Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten
Johann Wolfgang von Goethe
Inhalt:
Bassompierres Geschichte von der schËnen Krâ°merin Ferdinands Schuld und Wandlung
Der Prokurator
Bassompierres Geschichte von der schËnen Krâ°merin
Erzâ°hlung aus Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten
(1795)
“Der Marschall von Bassompierre”, sagte er, “erzâ°hlt sie in seinen Memoiren; es sei mir erlaubt, in seinem Namen zu reden:
Seit f¸nf oder sechs Monaten hatte ich bemerkt, so oft ich ¸ber die kleine Br¸cke ging–denn zu der Zeit war der Pont neuf noch nicht erbauet–, daï¬ eine schËne Krâ°merin, deren Laden an einem Schilde mit zwei Engeln kenntlich war, sich tief und wiederholt vor mir neigte und mir so weit nachsah, als sie nur konnte. Ihr Betragen fiel mir auf, ich sah sie gleichfalls an und dankte ihr sorgfâ°ltig. Einst ritt ich von Fontainebleau nach Paris, und als ich wieder die kleine Br¸cke heraufkam, trat sie an ihre Ladent¸re und sagte zu mir, indem ich vorbeiritt: “Mein Herr, Ihre Dienerin!” Ich erwiderte ihren Gruï¬, und indem ich mich von Zeit zu Zeit umsah, hatte sie sich weiter vorgelehnt, um mir so weit als mËglich nachzusehen.
Ein Bedienter nebst einem Postillon folgten mir, die ich noch diesen Abend mit Briefen an einige Damen nach Fontainebleau zur¸ckschicken wollte. Auf meinen Befehl stieg der Bediente ab und ging zu der jungen Frau, ihr in meinem Namen zu sagen, daï¬ ich ihre Neigung, mich zu sehen und zu gr¸ï¬en, bemerkt hâ°tte; ich wollte, wenn sie w¸nschte, mich nâ°her kennenzulernen, sie aufsuchen, wo sie verlangte.
Sie antwortete dem Bedienten, er hâ°tte ihr keine bessere Neuigkeit bringen kËnnen, sie wollte kommen, wohin ich sie bestellte, nur mit der Bedingung, daï¬ sie eine Nacht mit mir unter einer Decke zubringen d¸rfte.
Ich nahm den Vorschlag an und fragte den Bedienten, ob er nicht etwa einen Ort kenne, wo wir zusammenkommen kËnnten. Er antwortete, daï¬ er sie zu einer gewissen Kupplerin f¸hren wollte, rate mir aber, weil die Pest sich hier und da zeige, Matratzen, Decken und Leint¸cher aus meinem Hause hinbringen zu lassen. Ich nahm den Vorschlag an, und er versprach, mir ein gutes Bett zu bereiten.
Des Abends ging ich hin und fand eine sehr schËne Frau von ungefâ°hr zwanzig Jahren mit einer zierlichen Nachtm¸tze, einem sehr feinen Hemde, einem kurzen Unterrocke von gr¸nwollenem Zeuge. Sie hatte Pantoffeln an den F¸ï¬en und eine Art von Pudermantel ¸bergeworfen. Sie gefiel mir auï¬erordentlich, und da ich mir einige Freiheiten herausnehmen wollte, lehnte sie meine Liebkosungen mit sehr guter Art ab und verlangte, mit mir zwischen zwei Leint¸chern zu sein. Ich erf¸llte ihr Begehren und kann sagen, daï¬ ich niemals ein zierlicheres Weib gekannt habe noch von irgendeiner mehr Vergn¸gen genossen hâ°tte. Den andern Morgen fragte ich sie, ob ich sie nicht noch einmal sehen kËnnte, ich verreise erst Sonntag; und wir hatten die Nacht vom Donnerstag auf den Freitag miteinander zugebracht.
Sie antwortete mir, daï¬ sie es gewiï¬ lebhafter w¸nsche als ich; wenn ich aber nicht den ganzen Sonntag bliebe, sei es ihr unmËglich, denn nur in der Nacht vom Sonntag auf den Montag kËnne sie mich wiedersehen. Als ich einige Schwierigkeiten machte, sagte sie: “Ihr seid wohl meiner in diesem Augenblicke schon ¸berdr¸ssig und wollt nun Sonntags verreisen; aber Ihr werdet bald wieder an mich denken und gewiï¬ noch einen Tag zugeben, um eine Nacht mit mir zuzubringen.”
Ich war leicht zu ¸berreden, versprach ihr, den Sonntag zu bleiben und die Nacht auf den Montag mich wieder an dem nâ°mlichen Orte einzufinden. Darauf antwortete sie mir: “Ich weiï¬ recht gut, mein Herr, daï¬ ich in ein schâ°ndliches Haus um Ihrentwillen gekommen bin; aber ich habe es freiwillig getan, und ich hatte ein so un¸berwindliches Verlangen, mit Ihnen zu sein, daï¬ ich jede Bedingung eingegangen wâ°re. Aus Leidenschaft bin ich an diesen abscheulichen Ort gekommen, aber ich w¸rde mich f¸r eine feile Dirne halten, wenn ich zum zweitenmal dahin zur¸ckkehren kËnnte. MËge ich eines elenden Todes sterben, wenn ich auï¬er meinem Mann und Euch irgend jemand zu Willen gewesen bin und nach irgendeinem andern verlange! Aber was tâ°te man nicht f¸r eine Person, die man liebt, und f¸r einen Bassompierre? Um seinetwillen bin ich in das Haus gekommen, um eines Mannes willen, der durch seine Gegenwart diesen Ort ehrbar gemacht hat. Wollt Ihr mich noch einmal sehen, so will ich Euch bei meiner Tante einlassen.”
Sie beschrieb mir das Haus aufs genaueste und fuhr fort: “Ich will Euch von zehn Uhr bis Mitternacht erwarten, ja noch spâ°ter, die T¸re soll offen sein. Erst findet Ihr einen kleinen Gang, in dem haltet Euch nicht auf, denn die T¸re meiner Tante geht da heraus. Dann stËï¬t Euch eine Treppe sogleich entgegen, die Euch ins erste Geschoï¬ f¸hrt, wo ich Euch mit offnen Armen empfangen werde.”
Ich machte meine Einrichtung, lieï¬ meine Leute und meine Sachen vorausgehen und erwartete mit Ungeduld die Sonntagsnacht, in der ich das schËne Weibchen wiedersehen sollte. Um zehn Uhr war ich schon am bestimmten Orte. Ich fand die T¸re, die sie mir bezeichnet hatte, sogleich, aber verschlossen und im ganzen Hause Licht, das sogar von Zeit zu Zeit wie eine Flamme aufzulodern schien. Ungeduldig fing ich an zu klopfen, um meine Ankunft zu melden; aber ich hËrte eine Mannsstimme, die mich fragte, wer drauï¬en sei.
Ich ging zur¸ck und einige Straï¬en auf und ab. Endlich zog mich das Verlangen wieder nach der T¸re. Ich fand sie offen und eilte durch den Gang die Treppe hinauf. Aber wie erstaunt war ich, als ich in dem Zimmer ein paar Leute fand, welche Bettstroh verbrannten, und bei der Flamme, die das ganze Zimmer erleuchtete, zwei nackte KËrper auf dem Tische ausgestreckt sah. Ich zog mich eilig zur¸ck und stieï¬ im Hinausgehen auf ein paar Totengrâ°ber, die mich fragten, was ich suchte. Ich zog den Degen, um sie mir vom Leibe zu halten, und kam nicht unbewegt von diesem seltsamen Anblick nach Hause. Ich trank sogleich drei bis vier Glâ°ser Wein, ein Mittel gegen die pestilenzialischen Einfl¸sse, das man in Deutschland sehr bewâ°hrt hâ°lt, und trat, nachdem ich ausgeruhet, den andern Tag meine Reise nach Lothringen an.
Alle M¸he, die ich mir nach meiner R¸ckkunft gegeben, irgend etwas von dieser Frau zu erfahren, war vergeblich. Ich ging sogar nach dem Laden der zwei Engel; allein die Mietleute wuï¬ten nicht, wer vor ihnen darin gesessen hatte.
Dieses Abenteuer begegnete mir mit einer Person vom geringen Stande, aber ich versichere, daï¬ ohne den unangenehmen Ausgang es eins der reizendsten gewesen wâ°re, deren ich mich erinnere, und daï¬ ich niemals ohne Sehnsucht an das schËne Weibchen habe denken kËnnen.”
Ferdinands Schuld und Wandlung
Erzâ°hlung aus Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten
(1795)
Man kann in Familien oft die Bemerkung machen, daï¬ Kinder sowohl der Gestalt als dem Geiste nach bald vom Vater, bald von der Mutter Eigenschaften an sich tragen, und so kommt auch manchmal der Fall vor, daï¬ ein Kind die Naturen beider Eltern auf eine besondere und verwundernsw¸rdige Weise verbindet.
Hievon war ein junger Mensch, den ich Ferdinand nennen will, ein auffallender Beweis. Seine Bildung erinnerte an beide Eltern, und ihre Gem¸tsart konnte man in der seinigen genau unterscheiden. Er hatte den leichten und frohen Sinn des Vaters, so auch den Trieb, den Augenblick zu genieï¬en, und eine gewisse leidenschaftliche Art, bei manchen Gelegenheiten nur sich selbst in Anschlag zu bringen. Von der Mutter aber hatte er, so schien es, ruhige ¸berlegung, ein Gef¸hl von Recht und Billigkeit und eine Anlage zur Kraft, sich f¸r andere aufzuopfern. Man sieht hieraus leicht, daï¬ diejenigen, die mit ihm umgingen, oft, um seine Handlungen zu erklâ°ren, zu der Hypothese ihre Zuflucht nehmen muï¬ten, daï¬ der junge Mann wohl zwei Seelen haben mËchte.
Ich ¸bergehe mancherlei Szenen, die in seiner Jugend vorfielen, und erzâ°hle nur eine Begebenheit, die seinen ganzen Charakter ins Licht setzt und in seinem Leben eine entschiedene Epoche machte.
Er hatte von Jugend auf eine reichliche Lebensart genossen, denn seine Eltern waren wohlhabend, lebten und erzogen ihre Kinder, wie es solchen Leuten geziemt, und wenn der Vater in Gesellschaften, beim Spiel und durch zierliche Kleidung mehr, als billig war, ausgab, so wuï¬te die Mutter als eine gute Haushâ°lterin dem gewËhnlichen Aufwande solche Grenzen zu setzen, daï¬ im Ganzen ein Gleichgewicht blieb und niemals ein Mangel zum Vorschein kommen konnte. Dabei war der Vater als Handelsmann gl¸cklich; es gerieten ihm manche Spekulationen, die er sehr k¸hn unternommen hatte, und weil er gern mit Menschen lebte, hatte er sich in Geschâ°ften auch vieler Verbindungen und mancher Beih¸lfe zu erfreuen.
Die Kinder, als strebende Naturen, wâ°hlen sich gewËhnlich im Hause das Beispiel dessen, der am meisten zu leben und zu genieï¬en scheint. Sie sehen in einem Vater, der sichs wohl sein lâ°ï¬t, die entschiedene Regel, wornach sie ihre Lebensart einzurichten haben, und weil sie schon fr¸h zu dieser Einsicht gelangen, so schreiten meistenteils ihre Begierden und W¸nsche in groï¬er Disproportion der Krâ°fte ihres Hauses fort. Sie finden sich bald ¸berall gehindert, um so mehr, als jede neue Generation neue und fr¸here Anforderungen macht und die Eltern den Kindern dagegen meistenteils nur gewâ°hren mËchten, was sie selbst in fr¸herer Zeit genossen, da noch jedermann mâ°ï¬iger und einfacher zu leben sich bequemte.
