen und bei weitem das bËse Weib nicht gefunden, das man bei uns aus ihr macht. Sie ist eine muntere, heftige Frau von dem besten Herzen. Ich erklâ°rte ihr meiner Mutter Beschwerden ¸ber den zur¸ckgehaltenen Erbschaftsanteil; sie sagte mir ihre Gr¸nde, Ursachen und die Bedingungen, unter welchen sie bereit wâ°re, alles herauszugeben, und mehr als wir verlangten–kurz, ich mag jetzt nichts davon schreiben, sage meiner Mutter, es werde alles gut gehen. Und ich habe, mein Lieber, wieder bei diesem kleinen Geschâ°ft gefunden, daï¬ Miï¬verstâ°ndnisse und Trâ°gheit vielleicht mehr Irrungen in der Welt machen als List und Bosheit. Wenigstens sind die beiden letzteren gewiï¬ seltener.
â¹brigens befinde ich mich hier gar wohl. Die Einsamkeit ist meinem Herzen kËstlicher Balsam in dieser paradiesischen Gegend, und diese Jahreszeit der Jugend wâ°rmt mit aller F¸lle mein oft schauderndes Herz. Jeder Baum, jede Hecke ist ein Strauï¬ von Bl¸ten, und man mËchte zum Maienkâ°fer werden, um in dem Meer von Wohlger¸chen herumschweben und alle seine Nahrung darin finden zu kËnnen.
Die Stadt selbst ist unangenehm, dagegen rings umher eine unaussprechliche SchËnheit der Natur. Das bewog den verstorbenen Grafen von M., einen Garten auf einem der H¸gel anzulegen, die mit der schËnsten Mannigfaltigkeit sich kreuzen und die lieblichsten Tâ°ler bilden. Der Garten ist einfach, und man f¸hlt gleich bei dem Eintritte, daï¬ nicht ein wissenschaftlicher Gâ°rtner, sondern ein f¸hlendes Herz den Plan gezeichnet, das seiner selbst hier genieï¬en wollte. Schon manche Trâ°ne hab’ ich dem Abgeschiedenen in dem verfallenen Kabinettchen geweint, das sein Lieblingsplâ°tzchen war und auch meines ist. Bald werde ich Herr vom Garten sein; der Gâ°rtner ist mir zugetan, nur seit den paar Tagen, und er wird sich nicht ¸bel dabei befinden.
Am 10. Mai
Eine wunderbare Heiterkeit hat meine ganze Seele eingenommen, gleich den s¸ï¬en Fr¸hlingsmorgen, die ich mit ganzem Herzen genieï¬e. Ich bin allein und freue mich meines Lebens in dieser Gegend, die f¸r solche Seelen geschaffen ist wie die meine. Ich bin so gl¸cklich, mein Bester, so ganz in dem Gef¸hle von ruhigem Dasein versunken, daï¬ meine Kunst darunter leidet. Ich kËnnte jetzt nicht zeichnen, nicht einen Strich, und bin nie ein grËï¬erer Maler gewesen als in diesen Augenblicken. Wenn das liebe Tal um mich dampft, und die hohe Sonne an der Oberflâ°che der undurchdringlichen Finsternis meines Waldes ruht, und nur einzelne Strahlen sich in das innere Heiligtum stehlen, ich dann im hohen Grase am fallenden Bache liege, und nâ°her an der Erde tausend mannigfaltige Grâ°schen mir merkw¸rdig werden; wenn ich das Wimmeln der kleinen Welt zwischen Halmen, die unzâ°hligen, unergr¸ndlichen Gestalten der W¸rmchen, der M¸ckchen nâ°her an meinem Herzen f¸hle, und f¸hle die Gegenwart des Allmâ°chtigen, der uns nach seinem Bilde schuf, das Wehen des Alliebenden, der uns in ewiger Wonne schwebend trâ°gt und erhâ°lt; mein Freund! Wenn’s dann um meine Augen dâ°mmert, und die Welt um mich her und der Himmel ganz in meiner Seele ruhn wie die Gestalt einer Geliebten–dann sehne ich mich oft und denke : ach kËnntest du das wieder ausdr¸cken, kËnntest du dem Papiere das einhauchen, was so voll, so warm in dir lebt, daï¬ es w¸rde der Spiegel deiner Seele, wie deine Seele ist der Spiegel des unendlichen Gottes!–mein Freund–aber ich gehe dar¸ber zugrunde, ich erliege unter der Gewalt der Herrlichkeit dieser Erscheinungen.
Ich weiï¬ nicht, ob tâ°uschende Geister um diese Gegend schweben, oder ob die warme, himmlische Phantasie in meinem Herzen ist, die mir alles rings umher so paradiesisch macht. Das ist gleich vor dem Orte ein Brunnen, ein Brunnen, an den ich gebannt bin wie Melusine mit ihren Schwestern.–Du gehst einen kleinen H¸gel hinunter und findest dich vor einem GewËlbe, da wohl zwanzig Stufen hinabgehen, wo unten das klarste Wasser aus Marmorfelsen quillt. Die kleine Mauer, die oben umher die Einfassung macht, die hohen Bâ°ume, die den Platz rings umher bedecken, die K¸hle des Orts; das hat alles so was Anz¸gliches, was Schauerliches. Es vergeht kein Tag, daï¬ ich nicht eine Stunde da sitze. Da kommen die Mâ°dchen aus der Stadt und holen Wasser, das harmloseste Geschâ°ft und das nËtigste, das ehemals die TËchter der KËnige selbst verrichteten. Wenn ich da sitze, so lebt die patriarchalische Idee so lebhaft um mich, wie sie, alle die Altvâ°ter, am Brunnen Bekanntschaft machen und freien, und wie um die Brunnen und Quellen wohltâ°tige Geister schweben. O der muï¬ nie nach einer schweren Sommertagswanderung sich an des Brunnens K¸hle gelabt haben, der das nicht mitempfinden kann.
Am 13. Mai
Du fragst, ob du mir meine B¸cher schicken sollst?–lieber, ich bitte dich um Gottes willen, laï¬ mir sie vom Halse! Ich will nicht mehr geleitet, ermuntert, angefeuert sein, braust dieses Herz doch genug aus sich selbst; ich brauche Wiegengesang, und den habe ich in seiner F¸lle gefunden in meinem Homer. Wie oft lull’ ich mein empËrtes Blut zur Ruhe, denn so ungleich, so unstet hast du nichts gesehn als dieses Herz. Lieber! Brauch’ ich dir das zu sagen, der du so oft die Last getragen hast, mich vom Kummer zur Ausschweifung und von s¸ï¬er Melancholie zur verderblichen Leidenschaft ¸bergehen zu sehn? Auch halte ich mein Herzchen wie ein krankes Kind; jeder Wille wird ihm gestattet. Sage das nicht weiter; es gibt Leute, die mir es ver¸beln w¸rden.
Am 15. Mai
Die geringen Leute des Ortes kennen mich schon und lieben mich, besonders die Kinder. Eine traurige Bemerkung hab’ ich gemacht. Wie ich im Anfange mich zu ihnen gesellte, sie freundschaftlich fragte ¸ber dies und das, glaubten einige, ich wollte ihrer spotten, und fertigten mich wohl gar grob ab. Ich lieï¬ mich das nicht verdrieï¬en; nur f¸hlte ich, was ich schon oft bemerkt habe, auf das lebhafteste : Leute von einigem Stande werden sich immer in kalter Entfernung vom gemeinen Volke halten, als glaubten sie durch Annâ°herung zu verlieren; und dann gibt’s Fl¸chtlinge und ¸ble Spaï¬vËgel, die sich herabzulassen scheinen, um ihren â¹bermut dem armen Volke desto empfindlicher zu machen.
Ich weiï¬ wohl, daï¬ wir nicht gleich sind, noch sein kËnnen; aber ich halte daf¸r, daï¬ der, der nËtig zu haben glaubt, vom so genannten PËbel sich zu entfernen, um den Respekt zu erhalten, ebenso tadelhaft ist als ein Feiger, der sich vor seinem Feinde verbirgt, weil er zu unterliegen f¸rchtet.
Letzthin kam ich zum Brunnen und fand ein junges Dienstmâ°dchen, das ihr Gefâ°ï¬ auf die unterste Treppe gesetzt hatte und sich umsah, ob keine Kamerâ°din kommen wollte, ihr es auf den Kopf zu helfen. Ich stieg hinunter und sah sie an.–“Soll ich Ihr helfen, Jungfer?” sagte ich.–sie ward rot ¸ber und ¸ber.–“O nein, Herr!” sagte sie.–“Ohne Umstâ°nde”.–sie legte ihren Kragen zurecht, und ich half ihr. Sie dankte und stieg hinauf.
Den 17. Mai
Ich habe allerlei Bekanntschaft gemacht, Gesellschaft habe ich noch keine gefunden. Ich weiï¬ nicht, was ich Anz¸gliches f¸r die Menschen haben muï¬; es mËgen mich ihrer so viele und hâ°ngen sich an mich, und da tut mir’s weh, wenn unser Weg nur eine kleine Strecke miteinander geht. Wenn du fragst, wie die Leute hier sind, muï¬ ich dir sagen: wie ¸berall! Es ist ein einfËrmiges Ding um das Menschengeschlecht. Die meisten verarbeiten den grËï¬ten Teil der Zeit, um zu leben, und das biï¬chen, das ihnen von Freiheit ¸brig bleibt, â°ngstigt sie so, daï¬ sie alle Mittel aufsuchen, um es los zu werden. O Bestimmung des Menschen!
Aber eine recht gute Art Volks! Wenn ich mich manchmal vergesse, manchmal mit ihnen die Freuden genieï¬e, die den Menschen noch gewâ°hrt sind, an einem artig besetzten Tisch mit aller Offen–und Treuherzigkeit sich herumzuspaï¬en, eine Spazierfahrt, einen Tanz zur rechten Zeit anzuordnen, und dergleichen, das tut eine ganz gute Wirkung auf mich; nur muï¬ mir nicht einfallen, daï¬ noch so viele andere Krâ°fte in mir ruhen, die alle ungenutzt vermodern und die ich sorgfâ°ltig verbergen muï¬. Ach das engt das ganze Herz so ein.–Und doch! Miï¬verstanden zu werden, ist das Schicksal von unsereinem.
Ach, daï¬ die Freundin meiner Jugend dahin ist, ach, daï¬ ich sie je gekannt habe!–ich w¸rde sagen: du bist ein Tor! Du suchst, was hienieden nicht zu finden ist! Aber ich habe sie gehabt, ich habe das Herz gef¸hlt, die groï¬e Seele, in deren Gegenwart ich mir schien mehr zu sein, als ich war, weil ich alles war, was ich sein konnte. Guter Gott! Blieb da eine einzige Kraft meiner Seele ungenutzt? Konnt’ ich nicht vor ihr das ganze wunderbare Gef¸hl entwickeln, mit dem mein Herz die Natur umfaï¬t? War unser Umgang nicht ein ewiges Weben von der feinsten Empfindung, dem schâ°rfsten Witze, dessen Modifikationen, bis zur Unart, alle mit dem Stempel des Genies bezeichnet waren? Und nun!–ach ihre Jahre, die sie voraus hatte, f¸hrten sie fr¸her ans Grab als mich. Nie werde ich sie vergessen, nie ihren festen Sinn und ihre gËttliche Duldung.
Vor wenig Tagen traf ich einen jungen V. an, einen offnen Jungen, mit einer gar gl¸cklichen Gesichtsbildung. Er kommt erst von Akademien d¸nkt sich eben nicht weise, aber glaubt doch, er wisse mehr als andere. Auch war er fleiï¬ig, wie ich an allerlei sp¸re, kurz, er hat h¸bsche Kenntnisse. Da er hËrte, daï¬ ich viel zeichnete und Griechisch kËnnte (zwei Meteore hierzulande), wandte er sich an mich und kramte viel Wissens aus, von Batteux bis zu Wood, von de Piles zu Winckelmann, und versicherte mich, er habe Sulzers Theorie, den ersten Teil, ganz durchgelesen und besitze ein Manuskript von Heynen ¸ber das Studium der Antike. Ich lieï¬ das gut sein.
Noch gar einen braven Mann habe ich kennen lernen, den f¸rstlichen Amtmann, einen offenen, treuherzigen Menschen. Man sagt, es soll eine Seelenfreude sein, ihn unter seinen Kindern zu sehen, deren er neun hat; besonders macht man viel Wesens von seiner â°ltesten Tochter. Er hat mich zu sich gebeten, und ich will ihn ehster Tage besuchen. Er wohnt auf einem f¸rstlichen Jagdhofe, anderthalb Stunden von hier, wohin er nach dem Tode seiner Frau zu ziehen die Erlaubnis erhielt, da ihm der Aufenthalt hier in der Stadt und im Amthause zu weh tat.
Sonst sind mir einige verzerrte Originale in den Weg gelaufen, an denen alles unausstehlich ist, am unertrâ°glichsten Freundschaftsbezeigungen.
Leb’ wohl! Der Brief wird dir recht sein, er ist ganz historisch.
Am 22. Mai
Daï¬ das Leben des Menschen nur ein Traum sei, ist manchem schon so vorgekommen, und auch mit mir zieht dieses Gef¸hl immer herum. Wenn ich die Einschrâ°nkung ansehe, in welcher die tâ°tigen und forschenden Krâ°fte des Menschen eingesperrt sind; wenn ich sehe, wie alle Wirksamkeit dahinaus lâ°uft, sich die Befriedigung von Bed¸rfnissen zu verschaffen, die wieder keinen Zweck haben, als unsere arme Existenz zu verlâ°ngern, und dann, daï¬ alle Beruhigung ¸ber gewisse Punkte des Nachforschens nur eine trâ°umende Regignation ist, da man sich die Wâ°nde, zwischen denen man gefangen sitzt, mit bunten Gestalten und lichten Aussichten bemalt–das alles, Wilhelm, macht mich stumm. Ich kehre in mich selbst zur¸ck, und finde eine Welt! Wieder mehr in Ahnung und dunkler Begier als in Darstellung und lebendiger Kraft. Und da schwimmt alles vor meinen Sinnen, und ich lâ°chle dann so trâ°umend weiter in die Welt.
Daï¬ die Kinder nicht wissen, warum sie wollen, darin sind alle hochgelahrten Schul–und Hofmeister einig; daï¬ aber auch Erwachsene gleich Kindern auf diesem Erdboden herumtaumeln und wie jene nicht wissen, woher sie kommen und wohin sie gehen, ebensowenig nach wahren Zwecken handeln, ebenso durch Biskuit und Kuchen und Birkenreiser regiert werden: das will niemand gern glauben, und mich d¸nkt, man kann es mit Hâ°nden greifen.
Ich gestehe dir gern, denn ich weiï¬, was du mir hierauf sagen mËchtest, daï¬ diejenigen die Gl¸cklichsten sind, die gleich den Kindern in den Tag hinein leben, ihre Puppen herumschleppen, aus–und anziehen und mit groï¬em Respekt um die Schublade umherschleichen, wo Mama das Zuckerbrot hineingeschlossen hat, und, wenn sie das gew¸nschte endlich erhaschen, es mit vollen Backen verzehren und rufen:”mehr!”–das sind gl¸ckliche GeschËpfe. Auch denen ist’s wohl, die ihren Lumpenbeschâ°ftigungen oder wohl gar ihren Leidenschaften prâ°chtige Titel geben und sie dem Menschengeschlechte als Riesenoperationen zu dessen Heil und Wohlfahrt anschreiben.–Wohl dem, der so sein kann! Wer aber in seiner Demut erkennt, wo das alles hinauslâ°uft, wer da sieht, wie artig jeder B¸rger, dem es wohl ist, sein Gâ°rtchen zum Paradiese zuzustutzen weiï¬, und wie unverdrossen auch der Ungl¸ckliche unter der B¸rde seinen Weg fortkeucht, und alle gleich interessiert sind, das Licht dieser Sonne noch eine Minute lâ°nger zu sehn–ja, der ist still und bildet auch seine Welt aus sich selbst und ist auch gl¸cklich, weil er ein Mensch ist. Und dann, so eingeschrâ°nkt er ist, hâ°lt er doch immer im Herzen das s¸ï¬e Gef¸hl der Freiheit, und daï¬ er diesen Kerker verlassen kann, wann er will.
Am 26. Mai
Du kennst von alters her meine Art, mich anzubauen, mir irgend an einem vertraulichen Orte ein H¸ttchen aufzuschlagen und da mit aller Einschrâ°nkung zu herbergen. Auch hier habe ich wieder ein Plâ°tzchen angetroffen, das mich angezogen hat.