Ferdinand wuchs mit der unangenehmen Empfindung heran, daï¬ ihm oft dasjenige fehle, was er an seinen Gespielen sah. Er wollte in Kleidung, in einer gewissen Liberalitâ°t des Lebens und Betragens hinter niemanden zur¸ckbleiben, er wollte seinem Vater â°hnlich werden, dessen Beispiel er tâ°glich vor Augen sah und der ihm doppelt als Musterbild erschien: einmal als Vater, f¸r den der Sohn gewËhnlich ein g¸nstiges Vorurteil hegt, und dann wieder, weil der Knabe sah, daï¬ der Mann auf diesem Wege ein vergn¸gliches und genuï¬reiches Leben f¸hrte und dabei von jedermann geschâ°tzt und geliebt wurde. Ferdinand hatte hier¸ber, wie man sich leicht denken kann, manchen Streit mit der Mutter, da er dem Vater die abgelegten RËcke nicht nachtragen, sondern selbst immer in der Mode sein wollte. So wuchs er heran, und seine Forderungen wuchsen immer vor ihm her, so daï¬ er zuletzt, da er achtzehn Jahre alt war, ganz auï¬er Verhâ°ltnis mit seinem Zustande sich f¸hlen muï¬te.
Schulden hatte er bisher nicht gemacht, denn seine Mutter hatte ihm davor den grËï¬ten Abscheu eingeflËï¬t, sein Vertrauen zu erhalten gesucht und in mehreren Fâ°llen das â°uï¬erste getan, um seine W¸nsche zu erf¸llen oder ihn aus kleinen Verlegenheiten zu reiï¬en. Ungl¸cklicherweise muï¬te sie in eben dem Zeitpunkte, wo er nun als J¸ngling noch mehr aufs â°uï¬ere sah, wo er durch die Neigung zu einem sehr schËnen Mâ°dchen, verflochten in grËï¬ere Gesellschaft, sich andern nicht allein gleichzustellen, sondern vor andern sich hervorzutun und zu gefallen w¸nschte, in ihrer Haushaltung gedrâ°ngter sein als jemals; anstatt also seine Forderungen wie sonst zu befriedigen, fing sie an, seine Vernunft, sein gutes Herz, seine Liebe zu ihr in Anspruch zu nehmen, und setzte ihn, indem sie ihn zwar ¸berzeugte, aber nicht verâ°nderte, wirklich in Verzweiflung.
Er konnte, ohne alles zu verlieren, was ihm so lieb als sein Leben war, die Verhâ°ltnisse nicht verâ°ndern, in denen er sich befand. Von der ersten Jugend an war er diesem Zustande entgegen; er war mit allem, was ihn umgab, zusammengewachsen; er konnte keine Faser seiner Verbindungen, Gesellschaften, Spaziergâ°nge und Lustpartien zerreiï¬en, ohne zugleich einen alten Schulfreund, einen Gespielen, eine neue, ehrenvolle Bekanntschaft und, was das Schlimmste war, seine Liebe zu verletzen.
Wie hoch und wert er seine Neigung hielt, begreift man leicht, wenn man erfâ°hrt, daï¬ sie zugleich seiner Sinnlichkeit, seinem Geiste, seiner Eitelkeit und seinen lebhaften Hoffnungen schmeichelte. Eins der schËnsten, angenehmsten und reichsten Mâ°dchen der Stadt gab ihm, wenigstens f¸r den Augenblick, den Vorzug vor seinen vielen Mitwerbern. Sie erlaubte ihm, mit dem Dienst, den er ihr widmete, gleichsam zu prahlen, und sie schienen wechselsweise auf die Ketten stolz zu sein, die sie einander angelegt hatten. Nun war es ihm Pflicht, ihr ¸berall zu folgen, Zeit und Geld in ihrem Dienste zu verwenden und auf jede Weise zu zeigen, wie wert ihm ihre Neigung und wie unentbehrlich ihm ihr Besitz sei.
Dieser Umgang und dieses Bestreben machte Ferdinanden mehr Aufwand, als es unter andern Umstâ°nden nat¸rlich gewesen wâ°re. Sie war eigentlich von ihren abwesenden Eltern einer sehr wunderlichen Tante anvertraut worden, und es erforderte mancherlei K¸nste und seltsame Anstalten, um Ottilien, diese Zierde der Gesellschaft, in Gesellschaft zu bringen. Ferdinand erschËpfte sich in Erfindungen, um ihr die Vergn¸gungen zu verschaffen, die sie so gern genoï¬ und die sie jedem, der um sie war, zu erhËhen wuï¬te.
Und in eben diesem Augenblicke von einer geliebten und verehrten Mutter zu ganz andern Pflichten aufgefordert zu werden, von dieser Seite keine H¸lfe zu sehen, einen so lebhaften Abscheu vor Schulden zu f¸hlen, die auch seinen Zustand nicht lange w¸rden gefristet haben, dabei von jedermann f¸r wohlhabend und freigebig angesehen zu werden und das tâ°gliche und dringende Bed¸rfnis des Geldes zu empfinden, war gewiï¬ eine der peinlichsten Lagen, in der sich ein junges, durch Leidenschaften bewegtes Gem¸t befinden kann.
Gewisse Vorstellungen, die ihm fr¸her nur leicht vor der Seele vor¸bergingen, hielt er nun fester; gewisse Gedanken, die ihn sonst nur Augenblicke beunruhigten, schwebten lâ°nger vor seinem Geiste, und gewisse verdrieï¬liche Empfindungen wurden dauernder und bitterer. Hatte er sonst seinen Vater als sein Muster angesehen, so beneidete er ihn nun als seinen Nebenbuhler. Von allem, was der Sohn w¸nschte, war jener im Besitz; alles, wor¸ber dieser sich â°ngstigte, ward jenem leicht. Und es war nicht etwa von dem Notwendigen die Rede, sondern von dem, was jeder hâ°tte entbehren kËnnen. Da glaubte denn der Sohn, daï¬ der Vater wohl auch manchmal entbehren sollte, um ihn genieï¬en zu lassen. Der Vater dagegen war ganz anderer Gesinnung; er war von denen Menschen, die sich viel erlauben und die deswegen in den Fall kommen, denen, die von ihnen abhâ°ngen, viel zu versagen. Er hatte dem Sohne etwas Gewisses ausgesetzt und verlangte genaue Rechenschaft, ja eine regelmâ°ï¬ige Rechnung von ihm dar¸ber.
Nichts schâ°rft das Auge des Menschen mehr, als wenn man ihn einschrâ°nkt. Darum sind die Frauen durchaus kl¸ger als die Mâ°nner, und auf niemand sind Untergebene aufmerksamer als auf den, der befiehlt, ohne zugleich durch sein Beispiel vorauszugehen. So ward der Sohn auf alle Handlungen seines Vaters aufmerksam, besonders auf solche, die Geldausgaben betrafen. Er horchte genauer auf, wenn er hËrte, der Vater habe im Spiel verloren oder gewonnen, er beurteilte ihn strenger, wenn jener sich willk¸rlich etwas Kostspieliges erlaubte.
“Ist es nicht sonderbar”, sagte er zu sich selbst, “daï¬ Eltern, wâ°hrend sie sich mit Genuï¬ aller Art ¸berf¸llen, indem sie bloï¬ nach Willk¸r ein VermËgen, das ihnen der Zufall gegeben hat, benutzen, ihre Kinder gerade zu der Zeit von jedem billigen Genusse ausschlieï¬en, da die Jugend am empfâ°nglichsten daf¸r ist! Und mit welchem Rechte tun sie es? Und wie sind sie zu diesem Rechte gelangt? Soll der Zufall allein entscheiden, und kann das ein Recht werden, wo der Zufall wirkt? Lebte der Groï¬vater noch, der seine Enkel wie seine Kinder hielt, es w¸rde mir viel besser ergehen; er w¸rde es mir nicht am Notwendigen fehlen lassen; denn ist uns das nicht notwendig, was wir in Verhâ°ltnissen brauchen, zu denen wir erzogen und geboren sind? Der Groï¬vater w¸rde mich nicht darben lassen, so wenig er des Vaters Verschwendung zugeben w¸rde. Hâ°tte er lâ°nger gelebt, hâ°tte er klar eingesehen, daï¬ sein Enkel auch wert ist zu genieï¬en, so hâ°tte er vielleicht in dem Testament mein fr¸heres Gl¸ck entschieden. Sogar habe ich gehËrt, daï¬ der Groï¬vater eben vom Tode ¸bereilt worden, da er seinen letzten Willen aufzusetzen gedachte, und so hat vielleicht bloï¬ der Zufall mir meinen fr¸hern Anteil an einem VermËgen entzogen, den ich, wenn mein Vater so zu wirtschaften fortfâ°hrt, wohl gar auf immer verlieren kann.”
Mit diesen und anderen Sophistereien ¸ber Besitz und Recht, ¸ber die Frage, ob man ein Gesetz oder eine Einrichtung, zu denen man seine Stimme nicht gegeben, zu befolgen brauche, und inwiefern es dem Menschen erlaubt sei, im stillen von den b¸rgerlichen Gesetzen abzuweichen, beschâ°ftigte er sich oft in seinen einsamen, verdrieï¬lichsten Stunden, wenn er irgend aus Mangel des baren Geldes eine Lustpartie oder eine andere angenehme Gesellschaft ausschlagen muï¬te. Denn schon hatte er kleine Sachen von Wert, die er besaï¬, vertrËdelt, und sein gewËhnliches Taschengeld wollte keinesweges hinreichen.
Sein Gem¸t verschloï¬ sich, und man kann sagen, daï¬ er in diesen Augenblicken seine Mutter nicht achtete, die ihm nicht helfen konnte, und seinen Vater haï¬te, der ihm nach seiner Meinung ¸berall im Wege stand.
Zu eben der Zeit machte er eine Entdeckung, die seinen Unwillen noch mehr erregte. Er bemerkte, daï¬ sein Vater nicht allein kein guter, sondern auch ein unordentlicher Haushâ°lter war. Denn er nahm oft aus seinem Schreibtische in der Geschwindigkeit Geld, ohne es aufzuzeichnen, und fing nachher manchmal wieder an zu zâ°hlen und zu rechnen und schien verdrieï¬lich, daï¬ die Summen mit der Kasse nicht ¸bereinstimmen wollten. Der Sohn machte diese Bemerkung mehrmals, und um so empfindlicher ward es ihm, wenn er zu eben der Zeit, da der Vater nur geradezu in das Geld hineingriff, einen entschiedenen Mangel sp¸rte.
Zu dieser Gem¸tsstimmung traf ein sonderbarer Zufall, der ihm eine reizende Gelegenheit gab, dasjenige zu tun, wozu er nur einen dunkeln und unentschiedenen Trieb gef¸hlt hatte.
Sein Vater gab ihm den Auftrag, einen Kasten alter Briefe durchzusehen und zu ordnen. Eines Sonntags, da er allein war, trug er ihn durch das Zimmer, wo der Schreibtisch stand, der des Vaters Kasse enthielt. Der Kasten war schwer; er hatte ihn unrecht gefaï¬t und wollte ihn einen Augenblick absetzen oder vielmehr nur anlehnen. UnvermËgend, ihn zu halten, stieï¬ er gewaltsam an die Ecke des Schreibtisches, und der Deckel desselben flog auf. Er sah nun alle die Rollen vor sich liegen, zu denen er manchmal nur hineingeschielt hatte, setzte seinen Kasten nieder und nahm, ohne zu denken und zu ¸berlegen, eine Rolle von der Seite weg, wo der Vater gewËhnlich sein Geld zu willk¸rlichen Ausgaben herzunehmen schien. Er dr¸ckte den Schreibtisch wieder zu und versuchte den Seitenstoï¬: der Deckel flog jedesmal auf, und es war so gut, als wenn er den Schl¸ssel zum Pulte gehabt hâ°tte.
Mit Heftigkeit suchte er nunmehr jede Vergn¸gung wieder, die er bisher hatte entbehren m¸ssen. Er war fleiï¬iger um seine SchËne; alles, was er tat und vornahm, war leidenschaftlicher; seine Lebhaftigkeit und Anmut hatten sich in ein heftiges, ja beinahe wildes Wesen verwandelt, das ihm zwar nicht ¸bel lieï¬, doch niemanden wohltâ°tig war.
Was der Feuerfunke auf ein geladnes Gewehr, das ist die Gelegenheit zur Neigung, und jede Neigung, die wir gegen unser Gewissen befriedigen, zwingt uns, ein ¸bermaï¬ von physischer Stâ°rke anzuwenden; wir handeln wieder als wilde Menschen, und es wird schwer, â°uï¬erlich diese Anstrengung zu verbergen.
Je mehr ihm seine innere Empfindung widersprach, desto mehr hâ°ufte Ferdinand k¸nstliche Argumente aufeinander, und desto mutiger und freier schien er zu handeln, je mehr er sich selbst von einer Seite gebunden f¸hlte.
Zu derselbigen Zeit waren allerlei Kostbarkeiten ohne Wert Mode geworden. Ottilie liebte sich zu schm¸cken; er suchte einen Weg, sie ihr zu verschaffen, ohne daï¬ Ottilie selbst eigentlich wuï¬te, woher die Geschenke kamen. Die Vermutung ward auf einen alten Oheim geworfen, und Ferdinand war doppelt vergn¸gt, indem ihm seine SchËne ihre Zufriedenheit ¸ber die Geschenke und ihren Verdacht auf den Oheim zugleich zu erkennen gab.
Aber um sich und ihr dieses Vergn¸gen zu machen, muï¬te er noch einigemal den Schreibtisch seines Vaters erËffnen, und er tat es mit desto weniger Sorge, als der Vater zu verschiedenen Zeiten Geld hineingelegt und herausgenommen hatte, ohne es aufzuschreiben.
Bald darauf sollte Ottilie zu ihren Eltern auf einige Monate verreisen. Die jungen Leute betr¸bten sich â°uï¬erst, da sie scheiden sollten, und ein Umstand machte ihre Trennung noch bedeutender. Ottilie erfuhr durch einen Zufall, daï¬ die Geschenke von Ferdinanden kamen; sie setzte ihn dar¸ber zu Rede, und als er es gestand, schien sie sehr verdrieï¬lich zu werden. Sie bestand darauf, daï¬ er sie zur¸cknehmen sollte, und diese Zumutung machte ihm die bittersten Schmerzen. Er erklâ°rte ihr, daï¬ er ohne sie nicht leben kËnne noch wolle; er bat sie, ihm ihre Neigung zu erhalten, und beschwor sie, ihm ihre Hand nicht zu versagen, sobald er versorgt und hâ°uslich eingerichtet sein w¸rde. Sie liebte ihn, sie war ger¸hrt, sie sagte ihm zu, was er w¸nschte, und in diesem gl¸cklichen Augenblicke versiegelten sie ihr Versprechen mit den lebhaftesten Umarmungen und mit tausend herzlichen K¸ssen.
Nach ihrer Abreise schien Ferdinand sich sehr allein. Die Gesellschaften, in welchen er sie zu sehen pflegte, reizten ihn nicht mehr, indem sie fehlte. Er besuchte nur noch aus Gewohnheit sowohl Freunde als LustËrter, und nur mit Widerwillen griff er noch einigemal in die Kasse des Vaters, um Ausgaben zu bestreiten, zu denen ihn keine Leidenschaft nËtigte. Er war oft allein, und die gute Seele schien die Oberhand zu gewinnen. Er erstaunte ¸ber sich selbst bei ruhigem Nachdenken, wie er jene Sophistereien ¸ber Recht und Besitz, ¸ber Anspr¸che an fremdes Gut, und wie die Rubriken alle heiï¬en mochten, bei sich auf eine so kalte und schiefe Weise habe durchf¸hren und dadurch eine unerlaubte Handlung beschËnigen kËnnen. Es ward ihm nach und nach deutlich, daï¬ nur Treue und Glauben die Menschen schâ°tzenswert mache, daï¬ der Gute eigentlich leben m¸sse, um alle Gesetze zu beschâ°men, indem ein anderer sie entweder umgehen oder zu seinem Vorteil gebrauchen mag.
Inzwischen, ehe diese wahren und guten Begriffe bei ihm ganz klar wurden und zu herrschenden Entschl¸ssen f¸hrten, unterlag er doch noch einigemal der Versuchung, aus der verbotenen Quelle in dringenden Fâ°llen zu schËpfen. Niemals tat er es aber ohne Widerwillen, und nur wie von einem bËsen Geiste an den Haaren hingezogen.
Endlich ermannte er sich und faï¬te den Entschluï¬, vor allen Dingen die Handlung sich unmËglich zu machen und seinen Vater von dem Zustande des Schlosses zu unterrichten. Er fing es klug an und trug den Kasten mit den nunmehr geordneten Briefen in Gegenwart seines Vaters durch das Zimmer, beging mit Vorsatz die Ungeschicklichkeit, mit dem Kasten wider den Schreibtisch zu stoï¬en, und wie erstaunte der Vater, als er den Deckel auffahren sah! Sie untersuchten beide das Schloï¬ und fanden, daï¬ die Schlieï¬haken durch die Zeit abgenutzt und die Bâ°nder wandelbar waren. Sogleich ward alles repariert, und Ferdinand hatte seit langer Zeit keinen vergn¸gtern Augenblick, als da er das Geld in so guter Verwahrung sah.
Aber dies war ihm nicht genug. Er nahm sich sogleich vor, die Summe, die er seinem Vater entwendet hatte und die er noch wohl wuï¬te, wieder zu sammeln und sie ihm auf eine oder die andere Weise zuzustellen. Er fing nun an, aufs genaueste zu leben und von seinem Taschengelde, was nur mËglich war, zu sparen. Freilich war das nur wenig, was er hier zur¸ckhalten konnte, gegen das, was er sonst verschwendet hatte; indessen schien die Summe schon groï¬, da sie ein Anfang war, sein Unrecht wiedergutzumachen. Und gewiï¬ ist ein ungeheurer Unterschied zwischen dem letzten Taler, den man borgt, und zwischen dem ersten, den man abbezahlt.
Nicht lange war er auf diesem guten Wege, als der Vater sich entschloï¬, ihn in Handelsgeschâ°ften zu verschicken. Er sollte sich mit einer entfernten Fabrikanstalt bekannt machen. Man hatte die Absicht, in einer Gegend, wo die ersten Bed¸rfnisse und die Handarbeit sehr wohlfeil waren, selbst ein Comptoir zu errichten, einen Kompagnon dorthin zu setzen, den Vorteil, den man gegenwâ°rtig andern gËnnen muï¬te, selbst zu gewinnen und durch Geld und Kredit die Anstalt ins Groï¬e zu treiben. Ferdinand sollte die Sache in der Nâ°he untersuchen und davon einen umstâ°ndlichen Bericht abstatten. Der Vater hatte ihm ein Reisegeld ausgesetzt und ihm vorgeschrieben, damit auszukommen; es war reichlich, und er hatte sich nicht dar¸ber zu beklagen.
Auch auf seiner Reise lebte Ferdinand sehr sparsam, rechnete und ¸berrechnete und fand, daï¬ er den dritten Teil seines Reisegeldes ersparen kËnnte, wenn er auf jede Weise sich einzuschrâ°nken fortfahre. Er hoffte nun auch auf Gelegenheit, zu dem ¸brigen nach und nach zu gelangen, und er fand sie. Denn die Gelegenheit ist eine gleichg¸ltige GËttin, sie beg¸nstigt das Gute wie das BËse.
In der Gegend, die er besuchen sollte, fand er alles weit vorteilhafter, als man geglaubt hatte. Jedermann ging in dem alten Schlendrian handwerksmâ°ï¬ig fort. Von neuentdeckten Vorteilen hatte man keine Kenntnis, oder man hatte keinen Gebrauch davon gemacht. Man wendete nur mâ°ï¬ige Summen Geldes auf und war mit einem mâ°ï¬igen Profit zufrieden, und er sah bald ein, daï¬ man mit einem gewissen Kapital, mit Vorsch¸ssen, Einkauf des ersten Materials im groï¬en, mit Anlegung von Maschinen durch die H¸lfe t¸chtiger Werkmeister eine groï¬e und solide Einrichtung w¸rde machen kËnnen.
Er f¸hlte sich durch die Idee dieser mËglichen Tâ°tigkeit sehr erhoben. Die herrliche Gegend, in der ihm jeden Augenblick seine geliebte Ottilie vorschwebte, lieï¬ ihn w¸nschen, daï¬ sein Vater ihn an diesen Platz setzen, ihm das neue Etablissement anvertrauen und ihn so auf eine reichliche und unerwartete Weise ausstatten mËchte.
Er sah alles mit grËï¬erer Aufmerksamkeit, weil er alles schon als das Seinige ansah. Er hatte zum erstenmal Gelegenheit, seine Kenntnisse, seine Geisteskrâ°fte, sein Urteil anzuwenden. Die Gegend sowohl als die Gegenstâ°nde interessierten ihn aufs hËchste, sie waren Labsal und Heilung f¸r sein verwundetes Herz; denn nicht ohne Schmerzen konnte er sich des vâ°terlichen Hauses erinnern, in welchem er wie in einer Art von Wahnsinn eine Handlung begehen konnte, die ihm nun das grËï¬te Verbrechen zu sein schien.
Ein Freund seines Hauses, ein wackerer, aber krâ°nklicher Mann, der selbst den Gedanken eines solchen Etablissements zuerst in Briefen gegeben hatte, war ihm stets zur Seite, zeigte ihm alles, machte ihn mit seinen Ideen bekannt und freute sich, wenn ihm der junge Mensch entgegen-, ja zuvorkam. Dieser Mann f¸hrte ein sehr einfaches Leben teils aus Neigung, teils weil seine Gesundheit es so forderte. Er hatte keine Kinder, eine Nichte pflegte ihn, der er sein VermËgen zugedacht hatte, der er einen wackern und tâ°tigen Mann w¸nschte, um mit Unterst¸tzung eines fremden Kapitals und frischer Krâ°fte dasjenige ausgef¸hrt zu sehen, wovon er zwar einen Begriff hatte, wovon ihn aber seine physischen und Ëkonomischen Umstâ°nde zur¸ckhielten.
Kaum hatte er Ferdinanden gesehen, als ihm dieser sein Mann zu sein schien, und seine Hoffnung wuchs, als er soviel Neigung des jungen Menschen zum Geschâ°ft und zu der Gegend bemerkte. Er lieï¬ seiner Nichte seine Gedanken merken, und diese schien nicht abgeneigt. Sie war ein junges, wohlgebildetes, gesundes und auf jede Weise gutgeartetes Mâ°dchen. Die Sorgfalt f¸r ihres Oheims Haushaltung erhielt sie immer rasch und tâ°tig und die Sorge f¸r seine Gesundheit immer weich und gefâ°llig. Man konnte sich zur Gattin keine vollkommnere Person w¸nschen.
Ferdinand, der nur die Liebensw¸rdigkeit und die Liebe Ottiliens vor Augen hatte, sah ¸ber das gute Landmâ°dchen hinweg oder w¸nschte, wenn Ottilie einst als seine Gattin in diesen Gegenden wohnen w¸rde, ihr eine solche Haushâ°lterin und Beschlieï¬erin beigeben zu kËnnen. Er erwiderte die Freundlichkeit und Gefâ°lligkeit des Mâ°dchens auf eine sehr ungezwungene Weise, er lernte sie nâ°her kennen und sie schâ°tzen; er begegnete ihr bald mit mehrerer Achtung, und sowohl sie als ihr Oheim legten sein Betragen nach ihren W¸nschen aus.