Ungefâ°hr eine Stunde von der Stadt liegt ein Ort, den sie Wahlheim nennen. Die Lage an einem H¸gel ist sehr interessant, und wenn man oben auf dem Fuï¬pfade zum Dorf herausgeht, ¸bersieht man auf einmal das ganze Tal. Eine gute Wirtin, die gefâ°llig und munter in ihrem Alter ist, schenkt Wein, Bier, Kaffee; und was ¸ber alles geht, sind zwei Linden, die mit ihren ausgebreiteten [sten den kleinen Platz vor der Kirche bedecken, der ringsum mit Bauerhâ°usern, Scheunen und HËfen eingeschlossen ist. So vertraulich, so heimlich hab’ ich nicht leicht ein Plâ°tzchen gefunden, und dahin lass’ ich mein Tischchen aus dem Wirtshause bringen und meinen Stuhl, trinke meinen Kaffee da und lese meinen Homer. Das erstenmal, als ich durch einen Zufall an einem schËnen Nachmittage unter die Linden kam, fand ich das Plâ°tzchen so einsam. Es war alles im Felde; nur ein Knabe von ungefâ°hr vier Jahren saï¬ an der Erde und hielt ein anderes, etwa halbjâ°hriges, vor ihm zwischen seinen F¸ï¬en sitzendes Kind mit beiden Armen wider seine Brust, so daï¬ er ihm zu einer Art von Sessel diente und ungeachtet der Munterkeit, womit er aus seinen schwarzen Augen herumschaute, ganz ruhig saï¬. Mich vergn¸gte der Anblick: ich setzte mich auf einen Pflug, der gegen¸ber stand, und zeichnete die br¸derliche Stellung mit vielem Ergetzen. Ich f¸gte den nâ°chsten Zaun, ein Scheunentor und einige gebrochene Wagenrâ°der bei, alles, wie es hinter einander stand, und fand nach Verlauf einer Stunde, daï¬ ich eine wohlgeordnete, sehr interessante Zeichnung verfertigt hatte, ohne das mindeste von dem Meinen hinzuzutun. Das bestâ°rkte mich in meinem Vorsatze, mich k¸nftig allein an die Natur zu halten. Sie allein ist unendlich reich, und sie allein bildet den groï¬en K¸nstler. Man kann zum Vorteile der Regeln viel sagen, ungefâ°hr was man zum Lobe der b¸rgerlichen Gesellschaft sagen kann. Ein Mensch, der sich nach ihnen bildet, wird nie etwas Abgeschmacktes und Schlechtes hervorbringen, wie einer, der sich durch Gesetze und Wohlstand modeln lâ°ï¬t, nie ein unertrâ°glicher Nachbar, nie ein merkw¸rdiger BËsewicht werden kann; dagegen wird aber auch alle Regel, man rede was man wolle, das wahre Gef¸hl von Natur und den wahren Ausdruck derselben zerstËren! Sag’ du: ‘das ist zu hart! Sie schrâ°nkt nur ein, beschneidet die geilen Reben’ etc.–guter Freund, soll ich dir ein Gleichnis geben? Es ist damit wie mit der Liebe. Ein junges Herz hâ°ngt ganz an einem Mâ°dchen, bringt alle Stunden seines Tages bei ihr zu, verschwendet alle seine Krâ°fte, all sein VermËgen, um ihr jeden Augenblick auszudr¸cken, daï¬ er sich ganz ihr hingibt. Und da kâ°me ein Philister, ein Mann, der in einem Ëffentlichen Amte steht, und sagte zu ihm: ‘feiner junger Herr! Lieben ist menschlich, nur m¸ï¬t Ihr menschlich lieben! Teilet Eure Stunden ein, die einen zur Arbeit, und die Erholungsstunden widmet Eurem Mâ°dchen. Berechnet Euer VermËgen, und was Euch von Eurer Notdurft ¸brig bleibt, davon verwehr’ ich Euch nicht, ihr ein Geschenk, nur nicht zu oft, zu machen, etwa zu ihrem Geburts–und Namenstage ‘ etc.–folgt der Mensch, so gibt’s einen brauchbaren jungen Menschen, und ich will selbst jedem F¸rsten raten, ihn in ein Kollegium zu setzen; nur mit seiner Liebe ist’s am Ende und, wenn er ein K¸nstler ist, mit seiner Kunst. O meine Freunde! Warum der Strom des Genies so selten ausbricht, so selten in hohen Fluten hereinbraust und eure staunende Seele ersch¸ttert?–liebe Freunde, da wohnen die gelassenen Herren auf beiden Seiten des Ufers, denen ihre Gartenhâ°uschen, Tulpenbeete und Krautfelder zugrunde gehen w¸rden, die daher in Zeiten mit Dâ°mmen und Ableiten der k¸nftig drohenden Gefahr abzuwehren wissen.
Am 27. Mai
Ich bin, wie ich sehe, in Verz¸ckung, Gleichnisse und Deklamation verfallen und habe dar¸ber vergessen, dir auszuerzâ°hlen, was mit den Kindern weiter geworden ist. Ich saï¬, ganz in malerische Empfindung vertieft, die dir mein gestriges Blatt sehr zerst¸ckt darlegt, auf meinem Pfluge wohl zwei Stunden. Da kommt gegen Abend eine junge Frau auf die Kinder los, die sich indes nicht ger¸hrt hatten, mit einem KËrbchen am Arm und ruft von weitem: “Philipps, du bist recht brav”. –Sie gr¸ï¬te mich, ich dankte ihr, stand auf, trat nâ°her hin und fragte sie, ob sie Mutter von den Kindern wâ°re? Sie bejahte es, und indem sie dem â°ltesten einen halben Weck gab, nahm sie das kleine auf und k¸ï¬te es mit aller m¸tterlichen Liebe.–“ich habe”, sagte sie, “meinem Philipps das Kleine zu halten gegeben und bin mit meinem Æltesten in die Stadt gegangen, um weiï¬ Brot zu holen und Zucker und ein irden Breipfâ°nnchen”.–Ich sah das alles in dem Korbe, dessen Deckel abgefallen war.–“Ich will meinem Hans (das war der Name des J¸ngsten) ein S¸ppchen kochen zum Abende; der lose Vogel, der Groï¬e, hat mir gestern das Pfâ°nnchen zerbrochen, als er sich mit Philippsen um die Scharre des Breis zankte”.–ich fragte nach dem Æltesten, und sie hatte mir kaum gesagt, daï¬ er sich auf der Wiese mit ein paar Gâ°nsen herumjage, als er gesprungen kam und dem Zweiten eine Haselgerte mitbrachte. Ich unterhielt mich weiter mit dem Weibe und erfuhr, daï¬ sie des Schulmeisters Tochter sei, und daï¬ ihr Mann eine Reise in die Schweiz gemacht habe, um die Erbschaft eines Vetters zu holen.–“Sie haben ihn drum betriegen wollen”, sagte sie,”und ihm auf seine Briefe nicht geantwortet; da ist er selbst hineingegangen. Wenn ihm nur kein Ungl¸ck widerfahren ist, ich hËre nichts von ihm”.–Es ward mir schwer, mich von dem Weibe los zu machen, gab jedem der Kinder einen Kreuzer, und auch f¸rs j¸ngste gab ich ihr einen, ihm einen Weck zur Suppe mitzubringen, wenn sie in die Stadt ginge, und so schieden wir von einander.
Ich sage dir, mein Schatz, wenn meine Sinne gar nicht mehr halten wollen, so lindert all den Tumult der Anblick eines solchen GeschËpfs, das in gl¸cklicher Gelassenheit den engen Kreis seines Daseins hingeht, von einem Tage zum andern sich durchhilft, die Blâ°tter abfallen sieht und nichts dabei denkt, als daï¬ der Winter kommt.
Seit der Zeit bin ich oft drauï¬en. Die Kinder sind ganz an mich gewËhnt, sie kriegen Zucker, wenn ich Kaffee trinke, und teilen das Butterbrot und die saure Milch mit mir des Abends. Sonntags fehlt ihnen der Kreuzer nie, und wenn ich nicht nach der Betstunde da bin, so hat die Wirtin Ordre, ihn auszuzahlen.
Sie sind vertraut, erzâ°hlen mir allerhand, und besonders ergetze ich mich an ihren Leidenschaften und simpeln Ausbr¸chen des Begehrens, wenn mehr Kinder aus dem Dorfe sich versammeln.
Viele M¸he hat mich’s gekostet, der Mutter ihre Besorgnis zu nehmen, sie mËchten den Herrn inkommodieren.
Am 30. Mai
Was ich dir neulich von der Malerei sagte, gilt gewiï¬ auch von der Dichtkunst; es ist nur, daï¬ man das Vortreffliche erkenne und es auszusprechen wage, und das ist freilich mit wenigem viel gesagt. Ich habe heute eine Szene gehabt, die, rein abgeschrieben, die schËnste Idylle von der Welt gâ°be; doch was soll Dichtung, Szene und Idylle? Muï¬ es denn immer gebosselt sein, wenn wir teil an einer Naturerscheinung nehmen sollen?
Wenn du auf diesen Eingang viel Hohes und Vornehmes erwartest, so bist du wieder ¸bel betrogen; es ist nichts als ein Bauerbursch, der mich zu dieser lebhaften Teilnehmung hingerissen hat. Ich werde, wie gewËhnlich, schlecht erzâ°hlen, und du wirst mich, wie gewËhnlich, denk’ ich, ¸bertrieben finden; es ist wieder Wahlheim, und immer Wahlheim, das diese Seltenheiten hervorbringt.
Es war eine Gesellschaft drauï¬en unter den Linden, Kaffee zu trinken. Weil sie mir nicht ganz anstand, so blieb ich unter einem Vorwande zur¸ck.
Ein Bauerbursch kam aus einem benachbarten Hause und beschâ°ftigte sich, an dem Pfluge, den ich neulich gezeichnet hatte, etwas zurecht zu machen. Da mir sein Wesen gefiel, redete ich ihn an, fragte nach seinen Umstâ°nden, wir waren bald bekannt und, wie mir’s gewËhnlich mit dieser Art Leuten geht, bald vertraut. Er erzâ°hlte mir, daï¬ er bei einer Witwe in Diensten sei und von ihr gar wohl gehalten werde. Er sprach so vieles von ihr und lobte sie dergestalt, daï¬ ich bald merken konnte, er sei ihr mit Leib und Seele zugetan. Sie sei nicht mehr jung, sagte er, sie sei von ihrem ersten Mann ¸bel gehalten worden, wolle nicht mehr heiraten, und aus seiner Erzâ°hlung leuchtete so merklich hervor, wie schËn, wie reizend sie f¸r ihn sei, wie sehr er w¸nschte, daï¬ sie ihn wâ°hlen mËchte, um das Andenken der Fehler ihres ersten Mannes auszulËschen, daï¬ ich Wort f¸r Wort wiederholen m¸ï¬te, um dir die reine Neigung, die Liebe und Treue dieses Menschen anschaulich zu machen. Ja, ich m¸ï¬te die Gabe des grËï¬ten Dichters besitzen, um dir zugleich den Ausdruck seiner Gebâ°rden, die Harmonie seiner Stimme, das heimliche Feuer seiner Blicke lebendig darstellen zu kËnnen. Nein, es sprechen keine Worte die Zartheit aus, die in seinem ganzen Wesen und Ausdruck war; es ist alles nur plump, was ich wieder vorbringen kËnnte. Besonders r¸hrte mich, wie er f¸rchtete, ich mËchte ¸ber sein Verhâ°ltnis zu ihr ungleich denken und an ihrer guten Auff¸hrung zweifeln. Wie reizend es war, wenn er von ihrer Gestalt, von ihrem KËrper sprach, der ihn ohne jugendliche Reize gewaltsam an sich zog und fesselte, kann ich mir nur in meiner innersten Seele wiederholen. Ich hab’ in meinem Leben die dringende Begierde und das heiï¬e, sehnliche Verlangen nicht in dieser Reinheit gesehen, ja wohl kann ich sagen, in dieser Reinheit nicht gedacht und getrâ°umt. Schelte mich nicht, wenn ich dir sage, daï¬ bei der Erinnerung dieser Unschuld und Wahrheit mir die innerste Seele gl¸ht, und daï¬ mich das Bild dieser Treue und Zâ°rtlichkeit ¸berall verfolgt, und daï¬ ich, wie selbst davon entz¸ndet, lechze und schmachte.
Ich will nun suchen, auch sie ehstens zu sehn, oder vielmehr, wenn ich’s recht bedenke, ich will’s vermeiden. Es ist besser, ich sehe sie durch die Augen ihres Liebhabers; vielleicht erscheint sie mir vor meinen eigenen Augen nicht so, wie sie jetzt vor mir steht, und warum soll ich mir das schËne Bild verderben?
Am 16. Junius
Warum ich dir nicht schreibe?–Fragst du das und bist doch auch der Gelehrten einer. Du solltest raten, daï¬ ich mich wohl befinde, und zwar–kurz und gut, ich habe eine Bekanntschaft gemacht, die mein Herz nâ°her angeht. Ich habe–ich weiï¬ nicht.
Dir in der Ordnung zu erzâ°hlen, wie’s zugegangen ist, daï¬ ich eins der liebensw¸rdigsten GeschËpfe habe kennen lernen, wird schwer halten. Ich bin vergn¸gt und gl¸cklich, und also kein guter Historienschreiber.
Einen Engel!–pfui! Das sagt jeder von der Seinigen, nicht wahr? Und doch bin ich nicht imstande, dir zu sagen, wie sie vollkommen ist, warum sie vollkommen ist; genug, sie hat allen meinen Sinn gefangengenommen.
So viel Einfalt bei so viel Verstand, so viel G¸te bei so viel Festigkeit, und die Ruhe der Seele bei dem wahren Leben und der Tâ°tigkeit.–Das ist alles garstiges Gewâ°sch, was ich da von ihr sage, leidige Abstraktionen, die nicht einen Zug ihres Selbst ausdr¸cken. Ein andermal–nein, nicht ein andermal, jetzt gleich will ich dir’s erzâ°hlen. Tu’ ich ‘s jetzt nicht, so geschâ°h’ es niemals. Denn, unter uns, seit ich angefangen habe zu schreiben, war ich schon dreimal im Begriffe, die Feder niederzulegen, mein Pferd satteln zu lassen und hinauszureiten. Und doch schwur ich mir heute fr¸h, nicht hinauszureiten, und gehe doch alle Augenblick’ ans Fenster, zu sehen, wie hoch die Sonne noch steht.–Ich hab’s nicht ¸berwinden kËnnen, ich muï¬te zu ihr hinaus. Da bin ich wieder, Wilhelm, will mein Butterbrot zu Nacht essen und dir schreiben. Welch eine Wonne das f¸r meine Seele ist, sie in dem Kreise der lieben, muntern Kinder, ihrer acht Geschwister, zu sehen!–Wenn ich so fortfahre, wirst du am Ende so klug sein wie am Anfange. HËre denn, ich will mich zwingen, ins Detail zu gehen.
Ich schrieb dir neulich, wie ich den Amtmann S. habe kennen lernen, und wie er mich gebeten habe, ihn bald in seiner Einsiedelei oder vielmehr seinem kleinen KËnigreiche zu besuchen. Ich vernachlâ°ssigte das, und wâ°re vielleicht nie hingekommen, hâ°tte mir der Zufall nicht den Schatz entdeckt, der in der stillen Gegend verborgen liegt.
Unsere jungen Leute hatten einen Ball auf dem Lande angestellt, zu dem ich mich denn auch willig finden lieï¬. Ich bot einem hiesigen guten, schËnen, ¸brigens unbedeutenden Mâ°dchen die Hand, und es wurde ausgemacht, daï¬ ich eine Kutsche nehmen, mit meiner Tâ°nzerin und ihrer Base nach dem Orte der Lustbarkeit hinausfahren und auf dem Wege Charlotten S. mitnehmen sollte.–“Sie werden ein schËnes Frauenzimmer kennenlernen”, sagte meine Gesellschafterin, da wir durch den weiten, ausgehauenen Wald nach dem Jagdhause fuhren.–“Nehmen Sie sich in acht”, versetzte die Base, “daï¬ Sie sich nicht verlieben!”–“Wieso?” sagte ich.–“Sie ist schon vergeben,”antwortete jene,”an einen sehr braven Mann, der weggereist ist, seine Sachen in Ordnung zu bringen, weil sein Vater gestorben ist, und sich um eine ansehnliche Versorgung zu bewerben”.–Die Nachricht war mir ziemlich gleichg¸ltig.
Die Sonne war noch eine Viertelstunde vom Gebirge, als wir vor dem Hoftore anfuhren. Es war sehr schw¸l, und die Frauenzimmer â°uï¬erten ihre Besorgnis wegen eines Gewitters, das sich in weiï¬grauen, dumpfichten WËlkchen rings am Horizonte zusammenzuziehen schien. Ich tâ°uschte ihre Furcht mit anmaï¬licher Wetterkunde, ob mir gleich selbst zu ahnen anfing, unsere Lustbarkeit werde einen Stoï¬ leiden.