Ferdinand hatte sich nunmehr genau umgesehen und von allem unterrichtet. Er hatte mit H¸lfe des Oheims einen Plan gemacht und nach seiner gewËhnlichen Leichtigkeit nicht verborgen, daï¬ er darauf rechne, selbst den Plan auszuf¸hren. Zugleich hatte er der Nichte viele Artigkeiten gesagt und jede Haushaltung gl¸cklich gepriesen, die einer so sorgfâ°ltigen Wirtin ¸berlassen werden kËnnte. Sie und ihr Onkel glaubten daher, daï¬ er wirklich Absichten habe, und waren in allem um desto gefâ°lliger gegen ihn.
Nicht ohne Zufriedenheit hatte Ferdinand bei seinen Untersuchungen gefunden, daï¬ er nicht allein auf die Zukunft vieles von diesem Platze zu hoffen habe, sondern daï¬ er auch gleich jetzt einen vorteilhaften Handel schlieï¬en, seinem Vater die entwendete Summe wiedererstatten und sich also von dieser dr¸ckenden Last auf einmal befreien kËnne. Er erËffnete seinem Freunde die Absicht seiner Spekulation, der eine auï¬erordentliche Freude dar¸ber hatte und ihm alle mËgliche Beih¸lfe leistete; ja er wollte seinem jungen Freunde alles auf Kredit verschaffen, das dieser jedoch nicht annahm, sondern einen Teil davon sogleich von dem ¸berschusse des Reisegeldes bezahlte und den andern in gehËriger Frist abzutragen versprach.
Mit welcher Freude er die Waren packen und laden lieï¬, war nicht auszusprechen; mit welcher Zufriedenheit er seinen R¸ckweg antrat, lâ°ï¬t sich denken. Denn die hËchste Empfindung, die der Mensch haben kann, ist die, wenn er sich von einem Hauptfehler, ja von einem Verbrechen durch eigne Kraft erhebt und losmacht. Der gute Mensch, der ohne auffallende Abweichung vom rechten Pfade vor sich hinwandelt, gleicht einem ruhigen, lobensw¸rdigen B¸rger, da hingegen jener als ein Held und ¸berwinder Bewunderung und Preis verdient, und in diesem Sinne scheint das paradoxe Wort gesagt zu sein, daï¬ die Gottheit selbst an einem zur¸ckkehrenden S¸nder mehr Freude habe als an neunundneunzig Gerechten.
Aber leider konnte Ferdinand durch seine guten Entschl¸sse, durch seine Besserung und Wiedererstattung die traurigen Folgen der Tat nicht aufheben, die ihn erwarteten und die sein schon wieder beruhigtes Gem¸t aufs neue schmerzlich krâ°nken sollten. Wâ°hrend seiner Abwesenheit hatte sich das Gewitter zusammengezogen, das gerade bei seinem Eintritte in das vâ°terliche Haus losbrechen sollte.
Ferdinands Vater war, wie wir wissen, was seine Privatkasse betraf, nicht der Ordentlichste, die Handlungssachen hingegen wurden von einem geschickten und genauen Associà sehr richtig besorgt. Der Alte hatte das Geld, das ihm der Sohn entwendete, nicht eben gemerkt, auï¬er daï¬ ungl¸cklicherweise darunter ein Paket einer in diesen Gegenden ungewËhnlichen M¸nzsorte gewesen war, die er einem Fremden im Spiel abgewonnen hatte. Diese vermiï¬te er, und der Umstand schien ihm bedenklich. Allein was ihn â°uï¬erst beunruhigte, war, daï¬ ihm einige Rollen, jede mit hundert Dukaten, fehlten, die er vor einiger Zeit verborgt, aber gewiï¬ wiedererhalten hatte. Er wuï¬te, daï¬ der Schreibtisch sonst durch einen Stoï¬ aufgegangen war, er sah als gewiï¬ an, daï¬ er beraubt sei, und geriet dar¸ber in die â°uï¬erste Heftigkeit. Sein Argwohn schweifte auf allen Seiten herum. Unter den f¸rchterlichsten Drohungen und Verw¸nschungen erzâ°hlte er den Vorfall seiner Frau; er wollte das Haus um und um kehren, alle Bedienten, Mâ°gde und Kinder verhËren lassen, niemand blieb von seinem Argwohn frei. Die gute Frau tat ihr mËglichstes, ihren Gatten zu beruhigen; sie stellte ihm vor, in welche Verlegenheit und Diskredit diese Geschichte ihn und sein Haus bringen kËnnte, wenn sie ruchbar w¸rde, daï¬ niemand an dem Ungl¸ck, das uns betreffe, Anteil nehme als nur, um uns durch sein Mitleiden zu dem¸tigen, daï¬ bei einer solchen Gelegenheit weder er noch sie verschont werden w¸rden, daï¬ man noch wunderlichere Anmerkungen machen kËnnte, wenn nichts herauskâ°me, daï¬ man vielleicht den Tâ°ter entdecken und, ohne ihn auf zeitlebens ungl¸cklich zu machen, das Geld wiedererhalten kËnne. Durch diese und andere Vorstellungen bewog sie ihn endlich, ruhig zu bleiben und durch stille Nachforschung der Sache nâ°her zu kommen.
Und leider war die Entdeckung schon nahe genug. Ottiliens Tante war von dem wechselseitigen Versprechen der jungen Leute unterrichtet. Sie wuï¬te von den Geschenken, die ihre Nichte angenommen hatte. Das ganze Verhâ°ltnis war ihr nicht angenehm, und sie hatte nur geschwiegen, weil ihre Nichte abwesend war. Eine sichere Verbindung mit Ferdinand schien ihr vorteilhaft, ein ungewisses Abenteuer war ihr unertrâ°glich. Da sie also vernahm, daï¬ der junge Mensch bald zur¸ckkommen sollte, da sie auch ihre Nichte tâ°glich wieder erwartete, eilte sie, von dem, was geschehen war, den Eltern Nachricht zu geben und ihre Meinung dar¸ber zu hËren, zu fragen, ob eine baldige Versorgung f¸r Ferdinand zu hoffen sei und ob man in eine Heirat mit ihrer Nichte willige.
Die Mutter verwunderte sich nicht wenig, als sie von diesen Verhâ°ltnissen hËrte. Sie erschrak, als sie vernahm, welche Geschenke Ferdinand an Ottilien gegeben hatte. Sie verbarg ihr Erstaunen, bat die Tante, ihr einige Zeit zu lassen, um gelegentlich mit ihrem Manne ¸ber die Sache zu sprechen, versicherte, daï¬ sie Ottilien f¸r eine vorteilhafte Partie halte und daï¬ es nicht unmËglich sei, ihren Sohn nâ°chstens auf eine schickliche Weise auszustatten.
Als die Tante sich entfernt hatte, hielt sie es nicht f¸r râ°tlich, ihrem Manne die Entdeckung zu vertrauen. Ihr lag nur daran, das ungl¸ckliche Geheimnis aufzuklâ°ren, ob Ferdinand, wie sie f¸rchtete, die Geschenke von dem entwendeten Geld gemacht habe. Sie eilte zu dem Kaufmann, der diese Art Geschmeide vorz¸glich verkaufte, feilschte um â°hnliche Dinge und sagte zuletzt, er m¸sse sie nicht ¸berteuern, denn ihrem Sohn, der eine solche Kommission gehabt, habe er die Sachen wohlfeiler gegeben. Der Handelsmann beteuerte: nein! zeigte die Preise genau an und sagte dabei, man m¸sse noch das Agio der Geldsorte hinzurechnen, in der Ferdinand zum Teil bezahlt habe. Er nannte ihr zu ihrer grËï¬ten Betr¸bnis die Sorte; es war die, die dem Vater fehlte.
Sie ging nun, nachdem sie sich zum Scheine die nâ°chsten Preise aufsetzen lassen, mit sehr bedrâ°ngtem Herzen hinweg. Ferdinands Verirrung war zu deutlich, die Rechnung der Summe, die dem Vater fehlte, war groï¬, und sie sah nach ihrer sorglichen Gem¸tsart die schlimmste Tat und die f¸rchterlichsten Folgen. Sie hatte die Klugheit, die Entdeckung vor ihrem Manne zu verbergen; sie erwartete die Zur¸ckkunft ihres Sohnes mit geteilter Furcht und Verlangen. Sie w¸nschte sich aufzuklâ°ren und f¸rchtete, das Schlimmste zu erfahren.
Endlich kam er mit groï¬er Heiterkeit zur¸ck. Er konnte Lob f¸r seine Geschâ°fte erwarten und brachte zugleich in seinen Waren heimlich das LËsegeld mit, wodurch er sich von dem geheimen Verbrechen zu befreien gedachte.
Der Vater nahm seine Relation gut, doch nicht mit solchem Beifall auf, wie er hoffte, denn der Vorgang mit dem Gelde machte den Mann zerstreut und verdrieï¬lich, um so mehr, als er einige ansehnliche Posten in diesem Augenblicke zu bezahlen hatte. Diese Laune des Vaters dr¸ckte ihn sehr, noch mehr die Gegenwart der Wâ°nde, der Mobilien, des Schreibtisches, die Zeugen seines Verbrechens gewesen waren. Seine ganze Freude war hin, seine Hoffnungen und Anspr¸che; er f¸hlte sich als einen gemeinen, ja als einen schlechten Menschen.
Er wollte sich eben nach einem stillen Vertriebe der Waren, die nun bald ankommen sollten, umsehen und sich durch die Tâ°tigkeit aus seinem Elende herausreiï¬en, als die Mutter ihn beiseite nahm und ihm mit Liebe und Ernst sein Vergehen vorhielt und ihm auch nicht den mindesten Ausweg zum Leugnen offen lieï¬. Sein weiches Herz war zerrissen; er warf sich unter tausend Trâ°nen zu ihren F¸ï¬en, bekannte, bat um Verzeihung, beteuerte, daï¬ nur die Neigung zu Ottilien ihn verleiten kËnnen und daï¬ sich keine anderen Laster zu diesem jemals gesellt hâ°tten. Er erzâ°hlte darauf die Geschichte seiner Reue, daï¬ er vorsâ°tzlich dem Vater die MËglichkeit, den Schreibtisch zu erËffnen, entdeckt und daï¬ er durch Ersparnis auf der Reise und durch eine gl¸ckliche Spekulation sich imstande sehe, alles wieder zu ersetzen.
Die Mutter, die nicht gleich nachgeben konnte, bestand darauf, zu wissen, wo er mit den groï¬en Summen hingekommen sei, denn die Geschenke betr¸gen den geringsten Teil. Sie zeigte ihm zu seinem Entsetzen eine Berechnung dessen, was dem Vater fehlte; er konnte sich nicht einmal ganz zu dem Silber bekennen, und hoch und teuer schwur er, von dem Golde nichts anger¸hrt zu haben. Hier¸ber war die Mutter â°uï¬erst zornig. Sie verwies ihm, daï¬ er in dem Augenblicke, da er durch aufrichtige Reue seine Besserung und Bekehrung wahrscheinlich machen sollte, seine liebevolle Mutter noch mit Leugnen, L¸gen und Mâ°rchen aufzuhalten gedenke, daï¬ sie gar wohl wisse: wer des einen fâ°hig sei, sei auch alles ¸brigen fâ°hig. Wahrscheinlich habe er unter seinen liederlichen Kameraden Mitschuldige, wahrscheinlich sei der Handel, den er geschlossen, mit dem entwendeten Gelde gemacht, und schwerlich w¸rde er davon etwas erwâ°hnt haben, wenn die ¸beltat nicht zufâ°llig wâ°re entdeckt worden. Sie drohte ihm mit dem Zorne des Vaters, mit b¸rgerlichen Strafen, mit vËlliger Verstoï¬ung; doch nichts krâ°nkte ihn mehr, als daï¬ sie ihn merken lieï¬, eine Verbindung zwischen ihm und Ottilien sei eben zur Sprache gekommen. Mit ger¸hrtem Herzen verlieï¬ sie ihn in dem traurigsten Zustande. Er sah seinen Fehler entdeckt, er sah sich in dem Verdachte, der sein Verbrechen vergrËï¬erte. Wie wollte er seine Eltern ¸berreden, daï¬ er das Gold nicht angegriffen? Bei der heftigen Gem¸tsart seines Vaters muï¬te er einen Ëffentlichen Ausbruch bef¸rchten; er sah sich im Gegensatze von allem dem, was er sein konnte. Die Aussicht auf ein tâ°tiges Leben, auf eine Verbindung mit Ottilien verschwand. Er sah sich verstoï¬en, fl¸chtig und in fremden Weltgegenden allem Ungemach ausgesetzt.
Aber selbst alles dieses, was seine Einbildungskraft verwirrte, seinen Stolz verletzte, seine Liebe krâ°nkte, war ihm nicht das Schmerzlichste. Am tiefsten verwundete ihn der Gedanke, daï¬ sein redlicher Vorsatz, sein mâ°nnlicher Entschluï¬, sein befolgter Plan, das Geschehene wiedergutzumachen, ganz verkannt, ganz geleugnet, gerade zum Gegenteil ausgelegt werden sollte. Wenn ihn jene Vorstellungen zu einer dunkeln Verzweiflung brachten, indem er bekennen muï¬te, daï¬ er sein Schicksal verdient habe, so ward er durch diese aufs innigste ger¸hrt, indem er die traurige Wahrheit erfuhr, daï¬ eine ¸beltat selbst gute Bem¸hungen zugrunde zu richten imstande ist. Diese R¸ckkehr auf sich selbst, diese Betrachtung, daï¬ das edelste Streben vergebens sein sollte, machte ihn weich; er w¸nschte nicht mehr zu leben.
In diesen Augenblicken d¸rstete seine Seele nach einem hËhern Beistand. Er fiel an seinem Stuhle nieder, den er mit seinen Trâ°nen benetzte, und forderte H¸lfe vom gËttlichen Wesen. Sein Gebet war eines erhËrenswerten Inhalts: der Mensch, der sich selbst vom Laster wieder erhebt, habe Anspruch auf eine unmittelbare H¸lfe; derjenige, der keine seiner Krâ°fte ungebraucht lasse, kËnne sich da, wo sie eben ausgehen, wo sie nicht hinreichen, auf den Beistand des Vaters im Himmel berufen.
In dieser ¸berzeugung, in dieser dringenden Bitte verharrte er eine Zeitlang und bemerkte kaum, daï¬ seine T¸re sich Ëffnete und jemand hereintrat. Es war die Mutter, die mit heiterm Gesichte auf ihn zukam, seine Verwirrung sah und ihn mit trËstlichen Worten anredete. “Wie gl¸cklich bin ich”, sagte sie, “daï¬ ich dich wenigstens als keinen L¸gner finde und daï¬ ich deine Reue f¸r wahr halten kann. Das Gold hat sich gefunden; der Vater, als er es von einem Freunde wiedererhielt, gab es dem Kassier aufzuheben, und durch die vielen Beschâ°ftigungen des Tages zerstreut, hat er es vergessen. Mit dem Silber stimmt deine Angabe ziemlich zusammen, die Summe ist nun viel geringer. Ich konnte die Freude meines Herzens nicht verbergen und versprach dem Vater, die fehlende Summe wieder zu verschaffen, wenn er sich zu beruhigen und weiter nach der Sache nicht zu fragen verspreche.”
Ferdinand ging sogleich zur grËï¬ten Freude ¸ber. Er eilte, sein Handelsgeschâ°ft zu vollbringen, stellte bald der Mutter das Geld zu, ersetzte selbst das, was er nicht genommen hatte, wovon er wuï¬te, daï¬ es bloï¬ durch die Unordnung des Vaters in seinen Ausgaben vermiï¬t wurde. Er war frËhlich und heiter, doch hatte dieser ganze Vorfall eine sehr ernste Wirkung bei ihm zur¸ckgelassen. Er hatte sich ¸berzeugt, daï¬ der Mensch Kraft habe, das Gute zu wollen und zu vollbringen; er glaubte nun auch, daï¬ dadurch der Mensch das gËttliche Wesen f¸r sich interessieren und sich dessen Beistand versprechen kËnne, den er soeben unmittelbar erfahren hatte. Mit groï¬er Freudigkeit entdeckte er nun dem Vater seinen Plan, sich in jenen Gegenden niederzulassen. Er stellte die Anstalt in ihrem ganzen Werte und Umfange vor; der Vater war nicht abgeneigt, und die Mutter entdeckte heimlich ihrem Gatten das Verhâ°ltnis Ferdinands zu Ottilien. Diesem gefiel eine so glâ°nzende Schwiegertochter, und die Aussicht, seinen Sohn ohne Kosten ausstatten zu kËnnen, war ihm sehr angenehm.
“Diese Geschichte gefâ°llt mir”, sagte Luise, als der Alte geendigt hatte, “und ob sie gleich aus dem gemeinen Leben genommen ist, so kommt sie mir doch nicht alltâ°glich vor. Denn wenn wir uns selbst fragen und andere beobachten, so finden wir, daï¬ wir selten durch uns selbst bewogen werden, diesem oder jenem Wunsche zu entsagen; meist sind es die â°uï¬ern Umstâ°nde, die uns dazu nËtigen.”
“Ich w¸nschte”, sagte Karl, “daï¬ wir gar nicht nËtig hâ°tten, uns etwas zu versagen, sondern daï¬ wir dasjenige gar nicht kennten, was wir nicht besitzen sollen. Leider ist in unsern Zustâ°nden alles zusammengedrâ°ngt, alles ist bepflanzt, alle Bâ°ume hâ°ngen voller Fr¸chte, und wir sollen nur immer drunter weggehen, uns an dem Schatten begn¸gen und auf die schËnsten Gen¸sse Verzicht tun.”
“Lassen Sie uns”, sagte Luise zum Alten, “nun Ihre Geschichte weiterhËren!”
Der Alte. “Sie ist wirklich schon aus.”
Luise. “Die Entwicklung haben wir freilich gehËrt; nun mËchten wir aber auch gerne das Ende vernehmen.”
Der Alte. “Sie unterscheiden richtig, und da Sie sich f¸r das Schicksal meines Freundes interessieren, so will ich Ihnen, wie es ihm ergangen, noch k¸rzlich erzâ°hlen.
Befreit von der dr¸ckenden Last eines so hâ°ï¬lichen Vergehens, nicht ohne bescheidne Zufriedenheit mit sich selbst dachte er nun an sein k¸nftiges Gl¸ck und erwartete sehnsuchtsvoll die R¸ckkunft Ottiliens, um sich zu erklâ°ren und sein gegebenes Wort im ganzen Umfange zu erf¸llen. Sie kam in Gesellschaft ihrer Eltern; er eilte zu ihr, er fand sie schËner und heiterer als jemals. Mit Ungeduld erwartete er den Augenblick, in welchem er sie allein sprechen und ihr seine Aussichten vorlegen kËnnte. Die Stunde kam, und mit aller Freude und Zâ°rtlichkeit der Liebe erzâ°hlte er ihr seine Hoffnungen, die Nâ°he seines Gl¸cks und den Wunsch, es mit ihr zu teilen. Allein wie verwundert war er, ja wie best¸rzt, als sie die ganze Sache sehr leichtsinnig, ja, man d¸rfte beinahe sagen, hËhnisch aufnahm. Sie scherzte nicht ganz fein ¸ber die Einsiedelei, die er sich ausgesucht habe, ¸ber die Figur, die sie beide spielen w¸rden, wenn sie sich als Schâ°fer und Schâ°ferin unter ein Strohdach fl¸chteten, und was dergleichen mehr war.
Betroffen und erbittert kehrte er in sich zur¸ck; ihr Betragen hatte ihn verdrossen, und er ward einen Augenblick kalt. Sie war ungerecht gegen ihn gewesen, und nun bemerkte er Fehler an ihr, die ihm sonst verborgen geblieben waren. Auch brauchte es kein sehr helles Auge, um zu sehen, daï¬ ein sogenannter Vetter, der mitangekommen war, ihre Aufmerksamkeit auf sich zog und einen groï¬en Teil ihrer Neigung gewonnen hatte.
Bei dem unleidlichen Schmerz, den Ferdinand empfand, nahm er sich doch bald zusammen, und die ¸berwindung, die ihm schon einmal gelungen war, schien ihm zum zweitenmale mËglich. Er sah Ottilien oft und gewann ¸ber sich, sie zu beobachten; er tat freundlich, ja zâ°rtlich gegen sie und sie nicht weniger gegen ihn; allein ihre Reize hatten ihre grËï¬te Macht verloren, und er f¸hlte bald, daï¬ selten bei ihr etwas aus dem Herzen kam, daï¬ sie vielmehr nach Belieben zâ°rtlich und kalt, reizend und abstoï¬end, angenehm und launisch sein konnte. Sein Gem¸t machte sich nach und nach von ihr los, und er entschloï¬ sich, auch noch die letzten Fâ°den entzweizureiï¬en.
Diese Operation war schmerzhafter, als er sich vorgestellt hatte. Er fand sie eines Tages allein und nahm sich ein Herz, sie an ihr gegebenes Wort zu erinnern und jene Augenblicke ihr ins Gedâ°chtnis zur¸ckzurufen, in denen sie beide, durch das zarteste Gef¸hl gedrungen, eine Abrede auf ihr k¸nftiges Leben genommen hatten. Sie war freundlich, ja man kann fast sagen, zâ°rtlich; er ward weicher und w¸nschte in diesem Augenblicke, daï¬ alles anders sein mËchte, als er es sich vorgestellt hatte. Doch nahm er sich zusammen und trug ihr die Geschichte seines bevorstehenden Etablissements mit Ruhe und Liebe vor. Sie schien sich dar¸ber zu freuen und gewissermaï¬en nur zu bedauern, daï¬ dadurch ihre Verbindung weiter hinausgeschoben werde. Sie gab zu erkennen, daï¬ sie nicht die mindeste Lust habe, die Stadt zu verlassen; sie lieï¬ ihre Hoffnung sehen, daï¬ er sich durch einige Jahre Arbeit in jenen Gegenden in den Stand setzen kËnnte, auch unter seinen jetzigen Mitb¸rgern eine groï¬e Figur zu spielen. Sie lieï¬ ihn nicht undeutlich merken, daï¬ sie von ihm erwarte, daï¬ er k¸nftig noch weiter als sein Vater gehen und sich in allem noch ansehnlicher und rechtlicher zeigen werde.
Nur zu sehr f¸hlte Ferdinand, daï¬ er von einer solchen Verbindung kein Gl¸ck zu erwarten habe, und doch war es schwer, so vielen Reizen zu entsagen. Ja vielleicht wâ°re er ganz unschl¸ssig von ihr weggegangen, hâ°tte ihn nicht der Vetter abgelËst und in seinem Betragen allzuviel Vertraulichkeit gegen Ottilien gezeigt. Ferdinand schrieb ihr darauf einen Brief, worin er ihr nochmals versicherte, daï¬ sie ihn gl¸cklich machen w¸rde, wenn sie ihm zu seiner neuen Bestimmung folgen wollte, daï¬ er aber f¸r beide nicht râ°tlich hielte, eine entfernte Hoffnung auf k¸nftige Zeiten zu nâ°hren und sich auf eine ungewisse Zukunft durch ein Versprechen zu binden.