Ich war ausgestiegen, und eine Magd, die ans Tor kam, bat uns, einen Augenblick zu verziehen, Mamsell Lottchen w¸rde gleich kommen. Ich ging durch den Hof nach dem wohlgebauten Hause, und da ich die vorliegenden Treppen hinaufgestiegen war und in die T¸r trat, fiel mir das reizendste Schauspiel in die Augen, das ich je gesehen habe. in dem Vorsaale wimmelten sechs Kinder von eilf zu zwei Jahren um ein Mâ°dchen von schËner Gestalt, mittlerer GrËï¬e, die ein simples weiï¬es Kleid, mit blaï¬roten Schleifen an Arm und Brust, anhatte. Sie hielt ein schwarzes Brot und schnitt ihren Kleinen rings herum jedem sein St¸ck nach Proportion ihres Alters und Appetits ab, gab’s jedem mit solcher Freundlichkeit, und jedes rief so ungek¸nstelt sein “danke!”, indem es mit den kleinen Hâ°ndchen lange in die HËhe gereicht hatte, ehe es noch abgeschnitten war, und nun mit seinem Abendbrote vergn¸gt entweder wegsprang, oder nach seinem stillern Charakter gelassen davonging nach dem Hoftore zu, um die Fremden und die Kutsche zu sehen, darin ihre Lotte wegfahren sollte.–“Ich bitte um Vergebung”, sagte sie, “daï¬ ich Sie hereinbem¸he und die Frauenzimmer warten lasse. â¹ber dem Anziehen und allerlei Bestellungen f¸rs Haus in meiner Abwesenheit habe ich vergessen, meinen Kindern ihr Vesperbrot zu geben, und sie wollen von niemanden Brot geschnitten haben als von mir”.
Ich machte ihr ein unbedeutendes Kompliment, meine ganze Seele ruhte auf der Gestalt, dem Tone, dem Betragen, und ich hatte eben Zeit, mich von der â¹berraschung zu erholen, als sie in die Stube lief, ihre Handschuhe und den Fâ°cher zu holen. Die Kleinen sahen mich in einiger Entfernung so von der Seite an, und ich ging auf das j¸ngste los, das ein Kind von der gl¸cklichsten Gesichtsbildung war. Es zog sich zur¸ck, als eben Lotte zur T¸re herauskam und sagte:”Louis, gib dem Herrn Vetter eine Hand”.–das tat der Knabe sehr freim¸tig, und ich konnte mich nicht enthalten, ihn, ungeachtet seines kleinen Rotznâ°schens, herzlich zu k¸ssen.
“Vetter?” sagte ich, indem ich ihr die Hand reichte,” glauben Sie, daï¬ ich des Gl¸cks wert sei, mit Ihnen verwandt zu sein?”–“O”, sagte sie mit einem leichtfertigen Lâ°cheln, “unsere Vetterschaft ist sehr weitlâ°ufig, und es wâ°re mir leid, wenn Sie der schlimmste drunter sein sollten”.–Im Gehen gab sie Sophien, der â°ltesten Schwester nach ihr, einem Mâ°dchen von ungefâ°hr elf Jahren, den Auftrag, wohl auf die Kinder acht zu haben und den Papa zu gr¸ï¬en, wenn er vom Spazierritte nach Hause kâ°me. Den Kleinen sagte sie, sie sollten ihrer Schwester Sophie folgen, als wenn sie’s selber wâ°re, das denn auch einige ausdr¸cklich versprachen. Eine kleine, naseweise Blondine aber, von ungefâ°hr sechs Jahren, sagte: “du bist’s doch nicht, Lottchen, wir haben dich doch lieber”.–die zwei â°ltesten Knaben waren hinten auf die Kutsche geklettert, und auf mein Vorbitten erlaubte sie ihnen, bis vor den Wald mitzufahren, wenn sie versprâ°chen, sich nicht zu necken und sich recht festzuhalten.
Wir hatten uns kaum zurecht gesetzt, die Frauenzimmer sich bewillkommt, wechselsweise ¸ber den Anzug, vorz¸glich ¸ber die H¸te ihre Anmerkungen gemacht und die Gesellschaft, die man erwartete, gehËrig durchgezogen, als Lotte den Kutscher halten und ihre Br¸der herabsteigen lieï¬, die noch einmal ihre Hand zu k¸ssen begehrten, das denn der â°lteste mit aller Zâ°rtlichkeit, die dem Alter von f¸nfzehn Jahren eigen sein kann, der andere mit viel Heftigkeit und Leichtsinn tat. Sie lieï¬ die Kleinen noch einmal gr¸ï¬en, und wir fuhren weiter.
Die Base fragte, ob sie mit dem Buche fertig wâ°re, das sie ihr neulich geschickt hâ°tte.–“nein”, sagte Lotte,”es gefâ°llt mir nicht, Sie kËnnen’s wiederhaben. Das vorige war auch nicht besser”.–Ich erstaunte, als ich fragte, was es f¸r B¸cher wâ°ren, und sie mir antwortete:–ich fand so viel Charakter in allem, was sie sagte, ich sah mit jedem Wort neue Reize, neue Strahlen des Geistes aus ihren Gesichtsz¸gen hervorbrechen, die sich nach und nach vergn¸gt zu entfalten schienen, weil sie an mir f¸hlte, daï¬ ich sie verstand.
“Wie ich j¸nger war”, sagte sie, “liebte ich nichts so sehr als Romane. Weiï¬ Gott, wie wohl mir’s war, wenn ich mich Sonntags in so ein Eckchen setzen und mit ganzem Herzen an dem Gl¸ck und Unstern einer Miï¬ Jonny teilnehmen konnte. Ich leugne auch nicht, daï¬ die Art noch einige Reize f¸r mich hat. Doch da ich so selten an ein Buch komme, so muï¬ es auch recht nach meinem Geschmack sein. Und der Autor ist mir der liebste, in dem ich meine Welt wiederfinde, bei dem es zugeht wie um mich, und dessen Geschichte mir doch so interessant und herzlich wird als mein eigen hâ°uslich Leben, das freilich kein Paradies, aber doch im ganzen eine Quelle unsâ°glicher Gl¸ckseligkeit ist”.
Ich bem¸hte mich, meine Bewegungen ¸ber diese Worte zu verbergen. Das ging freilich nicht weit: denn da ich sie mit solcher Wahrheit im Vorbeigehen vom Landpriester von Wakefield, vom–reden hËrte, kam ich ganz auï¬er mich, sagte ihr alles, was ich muï¬te, und bemerkte erst nach einiger Zeit, da Lotte das Gesprâ°ch an die anderen wendete, daï¬ diese die Zeit ¸ber mit offenen Augen, als sâ°ï¬en sie nicht da, dagesessen hatten. Die Base sah mich mehr als einmal mit einem spËttischen Nâ°schen an, daran mir aber nichts gelegen war.
Das Gesprâ°ch fiel aufs Vergn¸gen am Tanze.–“wenn diese Leidenschaft ein Fehler ist,”sagte Lotte, “so gestehe ich Ihnen gern, ich weiï¬ mir nichts ¸bers Tanzen. Und wenn ich was im Kopfe habe und mir auf meinem verstimmten Klavier einen Contretanz vortrommle, so ist alles wieder gut”.
Wie ich mich unter dem Gespâ°che in den schwarzen Augen weidete–wie die lebendigen Lippen und die frischen, muntern Wangen meine ganze Seele anzogen–wie ich, in den herrlichen Sinn ihrer Rede ganz versunken, oft gar die Worte nicht hËrte, mit denen sie sich ausdr¸ckte–davon hast du eine Vorstellung, weil du mich kennst. Kurz, ich stieg aus dem Wagen wie ein Trâ°umender, als wir vor dem Lusthause stille hielten, und war so in Trâ°umen rings in der dâ°mmernden Welt verloren, daï¬ ich auf die Musik kaum achtete, die uns von dem erleuchteten Saal herunter entgegenschallte.
Die zwei Herren Audran und ein gewisser N. N.–wer behâ°lt alle die Namen–, die der Base und Lottens Tâ°nzer waren, empfingen uns am Schlage, bemâ°chtigten sich ihrer Frauenzimmer, und ich f¸hrte das meinige hinauf.
Wir schlangen uns in Menuetts um einander herum; ich forderte ein Frauenzimmer nach dem andern auf, und just die unleidlichsten konnten nicht dazu kommen, einem die Hand zu reichen und ein Ende zu machen. Lotte und ihr Tâ°nzer fingen einen Englischen an, und wie wohl mir’s war, als sie auch in der Reihe die Figur mit uns anfing, magst du f¸hlen. Tanzen muï¬ man sie sehen! Siehst du, sie ist so mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele dabei, ihr ganzer KËrper eine Harmonie, so sorglos, so unbefangen, als wenn das eigentlich alles wâ°re, als wenn sie sonst nichts dâ°chte, nichts empfâ°nde; und in dem Augenblicke gewiï¬ schwindet alles andere vor ihr.
Ich bat sie um den zweiten Contretanz; sie sagte mit den dritten zu, und mit der liebensw¸rdigsten Freim¸tigkeit von der Welt versicherte sie mir, daï¬ sie herzlich gern deutsch tanze.–“Es ist hier so Mode, “fuhr sie fort,” daï¬ jedes Paar, das zusammen gehËrt, beim Deutschen zusammenbleibt, und mein Chapeau walzt schlecht und dankt mir’s, wenn ich ihm die Arbeit erlasse. Ihr Frauenzimmer kann’s auch nicht und mag nicht, und ich habe im Englischen gesehen, daï¬ Sie gut walzen; wenn Sie nun mein sein wollen f¸rs Deutsche, so gehen Sie und bitten sich’s von meinem Herrn aus, und ich will zu Ihrer Dame gehen”.–ich gab ihr die Hand darauf, und wir machten aus, daï¬ ihr Tâ°nzer inzwischen meine Tâ°nzerin unterhalten sollte.
Nun ging’s an, und wir ergetzten uns eine Weile an manigfaltigen Schlingungen der Arme. Mit welchem Reize, mit welcher Fl¸chtigkeit bewegte sie sich! Und da wir nun gar ans Walzen kamen und wie die Sphâ°ren um einander herumrollten, ging’s freilich anfangs, weil’s die wenigsten kËnnen, ein biï¬chen bunt durcheinander. Wir waren klug und lieï¬en sie austoben, und als die Ungeschicktesten den Plan gerâ°umt hatten, fielen wir ein und hielten mit noch einem Paare, mit Audran und seiner Tâ°nzerin, wacker aus. Nie ist mir’s so leicht vom Flecke gegangen. Ich war kein Mensch mehr. Das liebensw¸rdigste GeschËpf in den Armen zu haben und mit ihr herumzufliegen wie Wetter, daï¬ alles rings umher verging, und–Wilhelm, um ehrlich zu sein, tat ich aber doch den Schwur, daï¬ ein Mâ°dchen, das ich liebte, auf das ich Anspr¸che hâ°tte, mir nie mit einem andern walzen sollte als mit mir, und wenn ich dr¸ber zugrunde gehen m¸ï¬te. Du verstehst mich!
Wir machten einige Touren gehend im Saale, um zu verschnaufen. Dann setzte sie sich, und die Orangen, die ich beiseite gebracht hatte, die nun die einzigen noch ¸brigen waren, taten vortreffliche Wirkung, nur daï¬ mir mit jedem Schnittchen, das sie einer unbescheidenen Nachbarin ehrenhalben zuteilte, ein Stich durchs Herz ging.
Beim dritten englischen Tanz waren wir das zweite Paar. Wie wir die Reihe durchtanzten und ich, weiï¬ Gott mit wieviel Wonne, an ihrem Arm und Auge hing, das voll vom wahrsten Ausdruck des offensten, reinsten Vergn¸gens war, kommen wir an eine Frau, die mit wegen ihrer liebensw¸rdigen Miene auf einem nicht mehr ganz jungen Gesichte merkw¸rdig gewesen war. Sie sieht Lotten lâ°chelnd an, hebt einen drohenden Finger auf und nennt den Namen Albert zweimal im Vorbeifliegen mit viel Bedeutung.
“Wer ist Albert?” sagte ich zu Lotten, “wenn’s nicht Vermessenheit ist zu fragen”.–Sie war im Begriff zu antworten, als wir uns scheiden muï¬ten, um die groï¬e Achte zu machen, und mich d¸nkte einiges Nachdenken auf ihrer Stirn zu sehen, als wir so vor einander vorbeikreuzten.–“Was soll ich’s Ihnen leugnen,” sagte sie, indem sie mir die Hand zur Promenade bot. “Albert ist ein braver Mensch, dem ich so gut als verlobt bin”.–nun war mir das nichts Neues (denn die Mâ°dchen hatten mir’s auf dem Wege gesagt) und war mir doch so ganz neu, weil ich es noch nicht im Verhâ°ltnis auf sie, die mir in so wenig Augenblicken so wert geworden war, gedacht hatte. Genug, ich verwirrte mich, vergaï¬ mich und kam zwischen das unrechte Paar hinein, daï¬ alles drunter und dr¸ber ging und Lottens ganze Gegenwart und Zerren und Ziehen nËtig war, um es schnell wieder in Ordnung zu bringen.
Der Tanz war noch nicht zu Ende, als die Blitze, die wir schon lange am Horizonte leuchten gesehn und die ich immer f¸r Wetterk¸hlen ausgegeben hatte, viel stâ°rker zu werden anfingen und der Donner die Musik ¸berstimmte. Drei Frauenzimmer liefen aus der Reihe, denen ihre Herren folgten; die Unordnung wurde allgemein, und die Musik hËrte auf. Es ist nat¸rlich, wenn uns ein Ungl¸ck oder etwas Schreckliches im Vergn¸gen ¸berrascht, daï¬ es stâ°rkere Eindr¸cke auf uns macht als sonst, teils wegen des Gegensatzes, der sich so lebhaft empfinden lâ°ï¬t, teils und noch mehr, weil unsere Sinne einmal der F¸hlbarkeit geËffnet sind und also desto schneller einen Eindruck annehmen. Diesen Ursachen muï¬ ich die wunderbaren Grimassen zuschreiben, in die ich mehrere Frauenzimmer ausbrechen sah. Die kl¸gste setzte sich in eine Ecke, mit dem R¸cken gegen vor ihr nieder und verbarg den Kopf in der erster Schoï¬. Eine dritte schob sich zwischen beide hinein und umfaï¬te ihre Schwesterchen mit tausend Trâ°nen. Einige wollten nach Hause; andere, die noch weniger wuï¬ten, was sie taten, hatten nicht so viel Besinnungskraft, den Keckheiten unserer jungen Schlucker zu steuern, die sehr beschâ°ftigt zu sein schienen, alle die â°ngstlichen Gebete, die dem Himmel bestimmt waren, von den Lippen der schËnen Bedrâ°ngten wegzufangen. Einige unserer Herren hatten sich hinabbegeben, um ein Pfeifchen in Ruhe zu rauchen; und die ¸brige Gesellschaft schlug es nicht aus, als die Wirtin auf den klugen Einfall kam, uns ein Zimmer anzuweisen, das Lâ°den und Vorhâ°nge hâ°tte. Kaum waren wir da angelangt, als Lotte beschâ°ftigt war, einen Kreis von St¸hlen zu stellen und, als sich die Gesellschaft auf ihre Bitte gesetzt hatte, den Vortrag zu einem Spiele zu tun.
Ich sah manchen, der in Hoffnung auf ein saftiges Pfand sein Mâ°ulchen spitzte und seine Glieder reckte.–“Wir spielen Zâ°hlens!” sagte sie. “Nun gebt acht! Ich geh’ im Kreise herum von der Rechten zur Linken, und so zâ°hlt ihr auch rings herum, jeder die Zahl, die an ihn kommt, und das muï¬ gehen wie ein Lauffeuer, und wer stockt oder sich irrt, kriegt eine Ohrfeige, und so bis tausend”.–nun war das lustig anzusehen: sie ging mit ausgestrecktem Arm im Kreise herum. “Eins”, fing der erste an, der Nachbar “zwei”, “drei” der folgende, und so fort. Dann fing sie an, geschwinder zu gehen, immer geschwinder; da versah’s einer: Patsch! Eine Ohrfeige, und ¸ber das Gelâ°chter der folgende auch: Patsch! Und immer geschwinder. Ich selbst kriegte zwei Maulschellen und glaubte mit innigem Vergn¸gen zu bemerken, daï¬ sie stâ°rker seien, als sie den ¸brigen zuzumessen pflegte. Ein allgemeines Gelâ°chter und Geschwâ°rm endigte das Spiel, ehe noch das Tausend ausgezâ°hlt war. Die Vertrautesten zogen einander beiseite, das Gewitter war vor¸ber, und ich folgte Lotten in den Saal. Unterwegs sagte sie:”¸ber die Ohrfeigen haben sie Wetter und alles vergessen!”–ich konnte ihr nichts antworten.–“ich war”, fuhr sie fort, “eine der Furchtsamsten, und indem ich mich herzhaft stellte, um den andern Mut zu geben, bin ich mutig geworden”.–Wir traten ans Fenster. Es donnerte abseitwâ°rts, und der herrliche Regen sâ°uselte auf das Land, und der erquickendste Wohlgeruch stieg in aller F¸lle einer warmen Luft zu uns auf. Sie stand auf ihren Ellenbogen gest¸tzt, ihr Blick durchdrang die Gegend; sie sah gen Himmel und auf mich, ich sah ihr Auge trâ°nenvoll, sie legte ihre Hand auf die meinige und sagte: “Klopstock!”–Ich erinnerte mich sogleich der herrlichen Ode, die ihr in Gedanken lag, und versank in dem Strome von Empfindungen, den sie in dieser Losung ¸ber mich ausgoï¬. Ich ertrug’s nicht, neigte mich auf ihre Hand und k¸ï¬te sie unter den wonnevollsten Trâ°nen. Und sah nach ihrem Auge wieder–Edler! Hâ°ttest du deine VergËtterung in diesem Blicke gesehen, und mËcht’ ich nun deinen so oft entweihten Namen nie wieder nennen hËren!