Noch auf diesen Brief w¸nschte er eine g¸nstige Antwort; allein sie kam nicht wie sein Herz, sondern wie sie seine Vernunft billigen muï¬te. Ottilie gab ihm auf eine sehr zierliche Art sein Wort zur¸ck, ohne sein Herz ganz loszulassen, und eben so sprach das Billet auch von ihren Empfindungen; dem Sinne nach war sie gebunden und ihren Worten nach frei.
Was soll ich nun weiter umstâ°ndlich sein? Ferdinand eilte in jene friedlichen Gegenden zur¸ck, seine Einrichtung war bald gemacht; er war ordentlich und fleiï¬ig und ward es nur um so mehr, als das gute, nat¸rliche Mâ°dchen, die wir schon kennen, ihn als Gattin begl¸ckte und der alte Oheim alles tat, seine hâ°usliche Lage zu sichern und bequem zu machen.
Ich habe ihn in spâ°tern Jahren kennenlernen, umgeben von einer zahlreichen, wohlgebildeten Familie. Er hat mir seine Geschichte selbst erzâ°hlt, und wie es Menschen zu gehen pflegt, denen irgend etwas Bedeutendes in fr¸herer Zeit begegnet, so hatte sich auch jene Geschichte so tief bei ihm eingedr¸ckt, daï¬ sie einen groï¬en Einfluï¬ auf sein Leben hatte. Selbst als Mann und Hausvater pflegte er sich manchmal etwas, das ihm Freude w¸rde gemacht haben, zu versagen, um nur nicht aus der ¸bung einer so schËnen Tugend zu kommen, und seine ganze Erziehung bestand gewissermaï¬en darin, daï¬ seine Kinder sich gleichsam aus dem Stegreife etwas muï¬ten versagen kËnnen.
Auf eine Weise, die ich im Anfang nicht billigen konnte, untersagte er zum Beispiel einem Knaben bei Tische, von einer beliebten Speise zu essen. Zu meiner Verwunderung blieb der Knabe heiter, und es war, als wenn weiter nichts geschehen wâ°re.
Und so lieï¬en die â°ltesten aus eigener Bewegung manchmal ein edles Obst oder sonst einen Leckerbissen vor sich vorbeigehen; dagegen erlaubte er ihnen, ich mËchte wohl sagen, alles, und es fehlte nicht an Arten und Unarten in seinem Hause. Er schien ¸ber alles gleichg¸ltig zu sein und lieï¬ ihnen eine fast unbâ°ndige Freiheit, nur fiel es ihm die Woche einmal ein, daï¬ alles auf die Minute geschehen muï¬te. Alsdann wurden des Morgens gleich die Uhren reguliert, ein jeder erhielt seine Ordre f¸r den Tag, Geschâ°fte und Vergn¸gungen wurden gehâ°uft, und niemand durfte eine Sekunde fehlen. Ich kËnnte Sie stundenlang von seinen Gesprâ°chen und Anmerkungen ¸ber diese sonderbare Art der Erziehung unterhalten. Er scherzte mit mir als einem katholischen Geistlichen ¸ber meine Gel¸bde und behauptete, daï¬ eigentlich jeder Mensch sowohl sich selbst Enthaltsamkeit als andern Gehorsam geloben sollte, nicht um sie immer, sondern um sie zur rechten Zeit auszu¸ben.”
Der Prokurator
Erzâ°hlung aus Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten
(1795)
In einer italienischen Seestadt lebte vorzeiten ein Handelsmann, der sich von Jugend auf durch Tâ°tigkeit und Klugheit auszeichnete. Er war dabei ein guter Seemann und hatte groï¬e Reicht¸mer erworben, indem er selbst nach Alexandria zu schiffen, kostbare Waren zu erkaufen oder einzutauschen pflegte, die er alsdann zu Hause wieder abzusetzen oder in die nËrdlichen Gegenden Europens zu versenden wuï¬te. Sein VermËgen wuchs von Jahr zu Jahr um so mehr, als er in seiner Geschâ°ftigkeit selbst das grËï¬te Vergn¸gen fand und ihm keine Zeit zu kostspieligen Zerstreuungen ¸brigblieb.
Bis in sein funfzigstes Jahr hatte er sich auf diese Weise emsig fortbeschâ°ftigt und ihm war von den geselligen Vergn¸gungen wenig bekannt worden, mit welchen ruhige B¸rger ihr Leben zu w¸rzen verstehen; ebensowenig hatte das schËne Geschlecht, bei allen Vorz¸gen seiner Landsmâ°nninnen, seine Aufmerksamkeit weiter erregt, als insofern er ihre Begierde nach Schmuck und Kostbarkeiten sehr wohl kannte und sie gelegentlich zu nutzen wuï¬te.
Wie wenig versah er sich daher auf die Verâ°nderung, die in seinem Gem¸te vorgehen sollte, als eines Tages sein reich beladen Schiff in den Hafen seiner Vaterstadt einlief, eben an einem jâ°hrlichen Feste, das besonders der Kinder wegen gefeiert wurde. Knaben und Mâ°dchen pflegten nach dem Gottesdienste in allerlei Verkleidungen sich zu zeigen, bald in Prozessionen, bald in Scharen durch die Stadt zu scherzen und sodann im Felde auf einem groï¬en freien Platz allerhand Spiele zu treiben, Kunstst¸cke und Geschicklichkeiten zu zeigen und in artigem Wettstreit ausgesetzte kleine Preise zu gewinnen.
Anfangs wohnte unser Seemann dieser Feier mit Vergn¸gen bei; als er aber die Lebenslust der Kinder und die Freude der Eltern daran lange betrachtet und so viele Menschen im Genuï¬ einer gegenwâ°rtigen Freude und der angenehmsten aller Hoffnungen gefunden hatte, muï¬te ihm bei einer R¸ckkehr auf sich selbst sein einsamer Zustand â°uï¬erst auffallen. Sein leeres Haus fing zum erstenmal an, ihm â°ngstlich zu werden, und er klagte sich selbst in seinen Gedanken an:
“O ich Ungl¸ckseliger! warum gehn mir so spâ°t die Augen auf? Warum erkenne ich erst im Alter jene G¸ter, die allein den Menschen gl¸cklich machen? Soviel M¸he! soviel Gefahren! Was haben sie mir verschafft? Sind gleich meine GewËlbe voll Waren, meine Kisten voll edler Metalle und meine Schrâ°nke voll Schmuck und Kleinodien, so kËnnen doch diese G¸ter mein Gem¸t weder erheitern noch befriedigen. Je mehr ich sie aufhâ°ufe, desto mehr Gesellen scheinen sie zu verlangen; ein Kleinod fordert das andere, ein Goldst¸ck das andere. Sie erkennen mich nicht f¸r den Hausherrn; sie rufen mir ungest¸m zu: “Geh und eile, schaffe noch mehr unsersgleichen herbei! Gold erfreut sich nur des Goldes, das Kleinod des Kleinodes.” So gebieten sie mir schon die ganze Zeit meines Lebens, und erst spâ°t f¸hle ich, daï¬ mir in allem diesem kein Genuï¬ bereitet ist. Leider jetzt, da die Jahre kommen, fange ich an zu denken und sage zu mir: Du genieï¬est diese Schâ°tze nicht, und niemand wird sie nach dir genieï¬en! Hast du jemals eine geliebte Frau damit geschm¸ckt? Hast du eine Tochter damit ausgestattet? Hast du einen Sohn in den Stand gesetzt, sich die Neigung eines guten Mâ°dchens zu gewinnen und zu befestigen? Niemals! Von allen deinen Besitzt¸mern hast du, hat niemand der Deinigen etwas besessen, und was du m¸hsam zusammengebracht hast, wird nach deinem Tode ein Fremder leichtfertig verprassen.
O wie anders werden heute abend jene gl¸cklichen Eltern ihre Kinder um den Tisch versammeln, ihre Geschicklichkeit preisen und sie zu guten Taten aufmuntern! Welche Lust glâ°nzte aus ihren Augen, und welche Hoffnung schien aus dem Gegenwâ°rtigen zu entspringen! Solltest du denn aber selbst gar keine Hoffnung fassen kËnnen? Bist du denn schon ein Greis? Ist es nicht genug, die Versâ°umnis einzusehen, jetzt, da noch nicht aller Tage Abend gekommen ist? Nein, in deinem Alter ist es noch nicht tËricht, ans Freien zu denken, mit deinen G¸tern wirst du ein braves Weib erwerben und gl¸cklich machen, und siehst du noch Kinder in deinem Hause, so werden dir diese spâ°tern Fr¸chte den grËï¬ten Genuï¬ geben, anstatt daï¬ sie oft denen, die sie zu fr¸h vom Himmel erhalten, zur Last werden und zur Verwirrung gereichen.”
Als er durch dieses Selbstgesprâ°ch seinen Vorsatz bei sich befestigt hatte, rief er zwei Schiffsgesellen zu sich und erËffnete ihnen seine Gedanken. Sie, die gewohnt waren, in allen Fâ°llen willig und bereit zu sein, fehlten auch diesmal nicht und eilten, sich in der Stadt nach den j¸ngsten und schËnsten Mâ°dchen zu erkundigen; denn ihr Patron, da er einmal nach dieser Ware l¸stern ward, sollte auch die beste finden und besitzen.
Er selbst feierte so wenig als seine Abgesandten. Er ging, fragte, sah und hËrte und fand bald, was er suchte, in einem Frauenzimmer, das in diesem Augenblick das schËnste der ganzen Stadt genannt zu werden verdiente, ungefâ°hr sechzehn Jahre alt, wohlgebildet und gut erzogen, deren Gestalt und Wesen das Angenehmste zeigte und das Beste versprach.
Nach einer kurzen Unterhandlung, durch welche der vorteilhafteste Zustand sowohl bei Lebzeiten als nach dem Tode des Mannes der SchËnen versichert ward, vollzog man die Heirat mit groï¬er Pracht und Lust, und von diesem Tage an f¸hlte sich unser Handelsmann zum erstenmal im wirklichen Besitz und Genuï¬ seiner Reicht¸mer. Nun verwandte er mit Freuden die schËnsten und reichsten Stoffe zur Bekleidung des schËnen KËrpers, die Juwelen glâ°nzten ganz anders an der Brust und in den Haaren seiner Geliebten als ehemals im Schmuckkâ°stchen, und die Ringe erhielten einen unendlichen Wert von der Hand, die sie trug.
So f¸hlte er sich nicht allein so reich, sondern reicher als bisher, indem seine G¸ter sich durch Teilnehmung und Anwendung zu vermehren schienen. Auf diese Weise lebte das Paar fast ein Jahr lang in der grËï¬ten Zufriedenheit, und er schien seine Liebe zu einem tâ°tigen und herumstreifenden Leben gegen das Gef¸hl hâ°uslicher Gl¸ckseligkeit gâ°nzlich vertauscht zu haben. Aber eine alte Gewohnheit legt sich so leicht nicht ab, und eine Richtung, die wir fr¸h genommen, kann wohl einige Zeit abgelenkt, aber nie ganz unterbrochen werden.
So hatte auch unser Handelsmann oft, wenn er andere sich einschiffen oder gl¸cklich in den Hafen zur¸ckkehren sah, wieder die Regungen seiner alten Leidenschaft gef¸hlt, ja er hatte selbst in seinem Hause an der Seite seiner Gattin manchmal Unruhe und Unzufriedenheit empfunden. Dieses Verlangen vermehrte sich mit der Zeit und verwandelte sich zuletzt in eine solche Sehnsucht, daï¬ er sich â°uï¬erst ungl¸cklich f¸hlen muï¬te und zuletzt wirklich krank ward.
“Was soll nun aus dir werden?” sagte er zu sich selbst. “Du erfâ°hrst nun, wie tËricht es ist, in spâ°ten Jahren eine alte Lebensweise gegen eine neue zu vertauschen. Wie sollen wir das, was wir immer getrieben und gesucht haben, aus unsern Gedanken, ja aus unsern Gliedern wieder herausbringen? Und wie geht es mir nun, der ich bisher wie ein Fisch das Wasser, wie ein Vogel die freie Luft geliebt, da ich mich in einem Gebâ°ude bei allen Schâ°tzen und bei der Blume aller Reicht¸mer, bei einer schËnen jungen Frau eingesperrt habe? Anstatt daï¬ ich dadurch hoffte, Zufriedenheit zu gewinnen und meiner G¸ter zu genieï¬en, so scheint es mir, daï¬ ich alles verliere, indem ich nichts weiter erwerbe. Mit Unrecht hâ°lt man die Menschen f¸r Toren, welche in rastloser Tâ°tigkeit G¸ter auf G¸ter zu hâ°ufen suchen; denn die Tâ°tigkeit ist das Gl¸ck, und f¸r den, der die Freuden eines ununterbrochenen Bestrebens empfinden kann, ist der erworbene Reichtum ohne Bedeutung. Aus Mangel an Beschâ°ftigung werde ich elend, aus Mangel an Bewegung krank, und wenn ich keinen andern Entschluï¬ fasse, so bin ich in kurzer Zeit dem Tode nahe.
Freilich ist es ein gewagtes Unternehmen, sich von einer jungen, liebensw¸rdigen Frau zu entfernen. Ist es billig, um ein reizendes und reizbares Mâ°dchen zu freien und sie nach einer kurzen Zeit sich selbst, der Langenweile, ihren Empfindungen und Begierden zu ¸berlassen? Spazieren diese jungen, seidnen Herren nicht schon jetzt vor meinen Fenstern auf und ab? Suchen sie nicht schon jetzt in der Kirche und in Gâ°rten die Aufmerksamkeit meines Weibchens an sich zu ziehen? Und was wird erst geschehen, wenn ich weg bin? Soll ich glauben, daï¬ mein Weib durch ein Wunder gerettet werden kËnnte? Nein, in ihrem Alter, bei ihrer Konstitution wâ°re es tËricht zu hoffen, daï¬ sie sich der Freuden der Liebe enthalten kËnnte. Entfernst du dich, so wirst du bei deiner R¸ckkunft die Neigung deines Weibes und ihre Treue zugleich mit der Ehre deines Hauses verloren haben.”
Diese Betrachtungen und Zweifel, mit denen er sich eine Zeitlang quâ°lte, verschlimmerten den Zustand, in dem er sich befand, aufs â°uï¬erste. Seine Frau, seine Verwandten und Freunde betr¸bten sich um ihn, ohne daï¬ sie die Ursache seiner Krankheit hâ°tten entdecken kËnnen. Endlich ging er nochmals bei sich zu Rate und rief nach einiger ¸berlegung aus: “TËrichter Mensch! du lâ°ssest es dir so sauer werden, ein Weib zu bewahren, das du doch bald, wenn dein ¸bel fortdauert, sterbend hinter dir und einem andern lassen muï¬t. Ist es nicht wenigstens kl¸ger und besser, du suchst das Leben zu erhalten, wenn du gleich in Gefahr kommst, an ihr dasjenige zu verlieren, was als das hËchste Gut der Frauen geschâ°tzt wird? Wie mancher Mann kann durch seine Gegenwart den Verlust dieses Schatzes nicht hindern und vermiï¬t geduldig, was er nicht erhalten kann! Warum solltest du nicht den Mut haben, dich eines solchen Gutes zu entschlagen, da von diesem Entschlusse dein Leben abhâ°ngt?”
Mit diesen Worten ermannte er sich und lieï¬ seine Schiffsgesellen rufen. Er trug ihnen auf, nach gewohnter Weise ein Fahrzeug zu befrachten und alles bereit zu halten, daï¬ sie bei dem ersten g¸nstigen Winde auslaufen kËnnten. Darauf erklâ°rte er sich gegen seine Frau folgendermaï¬en:
“Laï¬ dich nicht befremden, wenn du in dem Hause eine Bewegung siehst, woraus du schlieï¬en kannst, daï¬ ich mich zu einer Abreise anschicke! Betr¸be dich nicht, wenn ich dir gestehe, daï¬ ich abermals eine Seefahrt zu unternehmen gedenke! Meine Liebe zu dir ist noch immer dieselbe, und sie wird es gewiï¬ in meinem ganzen Leben bleiben. Ich erkenne den Wert des Gl¸cks, das ich bisher an deiner Seite genoï¬, und w¸rde ihn noch reiner f¸hlen, wenn ich mir nicht oft Vorw¸rfe der Untâ°tigkeit und Nachlâ°ssigkeit im stillen machen m¸ï¬te. Meine alte Neigung wacht wieder auf, und meine alte Gewohnheit zieht mich wieder an. Erlaube mir, daï¬ ich den Markt von Alexandrien wiedersehe, den ich jetzt mit grËï¬erem Eifer besuchen werde, weil ich dort die kËstlichsten Stoffe und die edelsten Kostbarkeiten f¸r dich zu gewinnen denke. Ich lasse dich im Besitz aller meiner G¸ter und meines ganzen VermËgens; bediene dich dessen und vergn¸ge dich mit deinen Eltern und Verwandten! Die Zeit der Abwesenheit geht auch vor¸ber, und mit vielfacher Freude werden wir uns wiedersehen.”
Nicht ohne Trâ°nen machte ihm die liebensw¸rdige Frau die zâ°rtlichsten Vorw¸rfe, versicherte, daï¬ sie ohne ihn keine frËhliche Stunde hinbringen werde, und bat ihn nur, da sie ihn weder halten kËnne noch einschrâ°nken wolle, daï¬ er ihrer auch in der Abwesenheit zum besten gedenken mËge.
Nachdem er darauf verschiedenes mit ihr ¸ber einige Geschâ°fte und hâ°usliche Angelegenheiten gesprochen, sagte er nach einer kleinen Pause: “Ich habe nun noch etwas auf dem Herzen, davon du mir frei zu reden erlauben muï¬t; nur bitte ich dich aufs herzlichste, nicht zu miï¬deuten, was ich sage, sondern auch selbst in dieser Besorgnis meine Liebe zu erkennen.”
“Ich kann es erraten”, versetzte die SchËne darauf; “du bist meinetwegen besorgt, indem du nach Art der Mâ°nner unser Geschlecht ein f¸r allemal f¸r schwach hâ°ltst. Du hast mich bisher jung und froh gekannt, und nun glaubst du, daï¬ ich in deiner Abwesenheit leichtsinnig und verf¸hrbar sein werde. Ich schelte diese Sinnesart nicht, denn sie ist bei euch Mâ°nnern gewËhnlich; aber wie ich mein Herz kenne, darf ich dir versichern, daï¬ nichts so leicht Eindruck auf mich machen und kein mËglicher Eindruck so tief wirken soll, um mich von dem Wege abzuleiten, auf dem ich bisher an der Hand der Liebe und Pflicht hinwandelte. Sei ohne Sorgen; du sollst deine Frau so zâ°rtlich und treu bei deiner R¸ckkunft wiederfinden, als du sie abends fandest, wenn du nach einer kleinen Abwesenheit in meine Arme zur¸ckkehrtest.”
“Diese Gesinnungen traue ich dir zu”, versetzte der Gemahl, “und bitte dich, darin zu verharren. Laï¬ uns aber an die â°uï¬ersten Fâ°lle denken; warum soll man sich nicht auch darauf vorsehen? Du weiï¬t, wie sehr deine schËne und reizende Gestalt die Augen unserer jungen Mitb¸rger auf sich zieht; sie werden sich in meiner Abwesenheit noch mehr als bisher um dich bem¸hen, sie werden sich dir auf alle Weise zu nâ°hern, ja zu gefallen suchen. Nicht immer wird das Bild deines Gemahls, wie jetzt seine Gegenwart, sie von deiner T¸re und deinem Herzen verscheuchen. Du bist ein edles und gutes Kind, aber die Forderungen der Natur sind rechtmâ°ï¬ig und gewaltsam; sie stehen mit unserer Vernunft bestâ°ndig im Streite und tragen gewËhnlich den Sieg davon. Unterbrich mich nicht! Du wirst gewiï¬ in meiner Abwesenheit, selbst bei dem pflichtmâ°ï¬igen Andenken an mich, das Verlangen empfinden, wodurch das Weib den Mann anzieht und von ihm angezogen wird. Ich werde eine Zeitlang der Gegenstand deiner W¸nsche sein; aber wer weiï¬, was f¸r Umstâ°nde zusammentreffen, was f¸r Gelegenheiten sich finden, und ein anderer wird in der Wirklichkeit ernten, was die Einbildungskraft mir zugedacht hatte. Werde nicht ungeduldig, ich bitte dich, hËre mich aus!
Sollte der Fall kommen, dessen MËglichkeit du leugnest und den ich auch nicht zu beschleunigen w¸nsche, daï¬ du ohne die Gesellschaft eines Mannes nicht lâ°nger bleiben, die Freuden der Liebe nicht wohl entbehren kËnntest, so versprich mir nur, an meine Stelle keinen von den leichtsinnigen Knaben zu wâ°hlen, die, so artig sie auch aussehen mËgen, der Ehre noch mehr als der Tugend einer Frau gefâ°hrlich sind. Mehr durch Eitelkeit als durch Begierde beherrscht, bem¸hen sie sich um eine jede und finden nichts nat¸rlicher, als eine der andern aufzuopfern. F¸hlst du dich geneigt, dich nach einem Freunde umzusehen, so forsche nach einem, der diesen Namen verdient, der bescheiden und verschwiegen die Freuden der Liebe noch durch die Wohltat des Geheimnisses zu erheben weiï¬.”
Hier verbarg die schËne Frau ihren Schmerz nicht lâ°nger, und die Trâ°nen, die sie bisher zur¸ckgehalten hatte, st¸rzten reichlich aus ihren Augen. “Was du auch von mir denken magst”, rief sie nach einer leidenschaftlichen Umarmung aus, “so ist doch nichts entfernter von mir als das Verbrechen, das du gewissermaï¬en f¸r unvermeidlich hâ°ltst. MËge, wenn jemals auch nur ein solcher Gedanke in mir entsteht, die Erde sich auftun und mich verschlingen, und mËge alle Hoffnung der Seligkeit mir entrissen werden, die uns eine so reizende Fortdauer unsers Daseins verspricht. Entferne das Miï¬trauen aus deiner Brust und laï¬ mir die ganze reine Hoffnung, dich bald wieder in meinen Armen zu sehen!”
Nachdem er auf alle Weise seine Gattin zu beruhigen gesucht, schiffte er sich den andern Morgen ein; seine Fahrt war gl¸cklich, und er gelangte bald nach Alexandrien.
Indessen lebte seine Gattin in dem ruhigen Besitz eines groï¬en VermËgens nach aller Lust und Bequemlichkeit, jedoch eingezogen, und pflegte auï¬er ihren Eltern und Verwandten niemand zu sehen, und indem die Geschâ°fte ihres Mannes durch getreue Diener fortgef¸hrt wurden, bewohnte sie ein groï¬es Haus, in dessen prâ°chtigen Zimmern sie mit Vergn¸gen tâ°glich das Andenken ihres Gemahls erneuerte.