Am 19. Junius
Wo ich neulich mit meiner Erzâ°hlung geblieben bin, weiï¬ ich nicht mehr; das weiï¬ ich, daï¬ es zwei Uhr des Nachts war, als ich zu Bette kam, und daï¬, wenn ich dir hâ°tte vorschwatzen kËnnen, statt zu schreiben, ich dich vielleicht bis an den Morgen aufgehalten hâ°tte.
Was auf unserer Hereinfahrt vom Balle geschehen ist, habe ich noch nicht erzâ°hlt, habe auch heute keinen Tag dazu.
Es war der herrlichste Sonnenaufgang. Der trËpfelnde Wald und das erfrischte Feld umher! Unsere Gesellschafterinnen nickten ein. Sie fragte mich, ob ich nicht auch von der Partie sein wollte; ihretwegen sollt’ ich unbek¸mmert sein.–“So lange ich diese Augen offen sehe”, sagte ich und sah sie fest an,”so lange hat’s keine Gefahr”.–Und wir haben beide ausgehalten bis an ihr Tor, da ihr die Magd leise aufmachte und auf ihr Fragen versicherte, daï¬ Vater und Kleine wohl seien und alle noch schliefen. Da verlieï¬ ich sie mit der Bitte, sie selbigen Tags noch sehen zu d¸rfen; sie gestand mir’s zu, und ich bin gekommen–und seit der Zeit kËnnen Sonne, Mond und Sterne geruhig ihre Wirtschaft treiben, ich weiï¬ weder daï¬ Tag noch daï¬ Nacht ist, und die ganze Welt verliert sich um mich her.
Am 21. Junius
Ich lebe so gl¸ckliche Tage, wie sie Gott seinen Heiligen ausspart; und mit mir mag werden was will, so darf ich nicht sagen, daï¬ ich die Freuden, die reinsten Freuden des Lebens nicht genossen habe.–du kennst mein Wahlheim; dort bin ich vËllig etabliert, von da habe ich nur eine halbe Stunde zu Lotten, dort f¸hl’ ich mich selbst und alles Gl¸ck, das dem Menschen gegeben ist.
Hâ°tt’ ich gedacht, als ich mir Wahlheim zum Zwecke meiner Spaziergâ°nge wâ°hlte, daï¬ es so nahe am Himmel lâ°ge! Wie oft habe ich das Jagdhaus, das nun alle meine W¸nsche einschlieï¬t, auf meinen weiten Wanderungen, bald vom Berge, bald von der Ebne ¸ber den Fluï¬ gesehn!
Lieber Wilhelm, ich habe allerlei nachgedacht, ¸ber die Begier im Menschen, sich auszubreiten, neue Entdeckungen zu machen, herumzuschweifen; und dann wieder ¸ber den inneren Trieb, sich der Einschrâ°nkung willig zu ergeben, in dem Gleise der Gewohnheit so hinzufahren und sich weder um Rechts noch um Links zu bek¸mmern.
Es ist wunderbar: wie ich hierher kam und vom H¸gel in das schËne Tal schaute, wie es mich rings umher anzog.–dort das Wâ°ldchen!–ach kËnntest du dich in seine Schatten mischen!–dort die Spitze des Berges!–ach kËnntest du von da die weite Gegend ¸berschauen!–die in einander geketteten H¸gel und vertraulichen Tâ°ler!–o kËnnte ich mich in ihnen verlieren!–ich eilte hin, und kehrte zur¸ck, und hatte nicht gefunden, was ich hoffte. O es ist mit der Ferne wie mit der Zukunft! Ein groï¬es dâ°mmerndes Ganze ruht vor unserer Seele, unsere Empfindung verschwimmt darin wie unser Auge, und wir sehnen uns, ach! Unser ganzes Wesen hinzugeben, uns mit aller Wonne eines einzigen, groï¬en, herrlichen Gef¸hls ausf¸llen zu lassen.–und ach! Wenn wir hinzueilen, wenn das Dort nun Hier wird, ist alles vor wie nach, und wir stehen in unserer Armut, in unserer Eingeschrâ°nktheit, und unsere Seele lechzt nach entschl¸pftem Labsale.
So sehnt sich der unruhigste Vagabund zuletzt wieder nach seinem Vaterlande und findet in seiner H¸tte, an der Brust seiner Gattin, in dem Kreise seiner Kinder, in den Geschâ°ften zu ihrer Erhaltung die Wonne, die er in der weiten Welt vergebens suchte.
Wenn ich des Morgens mit Sonnenaufgange hinausgehe nach meinem Wahlheim und dort im Wirtsgarten mir meine Zuckererbsen selbst pfl¸cke, mich hinsetze, sie abfâ°dne und dazwischen in meinem Homer lese; wenn ich in der kleinen K¸che mir einen Topf wâ°hle, mir Butter aussteche, Schoten ans Feuer stelle, zudecke und mich dazusetze, sie manchmal umzusch¸tteln: da f¸hl’ ich so lebhaft, wie die ¸berm¸tigen Freier der Penelope Ochsen und Schweine schlachten, zerlegen und braten. Es ist nichts, das mich so mit einer stillen, wahren Empfindung ausf¸llte als die Z¸ge patriarchalischen Lebens, die ich, Gott sei Dank, ohne Affektation in meine Lebensart verweben kann.
Wie wohl ist mir’s, daï¬ mein Herz die simple, harmlose Wonne des Menschen f¸hlen kann, der ein Krauthaupt auf seinen Tisch bringt, das er selbst gezogen, und nun nicht den Kohl allein, sondern all die guten Tage, den schËnen Morgen, da er ihn pflanzte, die lieblichen Abende, da er ihn begoï¬, und da er an dem fortschreitenden Wachstum seine Freude hatte, alle in einem Augenblicke wieder mitgenieï¬t.
Am 29. Junius
Vorgestern kam der Medikus hier aus der Stadt hinaus zum Amtmann und fand mich auf der Erde unter Lottens Kindern, wie einige auf mir herumkrabbelten, andere mich neckten, und wie ich sie kitzelte und ein groï¬es Geschrei mit ihnen erregte. Der Doktor, der eine sehr dogmatische Drahtpuppe ist, unterm Reden seine Manschetten in Falten legt und einen Krâ°usel ohne Ende herauszupft, fand dieses unter der W¸rde eines gescheiten Menschen; das merkte ich an seiner Nase. Ich lieï¬ mich aber in nichts stËren, lieï¬ ihn sehr vern¸nftige Sachen abhandeln und baute den Kindern ihre Kartenhâ°user wieder, die sie zerschlagen hatten. Auch ging er darauf in der Stadt herum und beklagte, des Amtmanns Kinder wâ°ren so schon ungezogen genug, der Werther verderbe sie nun vËllig.
Ja, lieber Wilhelm, meinem Herzen sind die Kinder am nâ°chsten auf der Erde. Wenn ich ihnen zusehe und in dem kleinen Dinge die Keime aller Tugenden, aller Krâ°fte sehe, die sie einmal so nËtig brauchen werden; wenn ich in dem Eigensinne k¸nftige Standhaftigkeit und Festigkeit des Charakters, in dem Mutwillen guten Humor und Leichtigkeit, ¸ber die Gefahren der Welt hinzuschl¸pfen, erblicke, alles so unverdorben, so ganz!–immer, immer wiederhole ich dann die goldenen Worte des Lehrers der Menschen:”wenn ihr nicht werdet wie eines von diesen!” und nun, mein Bester, sie, die unseresgleichen sind, die wir als unsere Muster ansehen sollten, behandeln wir als Untertanen. Sie sollen keinen Willen haben!–haben wir denn keinen? Und wo liegt das Vorrecht?–weil wir â°lter sind und gescheiter!–guter Gott von deinem Himmel, alte Kinder siehst du und junge Kinder, und nichts weiter; und an welchen du mehr Freude hast, das hat dein Sohn schon lange verk¸ndigt. Aber sie glauben an ihn und hËren ihn nicht–das ist auch was Altes!–und bilden ihre Kinder nach sich und–Adieu, Wilhelm! Ich mag dar¸ber nicht weiter radotieren.
Am 1. Julius
Was Lotte einem Kranken sein muï¬, f¸hl’ ich an meinem eigenen Herzen, das ¸bler dran ist als manches, das auf dem Siechbette verschmachtet. Sie wird einige Tage in der Stadt bei einer rechtschaffnen Frau zubringen, die sich nach der Aussage der Ærzte ihrem Ende naht und in diesen letzten Augenblicken Lotten um sich haben will. Ich war vorige Woche mir ihr, den Pfarrer von St. zu besuchen; ein ÷rtchen, das eine Stunde seitwâ°rts im Gebirge liegt. Wir kamen gegen vier dahin. Lotte hatte ihre zweite Schwester mitgenommen. Als wir in den mit zwei hohen Nuï¬bâ°umen ¸berschatteten Pfarrhof traten, saï¬ der gute alte Mann auf einer Bank vor der Haust¸r, und da er Lotten sah, ward er wie neu belebt, vergaï¬ seinen Knotenstock und wagte sich auf, ihr entgegen. Sie lief hin zu ihm, nËtigte ihn sich niederzulassen, indem sie sich zu ihm setzte, brachte viele Gr¸ï¬e von ihrem Vater, herzte seinen garstigen, schmutzigen j¸ngsten Buben, das Quakelchen seines Alters. Du hâ°ttest sie sehen sollen, wie sie den Alten beschâ°ftigte, wie sie ihre Stimme erhob, um seinen halb tauben Ohren vernehmlich zu werden, wie sie ihm von jungen, robusten Leuten erzâ°hlte, die unvermutet gestorben wâ°ren, von der Vortrefflichkeit des Karlsbades, und wie sie seinen Entschluï¬ lobte, k¸nftigen Sommer hinzugehen, wie sie fand, daï¬ er viel besser aussâ°he, viel munterer sei als das letztemal, da sie ihn gesehn.–ich hatte indes der Frau Pfarrerin meine HËflichkeiten gemacht. Der Alte wurde ganz munter, und da ich nicht umhin konnte, die schËnen Nuï¬bâ°ume zu loben, die uns so lieblich beschatteten, fing er an, uns, wiewohl mit einiger Beschwerlichkeit, die Geschichte davon zu geben.–“den alten”, sagte er,”wissen wir nicht, wer den gepflanzt hat; einige sagen dieser, andere jener Pfarrer. Der j¸ngere aber dort hinten ist so alt als meine Frau, im Oktober funfzig Jahr. Ihr Vater pflanzte ihn des Morgens, als sie gegen Abend geboren wurde. Er war mein Vorfahr im Amt, und wie lieb ihm der Baum war, ist nicht zu sagen; mir ist er’s gewiï¬ nicht weniger. Meine Frau saï¬ darunter auf einem Balken und strickte, da ich vor siebenundzwanzig Jahren als ein armer Student zum erstenmale hier in den Hof kam”.–Lotte fragte nach seiner Tochter; es hieï¬, sie sei mit Herrn Schmidt auf die Wiese hinaus zu den Arbeitern, und der Alte fuhr in seiner Erzâ°hlung fort: wie sein Vorfahr ihn liebgewonnen und die Tochter dazu, und wie er erst sein Vikar und dann sein Nachfolger geworden. Die Geschichte war nicht lange zu Ende, als die Jungfer Pfarrerin mit dem sogenannten Herrn Schmidt durch den Garten herkam: sie bewillkommte Lotten mit herzlicher Wâ°rme, und ich muï¬ sagen, sie gefiel mir nicht ¸bel; eine rasche, wohlgewachsene Br¸nette, die einen die kurze Zeit ¸ber auf dem Lande wohl unterhalten hâ°tte. Ihr Liebhaber (denn als solchen stellte sich Herr Schmidt gleich dar), ein feiner, doch stiller Mensch, der sich nicht in unsere Gesprâ°che mischen wollte, ob ihn gleich Lotte immer hereinzog. Was mich am meisten betr¸bte, war, daï¬ ich an seinen Gesichtsz¸gen zu bemerken schien, es sei mehr Eigensinn und ¸bler Humor als Eingeschrâ°nktheit des Verstandes, der ihn sich mitzuteilen hinderte. In der Folge ward dies leider nur zu deutlich; denn als Friederike beim Spazierengehen mit Lotten und gelegentlich auch mit mir ging, wurde des Herrn Angesicht, das ohnedies einer brâ°unlichen Farbe war, so sichtlich verdunkelt, daï¬ es Zeit war, daï¬ Lotte mich beim Ærmel zupfte und mir zu verstehn gab, daï¬ ich mit Friederiken zu artig getan. Nun verdrieï¬t mich nichts mehr, als wenn die Menschen einander plagen, am meisten, wenn junge Leute in der Bl¸te des Lebens, da sie am offensten f¸r alle Freuden sein kËnnten, einander die paar guten Tage mit Fratzen verderben und nur erst zu spâ°t das Unersetzliche ihrer Verschwendung einsehen. Mich wurmte das, und ich konnte nicht umhin, da wir gegen Abend in den Pfarrhof zur¸ckkehrten und an einem Tische Milch aï¬en und das Gesprâ°ch auf Freude und Leid der Welt sich wendete, den Faden zu ergreifen und recht herzlich gegen die ¸ble Laune zu reden.–“wir Menschen beklagen uns oft”, fing ich an, “daï¬ der guten Tage so wenig sind und der schlimmen so viel, und, wie mich d¸nkt, meist mit Unrecht. Wenn wir immer ein offenes Herz hâ°tten, das Gute zu genieï¬en, das uns Gott f¸r jeden Tag bereitet, wir w¸rden alsdann auch Kraft genug haben, das â¹bel zu tragen, wenn es kommt”. –“Wir haben aber unser Gem¸t nicht in unserer Gewalt”, versetzte die Pfarrerin, “wie viel hâ°ngt vom KËrper ab! Wenn einem nicht wohl ist, ist’s einem ¸berall nicht recht”.–Ich gestand ihr das ein.–“Wir wollen es also”, fuhr ich fort,”als eine Krankheit ansehen und fragen, ob daf¸r kein Mittel ist?”–“Das lâ°ï¬t sich hËren”, sagte Lotte, “ich glaube wenigstens, daï¬ viel von uns abhâ°ngt. Ich weiï¬ es an mir. Wenn mich etwas neckt und mich verdrieï¬lich machen will, spring’ ich auf und sing’ ein paar Contretâ°nze den Garten auf und ab, gleich ist’s weg”.–“das war’s, was ich sagen wollte,”versetzte ich,”es ist mit der ¸blen Laune vËllig wie mit der Trâ°gheit, denn es ist eine Art von Trâ°gheit. Unsere Natur hâ°ngt sehr dahin, und doch, wenn wir nur einmal die Kraft haben, uns zu ermannen, geht uns die Arbeit frisch von der Hand, und wir finden in der Tâ°tigkeit ein wahres Vergn¸gen”. –Friederike war sehr aufmerksam, und der junge Mensch wandte mir ein, daï¬ man nicht Herr ¸ber sich selbst sei und am wenigsten ¸ber seine Empfindungen gebieten kËnne.–“es ist hier die Frage von einer unangenehmen Empfindung”, versetzte ich, “die doch jedermann gerne los ist; und niemand weiï¬, wie weit seine Krâ°fte gehen, bis er sie versucht hat. Gewiï¬, wer krank ist, wird bei allen Ærzten herumfragen, und die grËï¬ten Resignationen, die bittersten Arzeneien wird er nicht abweisen, um seine gew¸nschte Gesundheit zu erhalten”.–ich bemerkte, daï¬ der ehrliche Alte sein GehËr anstrengte, um an unserm Diskurse teilzunehmen, ich erhob die Stimme, indem ich die Rede gegen ihn wandte”. Man predigt gegen so viele Laster”, sagte ich, “ich habe noch nie gehËrt, daï¬ man gegen die ¸ble Laune vom Predigtstuhle gearbeitet hâ°tte.–“Das m¸ï¬ten die Stadtpfarrer tun”, sagte er, “die Bauern haben keinen bËsen Humor; doch kËnnte es auch zuweilen nicht schaden, es wâ°re eine Lektion f¸r seine Frau wenigstens und f¸r den Herrn Amtmann”.–Die Gesellschaft lachte, und er herzlich mit, bis er in einen Husten verfiel, der unsern Diskurs eine Zeitlang unterbrach; darauf denn der junge Mensch wieder das Wort nahm: “Sie nannten den bËsen Humor ein Laster; mich deucht, das ist ¸bertrieben”.–“Mit nichten”, gab ich zur Antwort, “wenn das, womit man sich selbst und seinem Nâ°chsten schadet, diesen Namen verdient. Ist es nicht genug, daï¬ wir einander nicht gl¸cklich machen kËnnen, m¸ssen wir auch noch einander das Vergn¸gen rauben, das jedes Herz sich noch manchmal selbst gewâ°hren kann? Und nennen Sie mir den Menschen, der ¸bler Laune ist und so brav dabei, sie zu verbergen, sie allein zu tragen, ohne die Freude um sich her zu zerstËren! Oder ist sie nicht vielmehr ein innerer Unmut ¸ber unsere eigene Unw¸rdigkeit, ein Miï¬fallen an uns selbst, das immer mit einem Neide verkn¸pft ist, der durch eine tËrichte Eitelkeit aufgehetzt wird? Wir sehen gl¸ckliche Menschen, die wir nicht gl¸cklich machen, und das ist unertrâ°glich”.–Lotte lâ°chelte mich an, da sie die Bewegung sah, mit der ich redete, und eine Trâ°ne in Friederikens Auge spornte mich fortzufahren.–“Wehe denen”, sagte ich, “die sich der Gewalt bedienen, die sie ¸ber ein Herz haben, um ihm die einfachen Freuden zu rauben, die aus ihm selbst hervorkeimen. Alle Geschenke, alle Gefâ°lligkeiten der Welt ersetzen nicht einen Augenblick Vergn¸gen an sich selbst, den uns eine neidische Unbehaglichkeit unsers Tyrannen vergâ°llt hat”.
Mein ganzes Herz war voll in diesem Augenblicke; die Erinnerung so manches Vergangenen drâ°ngte sich an meine Seele, und die Trâ°nen kamen mir in die Augen.
“Wer sich das nur tâ°glich sagte”,rief ich aus,”du vermagst nichts auf deine Freunde, als ihnen ihre Freuden zu lassen und ihr Gl¸ck zu vermehren, indem du es mit ihnen genieï¬est. Vermagst du, wenn ihre innere Seele von einer â°ngstigenden Leidenschaft gequâ°lt, vom Kummer zerr¸ttet ist, ihnen einen Tropfen Linderung zu geben?
Und wenn die letzte, bangste Krankheit dann ¸ber das GeschËpf herfâ°llt, das du in bl¸henden Tagen untergraben hast, und sie nun daliegt in dem erbâ°rmlichsten Ermatten, das Auge gef¸hllos gen Himmel sieht, der Todesschweiï¬ auf der blassen Stirne abwechselt, und du vor dem Bette stehst wie ein Verdammter, in dem innigsten Gef¸hl, daï¬ du nichts vermagst mit deinem ganzen VermËgen, und die Angst dich inwendig krampft, daï¬ du alles hingeben mËchtest, dem untergehenden GeschËpfe einen Tropfen Stâ°rkung, einen Funken Mut einflËï¬en zu kËnnen”.
Die Erinnerung einer solchen Szene, wobei ich gegenwâ°rtig war, fiel mit ganzer Gewalt bei diesen Worten ¸ber mich. Ich nahm das Schnupftuch vor die Augen und verlieï¬ die Gesellschaft, und nur Lottens Stimme, die mir rief, wir wollten fort, brachte mich zu mir selbst. Und wie sie mich auf dem Wege schalt ¸ber den zu warmen Anteil an allem, und daï¬ ich dr¸ber zugrunde gehen w¸rde! Daï¬ ich mich schonen sollte!–O der Engel! Um deinetwillen muï¬ ich leben!
Am 6. Julius
Sie ist immer um ihre sterbende Freundin, und ist immer dieselbe, immer das gegenwâ°rtige, holde GeschËpf, das, wo sie hinsieht, Schmerzen lindert und Gl¸ckliche macht. Sie ging gestern abend mit Marianen und dem kleinen Malchen spazieren, ich wuï¬te es und traf sie an, und wir gingen zusammen. Nach einem Wege von anderthalb Stunden kamen wir gegen die Stadt zur¸ck, an den Brunnen, der mir so wert und nun tausendmal werter ist. Lotte setzte sich aufs Mâ°uerchen, wir standen vor ihr. Ich sah umher, ach, und die Zeit, da mein Herz so allein war, lebte wieder vor mir auf.–“Lieber Brunnen”, sagte ich, “seither hab’ ich nicht mehr an deiner K¸hle geruht, hab’ in eilendem Vor¸bergehn dich manchmal nicht angesehn”.–Ich blickte hinab und sah, daï¬ Malchen mit einem Glase Wasser sehr beschâ°ftigt heraufstieg.–Ich sah Lotten an und f¸hlte alles, was ich an ihr habe. Indem kommt Malchen mit einem Glase. Mariane wollt’ es ihr abnehmen: “nein!” rief das Kind mit dem s¸ï¬esten Ausdrucke,”nein, Lottchen, du sollst zuerst trinken!”–ich ward ¸ber die Wahrheit, ¸ber die G¸te, womit sie das ausrief, so entz¸ckt, daï¬ ich meine Empfindung mit nichts ausdr¸cken konnte, als ich nahm das Kind von der Erde und k¸ï¬te es lebhaft, das sogleich zu schreien und zu weinen anfing.–“Sie haben ¸bel getan”, sagte Lotte.–Ich war betroffen.–“komm, Malchen, “fuhr sie fort, indem sie es bei der Hand nahm und die Stufen hinabf¸hrte, “da wasche dich aus der frischen Quelle geschwind, geschwind, da tut’s nichts”.–Wie ich so dastand und zusah, mit welcher Emsigkeit das Kleine seinen nassen Hâ°ndchen die Backen rieb, mit welchem Glauben, daï¬ durch die Wunderquelle alle Verunreinigung abgesp¸lt und die Schmach abgetan w¸rde, einen hâ°ï¬lichen Bart zu kriegen; wie Lotte sagte: “es ist genug!” und das Kind doch immer eifrig fortwusch, als wenn Viel mehr tâ°te als Wenig–ich sage dir, Wilhelm, ich habe mit mehr Respekt nie einer Taufhandlung beigewohnt; und als Lotte heraufkam, hâ°tte ich mich gern vor ihr niedergeworfen wie vor einem Propheten, der die Schulden einer Nation weggeweiht hat.
Des Abends konnte ich nicht umhin, in der Freude meines Herzens den Vorfall einem Manne zu erzâ°hlen, dem ich Menschensinn zutraute, weil er Verstand hat; aber wie kam ich an! Er sagte, das sei sehr ¸bel von Lotten gewesen; man solle den Kindern nichts weis machen; dergleichen gebe zu unzâ°hligen Irrt¸mern und Aberglauben Anlaï¬, wovor man die Kinder fr¸hzeitig bewahren m¸sse.–nun fiel mir ein, daï¬ der Mann vor acht Tagen hatte taufen lassen, drum lieï¬ ich’s vorbeigehen und blieb in meinem Herzen der Wahrheit getreu: wir sollen es mit den Kindern machen wie Gott mit uns, der uns am gl¸cklichsten macht, wenn er uns in freundlichem Wahne so hintaumeln lâ°ï¬t.
Am 8. Julius
Was man ein Kind ist! Was man nach so einem Blicke geizt! Was man ein Kind ist!–Wir waren nach Wahlheim gegangen. Die Frauenzimmer fuhren hinaus, und wâ°hrend unserer Spaziergâ°nge glaubte ich in Lottens schwarzen Augen–ich bin ein Tor, verzeih mir’s! Du solltest sie sehen, diese Augen.–Daï¬ ich kurz bin (denn die Augen fallen mir zu vor Schlaf): siehe, die Frauenzimmer stiegen ein, da standen um die Kutsche der junge W., Selstadt und Audran und ich. Da ward aus dem Schlage geplaudert mit den Kerlchen, die freilich leicht und l¸ftig genug waren.–ich suchte Lottens Augen: ach, sie gingen von einem zum andern! Aber auf mich! Mich! Mich! Der ganz allein auf sie resigniert dastand, fielen sie nicht!–Mein Herz sagte ihr tausend Adieu! Und sie sah mich nicht! Die Kutsche fuhr vorbei, und eine Trâ°ne stand mir im Auge. Ich sah ihr nach und sah Lottens Kopfputz sich zum Schlage herauslehnen, und sie wandte sich um zu sehen, ach! Nach mir?–Lieber! In dieser Ungewiï¬heit schwebe ich; das ist mein Trost: vielleicht hat sie sich nach mir umgesehen! Vielleicht!–Gute Nacht! O, was ich ein Kind bin!
Am 10. Julius
Die alberne Figur, die ich mache, wenn in Gesellschaft von ihr gesprochen wird, solltest du sehen! Wenn man mich nun gar fragt, wie sie mir gefâ°llt?–gefâ°llt! Das Wort hasse ich auf den Tod. Was muï¬ das f¸r ein Mensch sein, dem Lotte gefâ°llt, dem sie nicht alle Sinne, alle Empfindungen ausf¸llt! Gefâ°llt! Gefâ°llt! Neulich fragte mich einer, wie mir Ossian gefiele!
Am 11. Julius
Frau M. ist sehr schlecht; ich bete f¸r ihr Leben, weil ich mit Lotten dulde. Ich sehe sie selten bei einer Freundin, und heute hat sie mir einen wunderbaren Vorfall erzâ°hlt.–der alte M. ist ein geiziger, rangiger Filz, der seine Frau im Leben was Rechts geplagt und eingeschrâ°nkt hat; doch hat sich die Frau immer durchzuhelfen gewuï¬t. Vor wenigen Tagen, als der Arzt ihr das Leben abgesprochen hatte, lieï¬ sie ihren Mann kommen (Lotte war im Zimmer) und redete ihn also an: “ich muï¬ dir eine Sache gestehen, die nach meinem Tode Verwirrung und Verdruï¬ machen kËnnte. Ich habe bisher die Haushaltung gef¸hrt, so ordentlich und sparsam als mËglich; allein du wirst mir verzeihen, daï¬ ich dich diese dreiï¬ig Jahre her hintergangen habe. Du bestimmtest im Anfange unserer Heirat ein Geringes f¸r die Bestreitung der K¸che und anderer hâ°uslichen Ausgaben. Als unsere Haushaltung stâ°rker wurde, unser Gewerbe grËï¬er, warst du nicht zu bewegen, mein Wochengeld nach dem Verhâ°ltnisse zu vermehren; kurz, du weiï¬t, daï¬ du in den Zeiten, da sie am grËï¬ten war, verlangtest, ich solle mit sieben Gulden die Woche auskommen.
Die habe ich denn ohne Widerrede genommen und mir den â¹berschuï¬ wËchentlich aus der Losung geholt, da niemand vermutete, daï¬ die Frau die Kasse bestehlen w¸rde. Ich habe nichts verschwendet und wâ°re auch, ohne es zu bekennen, getrost der Ewigkeit entgegengegangen, wenn nicht diejenige, die nach mir das Hauswesen zu f¸hren hat, sich nicht zu helfen wissen w¸rde, und du doch immer darauf bestehen kËnntest, deine erste Frau sei damit ausgekommen”.
Ich redete mit Lotten ¸ber die unglaubliche Verblendung des Menschensinns, daï¬ einer nicht argwohnen soll, dahinter m¸sse was anders stecken, wenn eins mit sieben Gulden hinreicht, wo man den Aufwand vielleicht um zweimal so viel sieht. Aber ich habe selbst Leute gekannt, die des Propheten ewiges ÷lkr¸glein ohne Verwunderung in ihrem Hause angenommen hâ°tten.
Am 13. Julius
Nein, ich betr¸ge mich nicht! Ich lese in ihren schwarzen Augen wahre Teilnehmung an mir und meinem Schicksal. Ja ich f¸hle, und darin darf ich meinem Herzen trauen, daï¬ sie–o darf ich, kann ich den Himmel in diesen Worten aussprechen?–daï¬ sie mich liebt!
Mich liebt!–und wie wert ich mir selbst werde, wie ich–dir darf ich’s wohl sagen, du hast Sinn f¸r so etwas–wie ich mich selbst anbete, seitdem sie mich liebt!
Ob das Vermessenheit ist oder Gef¸hl des wahren Verhâ°ltnisses?–ich kenne den Menschen nicht, von dem ich etwas in Lottens Herzen f¸rchtete. Und doch–wenn sie von ihrem Brâ°utigam spricht, mit solcher Wâ°rme, solcher Liebe von ihm spricht–da ist mir’s wie einem, der aller seiner Ehren und W¸rden entsetzt und dem der Degen genommen wird.
Am 16. Julius
Ach wie mir das durch alle Adern lâ°uft, wenn mein Finger unversehens den ihrigen ber¸hrt, wenn unsere F¸ï¬e sich unter dem Tische begegnen! Ich ziehe zur¸ck wie vom Feuer, und eine geheime Kraft zieht mich wieder vorwâ°rts–mir wird’s so schwindelig vor allen Sinnen.–O! Und ihre Unschuld, ihre unbefangene Seele f¸hlt nicht, wie sehr mich die kleinen Vertraulichkeiten peinigen. Wenn sie gar im Gesprâ°ch ihre Hand auf die meinige legt und im Interesse der Unterredung nâ°her zu mir r¸ckt, daï¬ der himmlische Atem ihres Mundes meine Lippen erreichen kann:–ich glaube zu versinken, wie vom Wetter ger¸hrt.–und, Wilhelm! Wenn ich mich jemals unterstehe, diesen Himmel, dieses Vertrauen–! Du verstehst mich. Nein, mein Herz ist so verderbt nicht! Schwach! Schwach genug!–und ist das nicht Verderben?–sie ist mir heilig. Alle Begier schweigt in ihrer Gegenwart. Ich weiï¬ nie, wie mir ist, wenn ich bei ihr bin; es ist, als wenn die Seele sich mir in allen Nerven umkehrte.–sie hat eine Melodie, die sie auf dem Klaviere spielet mit der Kraft eines Engels, so simpel und so geistvoll! Es ist ihr Leiblied, und mich stellt es von aller Pein, Verwirrung und Grillen her, wenn sie nur die erste Note davon greift.
Kein Wort von der Zauberkraft der alten Musik ist mir unwahrscheinlich. Wie mich der einfache Gesang angreift! Und wie sie ihn anzubringen weiï¬, oft zur Zeit, wo ich mir eine Kugel vor den Kopf schieï¬en mËchte! Die Irrung und Finsternis meiner Seele zerstreut sich, und ich atme wieder freier.
Am 18. Julius
Wilhelm, was ist unserem Herzen die Welt ohne Liebe! Was eine Zauberlaterne ist ohne Licht! Kaum bringst du das Lâ°mpchen hinein, so scheinen dir die buntesten Bilder an deine weiï¬e Wand! Und wenn’s nichts wâ°re als das, als vor¸bergehende Phantome, so macht’s doch immer unser Gl¸ck, wenn wir wie frische Jungen davor stehen und uns ¸ber die Wundererscheinungen entz¸cken. Heute konnte ich nicht zu Lotten, eine unvermeidliche Gesellschaft hielt mich ab. Was war zu tun? Ich schickte meinen Diener hinaus, nur um einen Menschen um mich zu haben, der ihr heute nahe gekommen wâ°re. Mit welcher Ungeduld ich ihn erwartete, mit welcher Freude ich ihn wiedersah! Ich hâ°tte ihn gern beim Kopfe genommen und gek¸ï¬t, wenn ich mich nicht geschâ°mt hâ°tte.
Man erzâ°hlt von dem Bononischen Steine, daï¬ er, wenn man ihn in die Sonne legt, ihre Strahlen anzieht und eine Weile bei Nacht leuchtet. So war mir’s mit dem Burschen. Das Gef¸hl, daï¬ ihre Augen auf seinem Gesichte, seinen Backen, seinen RockknËpfen und dem Kragen am Surtout geruht hatten, machte mir das alles so heilig, so wert! Ich hâ°tte in dem Augenblick den Jungen nicht um tausend Taler gegeben. Es war mir so wohl in seiner Gegenwart.–bewahre dich Gott, daï¬ du dar¸ber lachest. Wilhelm, sind das Phantome, wenn es uns wohl ist?
Den 19. Julius
“Ich werde sie sehen!” ruf’ ich morgens aus, wenn ich mich ermuntere und mit aller Heiterkeit der schËnen Sonne entgegenblicke; “ich werde sie sehen!” und da habe ich f¸r den ganzen Tag keinen Wunsch weiter. Alles, alles verschlingt sich in dieser Aussicht.
Eure Idee will noch nicht die meinige werden, daï¬ ich mit dem Gesandten nach *** gehen soll. Ich liebe die Subordination nicht sehr, und wir wissen alle, daï¬ der Mann noch dazu ein widriger Mensch ist. Meine Mutter mËchte mich gern in Aktivitâ°t haben, sagst du, das hat mich zu lachen gemacht. Bin ich jetzt nicht auch aktiv, und ist’s im Grunde nicht einerlei, ob ich Erbsen zâ°hle oder Linsen? Alles in der Welt lâ°uft doch auf eine Lumperei hinaus, und ein Mensch, der um anderer willen, ohne daï¬ es seine eigene Leidenschaft, sein eigenes Bed¸rfnis ist, sich um Geld oder Ehre oder sonst was abarbeitet, ist immer ein Tor.
Am 24. Julius
Da dir so sehr daran gelegen ist, daï¬ ich mein Zeichnen nicht vernachlâ°ssige, mËchte ich lieber die ganze Sache ¸bergehen als dir sagen, daï¬ zeither wenig getan wird.
Noch nie war ich gl¸cklicher, noch nie war meine Empfindung an der Natur, bis aufs Steinchen, aufs Grâ°schen herunter, voller und inniger, und doch–ich weiï¬ nicht, wie ich mich ausdr¸cken soll, meine vorstellende Kraft ist so schwach, alles schwimmt und schwankt so vor meiner Seele, daï¬ ich keinen Umriï¬ packen kann; aber ich bilde mir ein, wenn ich Ton hâ°tte oder Wachs, so wollte ich’s wohl herausbilden. Ich werde auch Ton nehmen, wenn’s lâ°nger wâ°hrt, und kneten, uns sollten’s Kuchen werden!
Lottens Portrâ°t habe ich dreimal angefangen, und habe mich dreimal prostituiert; das mich um so mehr verdrieï¬t, weil ich vor einiger Zeit sehr gl¸cklich im Treffen war. Darauf habe ich denn ihren Schattenriï¬ gemacht, und damit soll mir g’n¸gen.
Ja, liebe Lotte, ich will alles besorgen und bestellen; geben Sie mir nur mehr Auftrâ°ge, nur recht oft. Um eins bitte ich Sie: keinen Sand mehr auf die Zettelchen, die Sie mir schreiben. Heute f¸hrte ich es schnell nach der Lippe, und die Zâ°hne knisterten mir.
Am 26. Julius
Ich habe mir schon manchmal vorgenommen, sie nicht so oft zu sehn. Ja wer das halten kËnnte! Alle Tage unterlieg’ ich der Versuchung und verspreche mir heilig: morgen willst du einmal wegbleiben. Und wenn der Morgen kommt, finde ich doch wieder eine unwiderstehliche Ursache, und ehe ich mich’s versehe, bin ich bei ihr. Entweder sie hat des Abends gesagt: “Sie kommen doch morgen?”–wer kËnnte da wegbleiben? Oder sie gibt mir einen Auftrag, und ich finde schicklich, ihr selbst die Antwort zu bringen; oder der Tag ist gar zu schËn, ich gehe nach Wahlheim, und wenn ich nun da bin, ist’s nur noch eine halbe Stunde zu ihr!–ich bin zu nah in der Atmosphâ°re–zuck! So bin ich dort. Meine Groï¬mutter hatte ein Mâ°rchen vom Magnetenberg: die Schiffe, die zu nahe kamen, wurden auf einmal alles Eisenwerks beraubt, die Nâ°gel flogen dem Berge zu, und die armen Elenden scheiterten zwischen den ¸bereinander st¸rzenden Brettern.
Am 30. Julius
Albert ist angekommen, und ich werde gehen; und wenn er der beste, der edelste Mensch wâ°re, unter den ich mich in jeder Betrachtung zu stellen bereit wâ°re, so wâ°r’s unertrâ°glich, ihn vor meinem Angesicht im Besitz so vieler Vollkommenheit zu sehen.–Besitz!–genug, Wilhelm, der Brâ°utigam ist da! Ein braver, lieber Mann, dem man gut sein muï¬. Gl¸cklicherweise war ich nicht beim Empfange! Das hâ°tte mir das Herz zerrissen. Auch ist er so ehrlich und hat Lotten in meiner Gegenwart noch nicht ein einzigmal gek¸ï¬t. Das lohn’ ihm Gott! Um des Respekts willen, den er vor dem Mâ°dchen hat, muï¬ ich ihn lieben. Er will mir wohl, und ich vermute, das ist Lottens Werk mehr als seiner eigenen Empfindung; denn darin sind die Weiber fein und haben recht; wenn sie zwei Verehrer in gutem Vernehmen mit einander erhalten kËnnen, ist der Vorteil immer ihr, so selten es auch angeht.
Indes kann ich Alberten meine Achtung nicht versagen. Seine gelassene Auï¬enseite sticht gegen die Unruhe meines Charakters sehr lebhaft ab, die sich nicht verbergen lâ°ï¬t. Er hat viel Gef¸hl und weiï¬, was er an Lotten hat. Erscheint wenig ¸ble Laune zu haben, und du weiï¬t, das ist die S¸nde, die ich â°rger hasse am Menschen als alle andre.
Er hâ°lt mich f¸r einen Menschen von Sinn; und meine Anhâ°nglichkeit zu Lotten, meine warme Freude, die ich an allen ihren Handlungen habe, vermehrt seinen Triumph, und er liebt sie nur desto mehr. Ob er sie nicht einmal mit keiner Eifers¸chtelei peinigt, das lasse ich dahingestellt sein, wenigstens w¸rd’ ich an seinem Platz nicht ganz sicher vor diesem Teufel bleiben.
Dem sei nun wie ihm wolle, meine Freude, bei Lotten zu sein, ist hin. Soll ich das Torheit nennen oder Verblendung?–was braucht’s Namen! Erzâ°hlt die Sache an sich!–ich wuï¬te alles, was ich jetzt weiï¬, ehe Albert kam; ich wuï¬te, daï¬ ich keine Prâ°tension an sie zu machen hatte, machte auch keine–das heiï¬t, insofern es mËglich ist, bei so viel Liebensw¸rdigkeit nicht zu begehren–und jetzt macht der Fratze groï¬e Augen, da der andere nun wirklich kommt und ihm das Mâ°dchen wegnimmt.
Ich beiï¬e die Zâ°hne auf einander und spott ¸ber mein Elend, und spottete derer doppelt und dreifach, die sagen kËnnten, ich sollte mich resignieren, und weil es nun einmal nicht anders sein kËnnte. –schafft mir diese Strohmâ°nner vom Halse!–ich laufe in den Wâ°ldern herum, und wenn ich zu Lotten komme, und Albert bei ihr sitzt im Gâ°rtchen unter der Laube, und ich nicht weiter kann, so bin ich ausgelassen nâ°rrisch und fange viel Possen, viel verwirrtes Zeug an. –“um Gottes willen”, sagte mir Lotte heut, “ich bitte Sie, keine Szene wie die von gestern abend! Sie sind f¸rchterlich, wenn Sie so lustig sind”.–Unter uns, ich passe die Zeit ab, wenn er zu tun hat; wutsch! Bin ich drauï¬, und da ist mir’s immer wohl, wenn ich sie allein finde.
Am 8. August
Ich bitte dich, lieber Wilhelm, es war gewiï¬ nicht auf dich geredet, wenn ich die Menschen unertrâ°glich schalt, die von uns Ergebung in unvermeidliche Schicksale fordern. Ich dachte wahrlich nicht daran, daï¬ du von â°hnlicher Meinung sein kËnntest. Und im Grunde hast du recht. Nur eins, mein Bester! In der Welt ist es sehr selten mit dem Entweder-Oder getan; die Empfindungen und Handlungsweisen schattieren sich so mannigfaltig, als Abfâ°lle zwischen einer Habichts–und Stumpfnase sind.
Du wirst mir also nicht ¸belnehmen, wenn ich dir dein ganzes Argument einrâ°ume und mich doch zwischen dem Entweder-Oder durchzustehlen suche.
Entweder, sagst du, hast du Hoffnung auf Lotten, oder du hast keine. Gut, im ersten Fall suche sie durchzutreiben, suche die Erf¸llung deiner W¸nsche zu umfassen: im anderen Fall ermanne dich und suche einer elenden Empfindung los zu werden, die alle deine Krâ°fte verzehren muï¬.–Bester! Das ist wohl gesagt, und–bald gesagt.
Und kannst du von dem Ungl¸cklichen, dessen Leben unter einer schleichenden Krankheit unaufhaltsam allmâ°hlich abstirbt, kannst du von ihm verlangen, er solle durch einen Dolchstoï¬ der Qual auf einmal ein Ende machen? Und raubt das â¹bel, das ihm die Krâ°fte verzehrt, ihm nicht auch zugleich den Mut, sich davon zu befreien?
Zwar kËnntest du mir mit einem verwandten Gleichnisse antworten: wer lieï¬e sich nicht lieber den Arm abnehmen, als daï¬ er durch Zaudern und Zagen sein Leben aufs Spiel setzte?–Ich weiï¬ nicht!–Und wir wollen uns nicht in Gleichnissen herumbeiï¬en. Genug–ja, Wilhelm, ich habe manchmal so einen Augenblick aufspringenden, absch¸ttelnden Muts, und da–wenn ich nur w¸ï¬te wohin, ich ginge wohl.
Abends
Mein Tagebuch, das ich seit einiger Zeit vernachlâ°ssiget, fiel mir heut wieder in die Hâ°nde, und ich bin erstaunt, wie ich so wissentlich in das alles, Schritt vor Schritt, hineingegangen bin! Wie ich ¸ber meinen Zustand immer so klar gesehen und doch gehandelt habe wie ein Kind, jetzt noch so klar sehe, und es noch keinen Anschein zur Besserung hat.
Am 10. August
Ich kËnnte das beste, gl¸cklichste Leben f¸hren, wenn ich nicht ein Tor wâ°re. So schËne Umstâ°nde vereinigen sich nicht leicht, eines Menschen Seele zu ergetzen, als die sind, in denen ich mich jetzt befinde. Ach so gewiï¬ ist’s, daï¬ unser Herz allein sein Gl¸ck macht. –ein Glied der liebensw¸rdigen Familie zu sein, von dem Alten geliebt zu werden wie ein Sohn, von den Kleinen wie ein Vater, und von Lotten! –dann der ehrliche Albert, der durch keine launische Unart mein Gl¸ck stËrt; der mich mit herzlicher Freundschaft umfaï¬t; dem ich nach Lotten das Liebste auf der Welt bin!–Wilhelm, es ist eine Freude, uns zu hËren, wenn wir spazierengehen und uns einander von Lotten unterhalten: es ist in der Welt nichts Lâ°cherlichers erfunden worden als dieses Verhâ°ltnis, und doch kommen mir oft dar¸ber die Trâ°nen in die Augen.
Wenn er mir von ihrer rechtschaffenen Mutter erzâ°hlt: wie sie auf ihrem Todbette Lotten ihr Haus und ihre Kinder ¸bergeben und ihm Lotten anbefohlen habe, wie seit der Zeit ein ganz anderer Geist Lotten belebt habe, wie sie, in der Sorge f¸r ihre Wirtschaft und in dem Ernste, eine wahre Mutter geworden, wie kein Augenblick ihrer Zeit ohne tâ°tige Liebe, ohne Arbeit verstrichen, und dennoch ihre Munterkeit, ihr leichter Sinn sie nie dabei verlassen habe.–Ich gehe so neben ihm hin und pfl¸cke Blumen am Wege, f¸ge sie sehr sorgfâ°ltig in einen Strauï¬ und–werfe sie in den vor¸berflieï¬enden Strom und sehe ihnen nach, wie sie leise hinunterwallen.–Ich weiï¬ nicht, ob ich dir geschrieben habe, daï¬ Albert hier bleiben und ein Amt mit einem artigen Auskommen vom Hofe erhalten wird, wo er sehr beliebt ist. In Ordnung und Emsigkeit in Geschâ°ften habe ich wenig seinesgleichen gesehen.
Am 12. August
Gewiï¬, Albert ist der beste Mensch unter dem Himmel. Ich habe gestern eine wunderbare Szene mit ihm gehabt. Ich kam zu ihm, um Abschied von ihm zu nehmen; denn mich wandelte die Lust an, ins Gebirge zu reiten, von woher ich dir auch jetzt schreibe, und wie ich in der Stube auf und ab gehe, fallen mir seine Pistolen in die Augen.–“Borge mir die Pistolen”, sagte ich, “zu meiner Reise”.–“Meinetwegen”, sagte er, “wenn du dir die M¸he nehmen willst, sie zu laden; bei mir hâ°ngen sie nur pro forma”.–Ich nahm eine herunter, und er fuhr fort: “seit mir meine Vorsicht einen so unartigen Streich gespielt hat, mag ich mit dem Zeuge nichts mehr zu tun haben”.–Ich war neugierig, die Geschichte zu wissen.–“Ich hielt mich”, erzâ°hlte er, “wohl ein Vierteljahr auf dem Lande bei einem Freunde auf, hatte ein paar Terzerolen ungeladen und schlief ruhig. Einmal an einem regnichten Nachmittage, da ich m¸ï¬ig sitze, weiï¬ ich nicht, wie mir einfâ°llt: wir kËnnten ¸berfallen werden, wir kËnnten die Terzerolen nËtig haben und kËnnten–du weiï¬t ja, wie das ist.–ich gab sie dem Bedienten, sie zu putzen und zu laden; und der dahlt mit den Mâ°dchen, will sie schrecken, und Gott weiï¬ wie, das Gewehr geht los, da der Ladstock noch drin steckt, und schieï¬t den Ladstock einem Mâ°dchen zur Maus herein an der rechten Hand und zerschlâ°gt ihr den Daumen. Da hatte ich das Lamentieren, und die Kur zu bezahlen obendrein, und seit der Zeit lass’ ich alles Gewehr ungeladen. Lieber Schatz, was ist Vorsicht? Die Gefahr lâ°ï¬t sich nicht auslernen! Zwar.–Nun weiï¬t du, daï¬ ich den Menschen sehr lieb habe bis auf seine Zwar; denn versteht sich’s nicht von selbst, daï¬ jeder allgemeine Satz Ausnahmen leidet? Aber so rechtfertig ist der Mensch! Wenn er glaubt, etwas â¹bereiltes, Allgemeines, Halbwahres gesagt zu haben, so hËrt er dir nicht auf zu limitieren, zu modifizieren und ab–und zuzutun, bis zuletzt gar nichts mehr an der Sache ist.
Und bei diesem Anlaï¬ kam er sehr tief in Text: ich hËrte endlich gar nicht weiter auf ihn, verfiel in Grillen, und mit einer auffahrenden Gebâ°rde dr¸ckte ich mir die M¸ndung der Pistole ¸bers rechte Aug’ an die Stirn.–“Pfui!” sagte Albert, indem er mir die Pistole herabzog, “was soll das?”–“Sie ist nicht geladen”, sagte ich.–“Und auch so, was soll’s?” versetzte er ungeduldig. “Ich kann mir nicht vorstellen, wie ein Mensch so tËricht sein kann, sich zu erschieï¬en; der bloï¬e Gedanke erregt mir Widerwillen”.
“Daï¬ ihr Menschen”, rief ich aus, “um von einer Sache zu reden, gleich sprechen m¸ï¬t: ‘das ist tËricht, das ist klug, das ist gut, das ist bËs!’ und was will das alles heiï¬en? Habt ihr deswegen die innern Verhâ°ltnisse einer Handlung erforscht? Wiï¬t ihr mit Bestimmtheit die Ursachen zu entwickeln, warum sie geschah, warum sie geschehen muï¬te? Hâ°ttet ihr das, ihr w¸rdet nicht so eilfertig mit euren Urteilen sein”. “Du wirst mir zugeben”, sagte Albert, “daï¬ gewisse Handlungen lasterhaft bleiben, sie mËgen geschehen, aus welchem Beweggrunde sie wollen”. Ich zuckte die Achseln und gab’s ihm zu.–“Doch, mein Lieber”, fuhr ich fort, “finden sich auch hier einige Ausnahmen. Es ist wahr, der Diebstahl ist ein Laster: aber der Mensch, der, um sich und die Seinigen vom gegenwâ°rtigen Hungertode zu erretten, auf Raub ausgeht, verdient der Mitleiden oder Strafe? Wer hebt den ersten Stein auf gegen den Ehemann, der im gerechten Zorne sein untreues Weib und ihren nichtsw¸rdigen Verf¸hrer aufopfert? Gegen das Mâ°dchen, das in einer wonnevollen Stunde sich in den unaufhaltsamen Freuden der Liebe verliert? Unsere Gesetze selbst, diese kaltbl¸tigen Pedanten, lassen sich r¸hren und halten ihre Strafe zur¸ck”.
“Das ist ganz was anders”, versetzte Albert, “weil ein Mensch, den seine Leidenschaften hinreiï¬en, alle Besinnungskraft verliert und als ein Trunkener, als ein Wahnsinniger angesehen wird”. “Ach ihr vern¸nftigen Leute!” rief ich lâ°chelnd aus. “Leidenschaft! Trunkenheit! Wahnsinn! Ihr steht so gelassen, so ohne Teilnehmung da, ihr sittlichen Menschen, scheltet den Trinker, verabscheut den Unsinnigen, geht vorbei wie der Priester und dankt Gott wie der Pharisâ°er, daï¬ er euch nicht gemacht hat wie einen von diesen. Ich bin mehr als einmal trunken gewesen, meine Leidenschaften waren nie weit vom Wahnsinn, und beides reut mich nicht: denn ich habe in einem Maï¬e begreifen lernen, wie man alle auï¬erordentlichen Menschen, die etwas Groï¬es, etwas UnmËglichscheinendes wirkten, von jeher f¸r Trunkene und Wahnsinnige ausschreiten muï¬te. Aber auch im gemeinen Leben ist’s unertrâ°glich, fast einem jeden bei halbweg einer freien, edlen, unerwarteten Tat nachrufen zu hËren: ‘ der Mensch ist trunken, der ist nâ°rrisch!’ Schâ°mt euch, ihr N¸chternen! Schâ°mt euch, ihr Weisen!” “Das sind nun wieder von deinen Grillen”, sagte Albert, “du ¸berspannst alles und hast wenigstens hier gewiï¬ unrecht, daï¬ du den Selbstmord, wovon jetzt die Rede ist, mit groï¬en Handlungen vergleichst: da man es doch f¸r nichts anders als eine Schwâ°che halten kann. Denn freilich ist es leichter zu sterben, als ein qualvolles Leben standhaft zu ertragen”. Ich war im Begriff abzubrechen; denn kein Argument bringt mich so aus der Fessung, als wenn einer mit einem unbedeutenden Gemeinspruche angezogen kommt, wenn ich aus ganzem Herzen rede.
Doch faï¬te ich mich, weil ich’s schon oft gehËrt und mich Ëfter dar¸ber geâ°rgert hatte, und versetzte ihm mit einiger Lebhaftigkeit: “Du nennst das Schwâ°che? Ich bitte dich, laï¬ dich vom Anscheine nicht verf¸hren. Ein Volk, das unter dem unertrâ°glichen Joch eines Tyrannen seufzt, darfst du das schwach heiï¬en, wenn es endlich aufgâ°rt und seine Ketten zerreiï¬t? Ein Mensch, der ¸ber dem Schrecken, daï¬ Feuer sein Haus ergriffen hat, alle Krâ°fte gespannt f¸hlt und mit Leichtigkeit Lasten wegtrâ°gt, die er bei ruhigem Sinne kaum bewegen kann; einer, der in der Wut der Beleidigung es mit sechsen aufnimmt und sie ¸berwâ°ltig, sind die schwach zu nennen? Und, mein Guter, wenn Anstrengung Stâ°rke ist, warum soll die â¹berspannung das Gegenteil sein?”–Albert sah mich an und sagte: “nimm mir’s nicht ¸bel, die Beispiele, die du gibst, scheinen hieher gar nicht zu gehËren”.–“Es mag sein”, sagte ich, “man hat mir schon Ëfters vorgeworfen, daï¬ meine Kombinationsart manchmal an Radotage grenze. Laï¬t uns denn sehen, ob wir uns auf eine andere Weise vorstellen kËnnen, wie dem Menschen zu Mute sein mag, der sich entschlieï¬t, die sonst angenehme B¸rde des Lebens abzuwerfen. Denn nur insofern wir mitempfinden, haben wir die Ehre, von einer Sache zu reden”.
“Die menschliche Natur”, fuhr ich fort, “hat ihre Grenzen: sie kann Freude, Leid, Schmerzen bis auf einen gewissen Grad ertragen und geht zugrunde, sobald der ¸berstiegen ist. Hier ist also nicht die Frage, ob einer schwach oder stark ist, sondern ob er das Maï¬ seines Leidens ausdauern kann, es mag nun moralisch oder kËrperlich sein. Und ich finde es ebenso wunderbar zu sagen, der Mensch ist feige, der sich das Leben nimmt, als es ungehËrig wâ°re, den einen Feigen zu nennen, der an einem bËsartigen Fieber stirbt”.
“Paradox! Sehr paradox!” rief Albert aus.–“Nicht so sehr, als du denkst”, versetzte ich. “Du gibst mir zu, wir nennen das eine Krankheit zum Tode, wodurch die Natur so angegriffen wird, daï¬ teils ihre Krâ°fte verzehrt, teils so auï¬er Wirkung gesetzt werden, daï¬ sie sich nicht wieder aufzuhelfen, durch keine gl¸ckliche Revolution den gewËhnlichen Umlauf des Lebens wieder herzustellen fâ°hig ist.
Nun, mein Lieber, laï¬ uns das auf den Geist anwenden. Sich den Menschen an in seiner Eingeschrâ°nktheit, wie Eindr¸cke auf ihn wirken, Ideen sich bei ihm festsetzen, bis endlich eine wachsende Leidenschaft ihn aller ruhigen Sinneskraft beraubt und ihn zugrunde richtet.
Vergebens, daï¬ der gelassene, vern¸nftige Mensch den Zustand Ungl¸cklichen ¸bersieht, vergebens, daï¬ er ihm zuredet! Ebenso wie ein Gesunder, der am Bette des Kranken steht, ihm von seinen Krâ°ften nicht das geringste einflËï¬en kann”.
Alberten war das zu allgemein gesprochen. Ich erinnerte ihn an ein Mâ°dchen, das man vor weniger Zeit im Wasser tot gefunden, und wiederholte ihm ihre Geschichte.–“Ein gutes, junges GeschËpf, das in dem engen Kreise hâ°uslicher Beschâ°ftigungen, wËchentlicher bestimmter Arbeit herangewachsen war, das weiter keine Aussicht von Vergn¸gen kannte, als etwa Sonntags in einem nach und nach zusammengeschafften Putz mit ihresgleichen um die Stadt spazierenzugehen, vielleicht alle hohen Feste einmal zu tanzen und ¸brigens mit aller Lebhaftigkeit des herzlichsten Anteils manche Stunde ¸ber den Anlaï¬ eines Gezâ°nkes, einer ¸beln Nachrede mit einer Nachbarin zu verplaudern–deren feurige Natur f¸hlt nun endlich innigere Bed¸rfnisse, die durch die Schmeicheleien der Mâ°nner vermehrt werden; ihre vorigen Freuden werden ihr nach und nach unschmackhaft, bis sie endlich einen Menschen antrifft, zu dem ein unbekanntes Gef¸hl sie unwiderstehlich hinreiï¬t, auf den sie nun alle ihre Hoffnungen wirft, die Welt rings um sich vergiï¬t, nichts hËrt, nichts sieht, nichts f¸hlt als ihn, den Einzigen, sich nur sehnt nach ihm, dem Einzigen. Durch die leeren Vergn¸gungen einer unbestâ°ndigen Eitelkeit nicht verdorben, zieht ihr Verlangen gerade nach dem Zweck, sie will die Seinige werden, sie will in ewiger Verbindung all das Gl¸ck antreffen, das ihr mangelt, die Vereinigung aller Freuden genieï¬en, nach denen sie sich sehnte. Wiederholtes Versprechen, das ihr die Gewiï¬heit aller Hoffnungen versiegelt, k¸hne Liebkosungen, die ihre Begierden vermehren, umfangen ganz ihre Seele; sie schwebt in einem dumpfen Bewuï¬tsein, in einem Vorgef¸hl aller Freuden, sie ist bis auf den hËchsten Grad gespannt, sie streckt endlich ihre Arme aus, all ihre W¸nsche zu umfassen–und ihr Geliebter verlâ°ï¬t sie.–Erstarrt, ohne Sinne steht sie vor einem Abgrunde; alles ist Finsternis um sie her, keine Aussicht, kein Trost, keine Ahnung! Denn der hat sie verlassen, in dem sie allein ihr Dasein f¸hlte. Sie sieht nicht die weite Welt, die vor ihr liegt, nicht die vielen, die ihr de Verlust ersetzen kËnnten, sie f¸hlt sich allein, verlassen von aller Welt,–und blind, in die Enge gepreï¬t von der entsetzlichen Not ihres Herzens, st¸rzt sie sich hinunter, um in einem rings umfangenden Tode alle ihre Qualen zu ersticken.–Sieh, Albert, das ist die Geschichte so manches Menschen! Und sag’, ist das nicht der Fall der Krankheit? Die Natur findet keinen Ausweg aus dem Labyrinthe der verworrenen und widersprechenden Krâ°fte, und der Mensch muï¬ sterben. Wehe dem, der zusehen und sagen kËnnte: ‘die TËrin! Hâ°tte sie gewartet, hâ°tte sie die Zeit wirken lassen, die Verzweifelung w¸rde sich schon gelegt, es w¸rde sich schon ein anderer sie zu trËsten vorgefunden haben.’–Das ist eben, als wenn einer sagte: ‘der Tor, stirbt am Fieber! Hâ°tte er gewartet, bis seine Krâ°fte sich erholt, seine Sâ°fte sich verbessert, der Tumult seines Blutes sich gelegt hâ°tten: alles wâ°re gut gegangen, und er lebte bis auf den heutigen Tag! ‘”
Albert, dem die Vergleichung noch nicht anschaulich war, wandte noch einiges ein, und unter andern: ich hâ°tte nur von einem einfâ°ltigen Mâ°dchen gesprochen; wie aber ein Mensch von Verstande, der nicht so eingeschrâ°nkt sei, der mehr Verhâ°ltnisse ¸bersehe, zu entschuldigen sein mËchte, kËnne er nicht begreifen.–“Mein Freund”, rief ich aus, “der Mensch ist Mensch, und das biï¬chen Verstand, das einer haben mag, kommt wenig oder nicht in Anschlag, wenn Leidenschaft w¸tet und die Grenzen der Menschheit einen drâ°ngen. Vielmehr–ein andermal davon”, sagte ich und griff nach meinem Hute. O mir war das Herz so voll–und wir gingen auseinander, ohne einander verstanden zu haben. Wie denn auf dieser Welt keiner leicht den andern versteht.
Am 15. August
Es ist doch gewiï¬, daï¬ in der Welt den Menschen nichts notwendig macht als die Liebe. Ich f¸hl’s an Lotten, daï¬ sie mich ungern verlËre, und die Kinder haben keinen andern Begriff, als daï¬ ich immer morgen wiederkommen w¸rde. Heute war ich hinausgegangen, Lottens Klavier zu stimmen, ich konnte aber nicht dazu kommen, denn die Kleinen verfolgten mich um ein Mâ°rchen, und Lotte sagte selbst, ich sollte ihnen den Willen tun. Ich schnitt ihnen das Abendbrot, das sie nun fast so gern von mir als von Lotten annehmen, und erzâ°hlte ihnen das Hauptst¸ckchen von der Prinzessin, die von Hâ°nden bedient wird. Ich lerne viel dabei, das versichre ich dich, und ich bin erstaunt, was es auf sie f¸r Eindr¸cke macht. Weil ich manchmal einen Inzidentpunkt erfinden muï¬, den ich beim zweitenmal vergesse, sagen sie gleich, das vorigemal wâ°r’ es anders gewesen, so daï¬ ich mich jetzt ¸be, sie unverâ°nderlich in einem singenden Silbenfall an einem Schn¸rchen weg zu rezitieren. Ich habe daraus gelernt, wie ein Autor durch eine zweite, verâ°nderte Ausgabe seiner Geschichte, und wenn sie poetisch noch so besser geworden wâ°re, notwendig seinem Buche schaden muï¬. Der erste Eindruck findet uns willig, und der Mensch ist gemacht, daï¬ man ihn das Abenteuerlichste ¸berreden kann; das haftet aber auch gleich so fest, und wehe dem, der es wieder auskratzen und austilgen will!
Am 18. August
Muï¬te denn das so sein, daï¬ das, was des Menschen Gl¸ckseligkeit macht, wieder die Quelle seines Elendes w¸rde?
Das volle, warme Gef¸hl meines Herzens an der lebendigen Natur, das mich mit so vieler Wonne ¸berstrËmte, das rings umher die Welt mir zu einem Paradiese schuf, wird mir jetzt zu einem unertrâ°glichen Peiniger, zu einem quâ°lenden Geist, der mich auf allen Wegen verfolgt. Wenn ich sonst vom Felsen ¸ber den Fluï¬ bis zu jenen H¸geln das fruchtbare Tal ¸berschaute und alles um mich her keimen und quellen sah; wenn ich jene Berge, vom Fuï¬e bis auf zum Gipfel, mit hohen, dichten Bâ°umen bekleidet, jene Tâ°ler in ihren mannigfaltigen Kr¸mmungen von den lieblichsten Wâ°ldern beschattet sah, und der sanfte Fluï¬ zwischen den lispelnden Rohren dahingleitete und die lieben Wolken abspiegelte, die der sanfte Abendwind am Himmel her¸berwiegte; wenn ich dann die VËgel um mich den Wald beleben hËrte, und die Millionen M¸ckenschwâ°rme im letzten roten Strahle der Sonne mutig tanzten, und ihr letzter zuckender Blick den summenden Kâ°fer aus seinem Grase befreite, und das Schwirren und Weben um mich her mich auf den Boden aufmerksam machte, und das Moos, das meinem harten Felsen seine Nahrung abzwingt, und das Geniste, das den d¸rren Sandh¸gel hinunter wâ°chst, mir das innere, gl¸hende, heilige Leben der Natur erËffnete: wie faï¬te ich das alles in mein warmes Herz, f¸hlte mich in der ¸berflieï¬enden F¸lle wie vergËttert, und die herrlichen Gestalten der unendlichen Welt bewegten sich allbelebend in meiner Seele. Ungeheure Berge umgaben mich, Abgr¸nde lagen vor mir, und Wetterbâ°che st¸rzten herunter, die Fl¸sse strËmten unter mir, und Wald und Gebirg erklang; und ich sah sie wirken und schaffen ineinander in den Tiefen der Erde, alle die unergr¸ndlichen Krâ°fte; und nun ¸ber der Erde und unter dem Himmel wimmeln die Geschlechter der mannigfaltigen GeschËpfe. Ales, alles bevËlkert mit tausendfachen Gestalten; und die Menschen dann sich in Hâ°uslein zusammen sichern und sich annisten und herrschen in ihrem Sinne ¸ber die weite Welt! Armer Tor! Der du alles so gering achtest, weil du so klein bist.–vom unzugâ°nglichen Gebirge ¸ber die EinËde, die kein Fuï¬ betrat, bis ans Ende des unbekannten Ozeans weht der Geist des Ewigschaffenden und freut sich jedes Staubes, der ihn vernimmt und lebt.–ach damals, wie oft habe ich mich mit Fittichen eines Kranichs, der ¸ber mich hin flog, zu dem Ufer des ungemessenen Meeres gesehnt, aus dem schâ°umenden Becher des Unendlichen jene schwellende Lebenswonne zu trinken und nur einen Augenblick in der eingeschrâ°nkten Kraft meines Busens einen Tropfen der Seligkeit des Wesens zu f¸hlen, das alles in sich und durch sich hervorbringt.
Bruder, nur die Erinnerung jener Stunden macht mir wohl. Selbst diese Anstrengung, jene unsâ°glichen Gel¸ste zur¸ckzurufen, wieder auszusprechen, hebt meine Seele ¸ber sich selbst und lâ°ï¬t mich dann das Bange des Zustandes doppelt empfinden, der mich jetzt umgibt.
Es hat sich vor meiner Seele wie ein Vorhang weggezogen, und der Schauplatz des unendlichen Lebens verwandelt sich vor mir in den Abgrund des ewig offenen Grabes. Kannst du sagen: Das ist! Da alles vor¸bergeht? Da alles mit der Wetterschnelle vor¸berrollt, so selten die ganze Kraft seines Daseins ausdauert, ach, in den Strom fortgerissen, untergetaucht und an Felsen zerschmettert wird? Da ist kein Augenblick, der nicht dich verzehrte und die Deinigen um dich her, kein Augenblick, da du nicht ein ZerstËrer bist, sein muï¬t; der harmloseste Spaziergang kostet tausend armen W¸rmchen das Leben, es zerr¸ttet ein Fuï¬tritt die m¸hseligen Gebâ°ude der Ameisen und stampft eine kleine Welt in ein schmâ°hliches Grab. Ha! Nicht die groï¬e, seltne Not der Welt, diese Fluten, die eure DËrfer wegsp¸len, diese Erdbeben, die eure Stâ°dte verschlingen, r¸hren mich; mir untergrâ°bt das Herz die verzehrende Kraft, die in dem All der Natur verborgen liegt; die nichts gebildet hat, das nicht seinen Nachbar, nicht sich selbst zerstËrte. Und so taumle ich beâ°ngstigt. Himmel und Erde und ihre webenden Krâ°fte um mich her: ich sehe nichts als ein ewig verschlingendes, ewig wiederkâ°uendes Ungeheuer.
Am 21. August
Umsonst strecke ich meine Arme nach ihr aus, morgens, wenn ich von schweren Trâ°umen aufdâ°mmere, vergebens suche ich sie nachts in meinem Bette, wenn mich ein gl¸cklicher, unschuldiger Traum getâ°uscht hat, als sâ°ï¬’ ich neben ihr auf der Wiese und hielt’ ihre Hand und deckte sie mit tausend K¸ssen. Ach, wenn ich dann noch halb im Taumel des Schlafes nach ihr tappe und dr¸ber mich ermuntere–ein Strom von Trâ°nen bricht aus meinem gepreï¬ten Herzen, und ich weine trostlos einer finstern Zukunft entgegen.
Am 22. August
E ist ein Ungl¸ck, Wilhelm, meine tâ°tigen Krâ°fte sind zu einer unruhigen Lâ°ssigkeit verstimmt, ich kann nicht m¸ï¬ig sein und kann doch auch nichts tun. Ich habe keine Vorstellungskraft, kein Gef¸hl an der Natur, und die B¸cher ekeln mich an. Wenn wir uns selbst fehlen, fehlt uns doch alles. Ich schwËre dir, manchmal w¸nschte ich, ein TagelËhner zu sein, um nur des Morgens beim Erwachen eine Aussicht auf den k¸nftigen Tag, einen Drang, eine Hoffnung zu haben. Oft beneide ich Alberten, den ich ¸ber die Ohren in Akten begraben sehe, und bilde mir ein, mir wâ°re wohl, wenn ich an seiner Stelle wâ°re! Schon etlichemal ist mir’s so aufgefahren, ich wollte dir schreiben und dem Minister, um die Stelle bei der Gesandtschaft anzuhalten, die, wie du versicherst, mir nicht versagt werden w¸rde. Ich glaube es selbst. Der Minister liebt mich seit langer Zeit, hatte lange mir angelegen, ich sollte mich irgendeinem Geschâ°fte widmen; und eine Stunde ist mir’s auch wohl drum zu tun. Hernach, wenn ich wieder dran denke und mir die Fabel vom Pferde einfâ°llt, das, seiner Freiheit ungeduldig, sich Sattel und Zeug auflegen lâ°ï¬t und zuschanden geritten wird–ich weiï¬ nicht, was ich soll.–und, mein Lieber! Ist nicht vielleicht das Sehnen in mir nach Verâ°nderung des Zustands eine innere, unbehagliche Ungeduld, die mich ¸berallhin verfolgen wird?
Am 28. August
Es ist wahr, wenn meine Krankheit zu heilen wâ°re, so w¸rden diese Menschen es tun. Heute ist mein Geburtstag, und in aller Fr¸he empfange ich ein Pâ°ckchen von Alberten. Mir fâ°llt beim ErËffnen sogleich eine der blaï¬roten Schleifen in die Augen, die Lotte vor hatte, als ich sie kennen lernte, und um die ich sie seither etlichemal gebeten hatte. Es waren zwei B¸chelchen in Duodez dabei, der kleine Wetsteinische Homer, eine Ausgabe, nach der ich so oft verlangt, um mich auf dem Spaziergange mit dem Ernestischen nicht zu schleppen. Sieh! So kommen sie meinen W¸nschen zuvor, so suchen sie alle die kleinen Gefâ°lligkeiten der Freundschaft auf, die tausendmal werter sind als jene blendenden Geschenke, wodurch uns die Eitelkeit des Gebers erniedrigt. Ich k¸sse diese Schleife tausendmal, und mit jedem Atemzuge schl¸rfe ich die Erinnerung jener Seligkeiten ein, mit denen mich jene wenigen, gl¸cklichen, unwiederbringlichen Tage ¸berf¸llten. Wilhelm, es ist so, und ich murre nicht, die Bl¸ten des Lebens sind nur Erscheinungen! Wie viele gehn vor¸ber, ohne eine Spur hinter sich zu lassen, wie wenige setzen Frucht an, und wie wenige dieser Fr¸chte werden reif! Und doch sind deren noch genug da; und doch–o mein Bruder!–kËnnen wir gereifte Fr¸chte vernachlâ°ssigen, verachten, ungenossen verfaulen lassen?
Lebe wohl! Es ist ein herrlicher Sommer; ich sitze oft auf den Obstbâ°umen in Lottens Baumst¸ck mit dem Obstbrecher, der langen Stange, und hole die Birnen aus dem Gipfel. Sie steht unten und nimmt sie ab, wenn ich sie ihr herunterlasse.
Am 30. August
Ungl¸cklicher! Bist du nicht ein Tor? Betriegst du dich nicht selbst? Was soll diese tobende, endlose Leidenschaft? Ich habe kein Gebet mehr als an sie; meiner Einbildungskraft erscheint keine andere Gestalt als die ihrige, und alles in der Welt um mich her sehe ich nur im Verhâ°ltnisse mit ihr. Und das macht mir denn so manche gl¸ckliche Stunde–bis ich mich wieder von ihr losreiï¬en muï¬! Ach Wilhelm! Wozu mich mein Herz oft drâ°ngt!–wenn ich bei ihr gesessen bin, zwei, drei Stunden, und mich an ihrer Gestalt, an ihrem Betragen, an dem himmlischen Ausdruck ihrer Worte geweidet habe, und nun nach und nach alle meine Sinne aufgespannt werden, mir es d¸ster vor den Augen wird, ich kaum noch hËre, und es mich an die Gurgel faï¬t wie ein MeuchelmËrder, dann mein Herz in wilden Schlâ°gen den bedrâ°ngten Sinnen Luft zu machen sucht und ihre Verwirrung nur vermehrt–Wilhelm, ich weiï¬ oft nicht, ob ich auf der Welt bin! Und–wenn nicht manchmal die Wehmut das â¹bergewicht nimmt und Lotte mir den elenden Trost erlaubt, auf ihrer Hand meine Beklemmung auszuweinen,–so muï¬ ich fort, muï¬ hinaus, und schweife dann weit im Felde umher; einen jâ°hen Berg zu klettern ist dann meine Freude, durch einen unwegsamen Wald einen Pfad durchzuarbeiten, durch die Hecken, die mich verletzen, durch die Dornen, die mich zerreiï¬en! Da wird mir’s etwas besser! Etwas! Und wenn ich vor M¸digkeit und Durst manchmal unterwegs liegen bleibe, manchmal in der tiefen Nacht, wenn der hohe Vollmond ¸ber mir steht, im einsamen Walde auf einen krumm gewachsenen Baum mich setze, um meinen verwundeten Sohlen nur einige Linderung zu verschaffen, und dann in einer ermattenden Ruhe in dem Dâ°mmerschein hinschlummre! O Wilhelm! Die einsame Wohnung einer Zelle, das hâ°rene Gewand und der Stachelg¸rtel wâ°ren Labsale, nach denen meine Seele schmachtet. Adieu! Ich sehe dieses Elendes kein Ende als das Grab.
Am 3. September
Ich muï¬ fort! Ich danke dir, Wilhelm, daï¬ du meinen wankenden Entschluï¬ bestimmt hast. Schon vierzehn Tage gehe ich mit dem Gedanken um, sie zu verlassen. Ich muï¬ fort. Sie ist wieder in der Stadt bei einer Freundin. Und Albert–und–ich muï¬ fort!
Am 10. September
Das war eine Nacht! Wilhelm! Nun ¸berstehe ich alles. Ich werde sie nicht wiedersehn! O daï¬ ich nicht an deinen Hals fliegen, dir mit tausend Trâ°nen und Entz¸ckungen ausdr¸cken kann, mein Bester, die Empfindungen, die mein Herz best¸rmen. Hier sitze ich und schnappe nach Luft, suche mich zu beruhigen, erwarte den Morgen, und mit Sonnenaufgang sind die Pferde bestellt.
Ach, sie schlâ°ft ruhig und denkt nicht, daï¬ sie mich nie wieder sehen wird. Ich habe mich losgerissen, bin stark genug gewesen, in einem Gesprâ°ch von zwei Stunden mein Vorhaben nicht zu verraten. Und Gott, welch ein Gesprâ°ch!
Albert hatte mir versprochen, gleich nach dem Nachtessen mit Lotten im Garten zu sein. Ich stand auf der Terrasse unter den hohen Kastanienbâ°umen und sah der Sonne nach, die mir nun zum letztenmale ¸ber dem lieblichen Tale, ¸ber dem sanften Fluï¬ unterging. So oft hatte ich hier gestanden mit ihr und eben dem herrlichen Schauspiele zugesehen, und nun–ich ging in der Allee auf und ab, die mir so lieb war; ein geheimer sympathetischer Zug hatte mich hier so oft gehalten, ehe ich noch Lotten kannte, und wie freuten wir uns, als wir im Anfang unserer Bekanntschaft die wechselseitige Neigung zu diesem Plâ°tzchen entdeckten, das wahrhaftig eins von den romantischsten ist, die ich von der Kunst hervorgebracht gesehen habe.
Erst hast du zwischen den Kastanienbâ°umen die weite Aussicht–Ach, ich erinnere mich, ich habe dir, denk’ ich, schon viel davon geschrieben, wie hohe Buchenwâ°nde einen endlich einschlieï¬en und durch ein daranstoï¬endes Boskett die Allee immer d¸sterer wird, bis zuletzt alles sich in ein geschlossenes Plâ°tzchen endigt, das alle Schauer der Einsamkeit umschweben. Ich f¸hle es noch, wie heimlich mir’s ward, als ich zum erstenmale an einem hohen Mittage hineintrat; ich ahnete ganz leise, was f¸r ein Schauplatz das noch werden sollte von Seligkeit und Schmerz.
Ich hatte mich etwa eine halbe Stunde in den schmachtenden, s¸ï¬en Gedanken des Abscheidens, des Wiedersehens geweidet, als ich sie die Terrasse heraufsteigen hËrte. Ich lief ihnen entgegen, mit einem Schauer faï¬te ich ihre Hand und k¸ï¬te sie. Wir waren eben heraufgetreten, als der Mond hinter dem buschigen H¸gel aufging; wir redeten mancherlei und kamen unvermerkt dem d¸stern Kabinette nâ°her. Lotte trat hinein und setzte sich, Albert neben sie, ich auch; doch meine Unruhe lieï¬ mich nicht lange sitzen; ich stand auf, trat vor sie, ging auf und ab, setzte mich wieder: es war ein â°ngstlicher Zustand. Sie machte uns aufmerksam auf die schËne Wirkung des Mondenlichtes, das am Ende der Buchenwâ°nde die ganze Terrasse vor uns erleuchtete: ein herrlicher Anblick, der um so viel frappanter war, weil uns rings eine tiefe Dâ°mmerung einschloï¬. Wir waren still, und sie fing nach einer Weile an: “niemals gehe ich im Mondenlichte spazieren, niemals, daï¬ mir nicht der Gedanke an meine Verstorbenen begegnete, daï¬ nicht das Gef¸hl von Tod, von Zukunft ¸ber mich kâ°me”. “Wir werden sein!” fuhr sie mit der Stimme des herrlichsten Gef¸hls fort; “aber, Werther, sollen wir uns wieder finden? Wieder erkennen? Was ahnen Sie? Was sagen Sie?”
“Lotte”, sagte ich, indem ich ihr die Hand reichte und mir die Augen voll Trâ°nen wurden,”wir werden uns wiedersehn! Hier und dort wiedersehn!”–ich konnte nicht weiter reden–Wilhelm, muï¬te sie mich das fragen, da ich diesen â°ngstlichen Abschied im Herzen hatte!
“Und ob die lieben Abgeschiednen von uns wissen”, fuhr sie fort, “ob sie f¸hlen, wann’s uns wohl geht, daï¬ wir mit warmer Liebe uns ihrer erinnern? O! Die Gestalt meiner Mutter schwebt immer um mich, wenn ich am stillen Abend unter ihren Kindern, unter meinen Kindern sitze und sie um mich versammelt sind, wie sie um sie versammelt waren. Wenn ich dann mit einer sehnenden Trâ°ne gen Himmel sehe und w¸nsche, daï¬ sie hereinschauen kËnnte einen Augenblick, wie ich mein Wort halte, das ich ihr in der des Todes gab: die Mutter ihrer Kinder zu sein. Mit welcher Empfindung rufe ich aus: ‘verzeihe mir’s, Teuerste, wenn ich ihnen nicht bin, was du ihnen warst. Ach! Tue ich doch alles, was ich kann; sind sie doch gekleidet, genâ°hrt, ach, und, was mehr ist als das alles, gepflegt und geliebt. KËnntest du unsere Eintracht sehen, liebe Heilige! Du w¸rdest mit dem heiï¬esten Danke den Gott verherrlichen, den du mit den letzten, bittersten Trâ°nen um die Wohlfahrt deiner Kinder batest.'”–Sie sagte das! O Wilhelm, wer kann wiederholen, was sie sagte! Wie kann der kalte, tote Buchstabe diese himmlische Bl¸te des Geistes darstellen! Albert fiel ihr sanft in die Rede: “es greift zu stark an, liebe Lotte! Ich weiï¬, Ihre Seele hâ°ngt sehr nach diesen Ideen, aber ich bitte Sie”.–“O Albert”, sagte sie, “ich weiï¬, du vergissest nicht die Abende, da wir zusammensaï¬en an dem kleinen, runden Tischchen, wenn der Papa verreist war, und wir die Kleinen schlafen geschickt hatten. Du hattest oft ein gutes Buch und kannst so selten dazu, etwas zu lesen–war der Umgang dieser herrlichen Seele nicht mehr als alles? Die schËne, sanfte, muntere und immer tâ°tige Frau! Gott kennt meine Trâ°nen, mit denen ich mich oft in meinem Bette vor ihn hinwarf: er mËchte mich ihr gleich machen”.
“Lotte!” rief ich aus, indem ich mich vor sie hinwarf, ihre Hand nahm und mit tausend Trâ°nen netzte, “Lotte! Der Segen Gottes ruht ¸ber dir und der Geist deiner Mutter!” “Wenn Sie sie gekannt hâ°tten”, sagte sie, indem sie mir die Hand dr¸ckte,–“sie war wert, von Ihnen gekannt zu sein!”–ich glaubte zu vergehen.
Nie war ein grËï¬eres, stolzeres Wort ¸ber mich ausgesprochen worden–und sie fuhr fort:”und diese Frau muï¬te in der Bl¸te ihrer Jahre dahin, da ihr j¸ngster Sohn nicht sechs Monate alt war! Ihre Krankheit dauerte nicht lange; sie war ruhig, hingegeben, nur ihre Kinder taten ihr weh, besonders das kleine. Wie es gegen das Ende ging und sie zu mir sagte: ‘bringe mir sie herauf!’ und wie ich sie hereinf¸hrte, die kleinen, die nicht wuï¬ten, und die â°ltesten, die ohne Sinne waren, wie sie ums Bette standen, und wie sie die Hâ°nde aufhob und ¸ber sie betete, und sie k¸ï¬te nach einander und sie wegschickte und zu mir sagte: ‘sei ihre Mutter!’–Ich gab ihr die Hand drauf!–‘Du versprichst viel, meine Tochter’, sagte sie, ‘das Herz einer Mutter und das Aug’ einer Mutter. Ich habe oft an deinen dankbaren Trâ°nen gesehen, daï¬ du f¸hlst, was das sei. Habe es f¸r deine Geschwister, und f¸r deinen Vater die Treue und den Gehorsam einer Frau. Du wirst ihn trËsten.’–Sie fragte nach ihm, er war ausgegangen, um uns den unertrâ°glichen Kummer zu verbergen, den er f¸hlte, der Mann war ganz zerrissen.
Albert, du warst im Zimmer. Sie hËrte jemand gehn und fragte und forderte dich zu sich, und wie sie dich ansah und mich, mit dem getrËsteten, ruhigen Blicke, daï¬ wir gl¸cklich sein, zusammen gl¸cklich sein w¸rden”.–Albert fiel ihr um den Hals und k¸ï¬te sie und rief: “wir sind es! Wir werden es sein!”–der ruhige Albert war ganz aus seiner Fassung, und ich wuï¬te nichts von mir selber. “Werther”, fing sie an, “und diese Frau sollte dahin sein! Gott! Wenn ich manchmal denke, wie man das Liebste seines Lebens wegtragen lâ°ï¬t, und niemand als die Kinder das so scharf f¸hlt, die sich noch lange beklagten, die schwarzen Mâ°nner hâ°tten die Mama weggetragen! “sie stand auf, und ich ward erweckt und ersch¸ttert, blieb sitzen und hielt ihre Hand.–“Wir wollen fort”, sagte sie, “es wird Zeit”.–Sie wollte ihre Hand zur¸ckziehen, und ich hielt sie fester.–“wir werden uns wieder sehen” rief ich, “wir werden uns finden, unter allen Gestalten werden wir uns erkennen. Ich gehe”, fuhr ich fort, “ich gehe willig, und doch, wenn ich sagen sollte auf ewig, ich w¸rde es nicht aushalten. Leb’ wohl, Lotte! Leb’ wohl, Albert! Wir sehn uns wieder”.–“Morgen, denke ich”, versetzte sie scherzend.–Ich f¸hlte das Morgen! Ach, sie wuï¬te nicht, als sie ihre Hand aus der meinen zog–Sie gingen die Allee hinaus, ich stand, sah ihnen nach im Mondscheine und warf mich an die Erde und weinte mich aus und sprang auf und lief auf die Terrasse hervor und sah noch dort unten im Schatten der hohen Lindenbâ°ume ihr weiï¬es Kleid nach der Gartent¸r schimmern, ich streckte meine Arme aus, und es verschwand.