So sehr sie aber auch sich stille hielt und eingezogen lebte, waren doch die jungen Leute der Stadt nicht untâ°tig geblieben. Sie versâ°umten nicht, hâ°ufig vor ihrem Fenster vorbeizugehen, und suchten des Abends durch Musik und Gesâ°nge ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Die schËne Einsame fand anfangs diese Bem¸hungen unbequem und lâ°stig, doch gewËhnte sie sich bald daran und lieï¬ an den langen Abenden, ohne sich zu bek¸mmern, woher sie kâ°men, die Serenaden als eine angenehme Unterhaltung sich gefallen und konnte dabei manchen Seufzer, der ihrem Abwesenden galt, nicht zur¸ckhalten.
Anstatt daï¬ ihre unbekannten Verehrer, wie sie hoffte, nach und nach m¸de geworden wâ°ren, schienen sich ihre Bem¸hungen noch zu vermehren und zu einer bestâ°ndigen Dauer anzulassen. Sie konnte nun die wiederkehrenden Instrumente und Stimmen, die wiederholten Melodien schon unterscheiden und bald sich die Neugierde nicht mehr versagen, zu wissen, wer die Unbekannten und besonders wer die Beharrlichen sein mËchten. Sie durfte sich zum Zeitvertreib eine solche Teilnahme wohl erlauben.
Sie fing daher an, von Zeit zu Zeit durch ihre Vorhâ°nge und Halblâ°den nach der Straï¬e zu sehen, auf die Vorbeigehenden zu merken und besonders die Mâ°nner zu unterscheiden, die ihre Fenster am lâ°ngsten im Auge behielten. Es waren meist schËne, wohlgekleidete junge Leute, die aber freilich in Gebâ°rden sowohl als in ihrem ganzen â°uï¬ern ebensoviel Leichtsinn als Eitelkeit sehen lieï¬en. Sie schienen mehr durch ihre Aufmerksamkeit auf das Haus der SchËnen sich merkw¸rdig machen als jener eine Art von Verehrung beweisen zu wollen.
“Wahrlich”, sagte die Dame manchmal scherzend zu sich selbst, “mein Mann hat einen klugen Einfall gehabt! Durch die Bedingung, unter der er mir einen Liebhaber zugesteht, schlieï¬t er alle diejenigen aus, die sich um mich bem¸hen und dir mir allenfalls gefallen kËnnten. Er weiï¬ wohl, daï¬ Klugheit, Bescheidenheit und Verschwiegenheit Eigenschaften eines ruhigen Alters sind, die zwar unser Verstand schâ°tzt, die aber unsre Einbildungskraft keinesweges aufzuregen noch unsre Neigung anzureizen imstande sind. Vor diesen, die mein Haus mit ihren Artigkeiten belagern, bin ich sicher, daï¬ sie kein Vertrauen erwecken, und die, denen ich mein Vertrauen schenken kËnnte, finde ich nicht im mindesten liebensw¸rdig.”
In der Sicherheit dieser Gedanken erlaubte sie sich immer mehr, dem Vergn¸gen an der Musik und an der Gestalt der vorbeigehenden J¸nglinge nachzuhâ°ngen, und ohne daï¬ sie es merkte, wuchs nach und nach ein unruhiges Verlangen in ihrem Busen, dem sie nur zu spâ°t zu widerstreben gedachte. Die Einsamkeit und der M¸ï¬iggang, das bequeme, gute und reichliche Leben waren ein Element, in welchem sich eine unregelmâ°ï¬ige Begierde fr¸her, als das gute Kind dachte, entwickeln muï¬te.
Sie fing nun an, jedoch mit stillen Seufzern, unter den Vorz¸gen ihres Gemahls auch seine Welt–und Menschenkenntnis, besonders die Kenntnis des weiblichen Herzens zu bewundern. “So war es also doch mËglich, was ich ihm so lebhaft abstritt”, sagte sie zu sich selbst, “und so war es also doch nËtig, in einem solchen Falle mir Vorsicht und Klugheit anzuraten! Doch was kËnnen Vorsicht und Klugheit da, wo der unbarmherzige Zufall nur mit einem unbestimmten Verlangen zu spielen scheint! Wie soll ich den wâ°hlen, den ich nicht kenne? Und bleibt bei nâ°herer Bekanntschaft noch eine Wahl ¸brig?”
Mit solchen und hundert andern Gedanken vermehrte die schËne Frau das ¸bel, das bei ihr schon weit genug um sich gegriffen hatte. Vergebens suchte sie sich zu zerstreuen; jeder angenehme Gegenstand machte ihre Empfindung rege, und ihre Empfindung brachte, auch in der tiefsten Einsamkeit, angenehme Bilder in ihrer Einbildungskraft hervor.
In solchem Zustande befand sie sich, als sie unter andern Stadtneuigkeiten von ihren Verwandten vernahm, es sei ein junger Rechtsgelehrter, der zu Bologna studiert habe, soeben in seine Vaterstadt zur¸ckgekommen. Man wuï¬te nicht genug zu seinem Lobe zu sagen. Bei auï¬erordentlichen Kenntnissen zeigte er eine Klugheit und Gewandtheit, die sonst J¸nglingen nicht eigen ist, und bei einer sehr reizenden Gestalt die grËï¬te Bescheidenheit. Als Prokurator hatte er bald das Zutrauen der B¸rger und die Achtung der Richter gewonnen. Tâ°glich fand er sich auf dem Rathause ein, um daselbst seine Geschâ°fte zu besorgen und zu betreiben.
Die SchËne hËrte die Schilderung eines so vollkommenen Mannes nicht ohne Verlangen, ihn nâ°her kennenzulernen, und nicht ohne stillen Wunsch, in ihm denjenigen zu finden, dem sie ihr Herz, selbst nach der Vorschrift ihres Mannes, ¸bergeben kËnnte. Wie aufmerksam ward sie daher, als sie vernahm, daï¬ er tâ°glich vor ihrem Hause vorbeigehe; wie sorgfâ°ltig beobachtete sie die Stunde, in der man auf dem Rathause sich zu versammeln pflegte! Nicht ohne Bewegung sah sie ihn endlich vorbeigehen, und wenn seine schËne Gestalt und seine Jugend f¸r sie notwendig reizend sein muï¬ten, so war seine Bescheidenheit von der andern Seite dasjenige, was sie in Sorgen versetzte.
Einige Tage hatte sie ihn heimlich beobachtet und konnte nun dem Wunsche nicht lâ°nger widerstehen, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sie kleidete sich mit Sorgfalt, trat auf den Balkon, und das Herz schlug ihr, als sie ihn die Straï¬e herkommen sah. Allein wie betr¸bt, ja beschâ°mt war sie, als er wie gewËhnlich mit bedâ°chtigen Schritten, in sich gekehrt und mit niedergeschlagenen Augen, ohne sie auch nur zu bemerken, auf das zierlichste seines Weges vorbeiging.
Vergebens versuchte sie mehrere Tage hintereinander auf ebendiese Weise, von ihm bemerkt zu werden. Immer ging er seinen gewËhnlichen Schritt, ohne die Augen aufzuschlagen oder da–und dorthin zu wenden. Je mehr sie ihn aber ansah, desto mehr schien er ihr derjenige zu sein, dessen sie so sehr bedurfte. Ihre Neigung ward tâ°glich lebhafter und, da sie ihr nicht widerstand, endlich ganz und gar gewaltsam. “Wie!” sagte sie zu sich selbst, “nachdem dein edler, verstâ°ndiger Mann den Zustand vorausgesehen, in dem du dich in seiner Abwesenheit befinden w¸rdest, da seine Weissagung eintrifft, daï¬ du ohne Freund und G¸nstling nicht leben kannst, sollst du dich nun verzehren und abhâ°rmen zu der Zeit, da dir das Gl¸ck einen J¸ngling zeigt, vËllig nach deinem Sinne, nach dem Sinne deines Gatten, einen J¸ngling, mit dem du die Freuden der Liebe in einem undurchdringlichen Geheimnis genieï¬en kannst? TËricht, wer die Gelegenheit versâ°umt, tËricht, wer der gewaltsamen Liebe widerstehen will!” Mit solchen und vielen andern Gedanken suchte sich die schËne Frau in ihrem Vorsatze zu stâ°rken, und nur kurze Zeit ward sie noch von Ungewiï¬heit hin und her getrieben. Endlich aber, wie es begegnet, daï¬ eine Leidenschaft, welcher wir lange widerstehen, uns zuletzt auf einmal dahinreiï¬t und unser Gem¸t dergestalt erhËht, daï¬ wir auf Besorgnis und Furcht, Zur¸ckhaltung und Scham, Verhâ°ltnisse und Pflichten mit Verachtung als auf kleinliche Hindernisse zur¸cksehen, so faï¬te sie auf einmal den raschen Entschluï¬, ein junges Mâ°dchen, das ihr diente, zu dem geliebten Manne zu schicken und, es koste nun, was es wolle, zu seinem Besitze zu gelangen.
Das Mâ°dchen eilte und fand ihn, als er eben mit vielen Freunden zu Tische saï¬, und richtete ihren Gruï¬, den ihre Frau sie gelehrt hatte, p¸nktlich aus. Der junge Prokurator wunderte sich nicht ¸ber diese Botschaft; er hatte den Handelsmann in seiner Jugend gekannt, er wuï¬te, daï¬ er gegenwâ°rtig abwesend war, und ob er gleich von seiner Heirat nur von weitem gehËrt hatte, vermutete er doch, daï¬ die zur¸ckgelassene Frau in der Abwesenheit ihres Mannes wahrscheinlich in einer wichtigen Sache seines rechtlichen Beistandes bed¸rfe. Er antwortete deswegen dem Mâ°dchen auf das verbindlichste und versicherte, daï¬ er, sobald man von der Tafel aufgestanden, nicht sâ°umen w¸rde, ihrer Gebieterin aufzuwarten. Mit unaussprechlicher Freude vernahm die schËne Frau, daï¬ sie den Geliebten nun bald sehen und sprechen sollte. Sie eilte, sich aufs beste anzuziehen, und lieï¬ geschwind ihr Haus und ihre Zimmer auf das reinlichste ausputzen. Orangenblâ°tter und Blumen wurden gestreut, der Sofa mit den kËstlichsten Teppichen bedeckt. So ging die kurze Zeit, die er ausblieb, beschâ°ftigt hin, die ihr sonst unertrâ°glich lang geworden wâ°re.
Mit welcher Bewegung ging sie ihm entgegen, als er endlich ankam, mit welcher Verwirrung hieï¬ sie ihn, indem sie sich auf das Ruhebett niederlieï¬, auf ein Taburett sitzen, das zunâ°chst dabeistand! Sie verstummte in seiner so erw¸nschten Nâ°he, sie hatte nicht bedacht, was sie ihm sagen wollte; auch er war still und saï¬ bescheiden vor ihr. Endlich ermannte sie sich und sagte nicht ohne Sorge und Beklommenheit:
“Sie sind noch nicht lange in Ihrer Vaterstadt wiederangekommen, mein Herr, und schon sind Sie allenthalben f¸r einen talentreichen und zuverlâ°ssigen Mann bekannt. Auch ich setze mein Vertrauen auf Sie in einer wichtigen und sonderbaren Angelegenheit, die, wenn ich es recht bedenke, eher f¸r den Beichtvater als f¸r den Sachwalter gehËrt. Seit einem Jahre bin ich an einen w¸rdigen und reichen Mann verheiratet, der, solange wir zusammenlebten, die grËï¬te Aufmerksamkeit f¸r mich hatte und ¸ber den ich mich nicht beklagen w¸rde, wenn nicht ein unruhiges Verlangen zu reisen und zu handeln ihn seit einiger Zeit aus meinen Armen gerissen hâ°tte.
Als ein verstâ°ndiger und gerechter Mann f¸hlte er wohl das Unrecht, das er mir durch seine Entfernung antat. Er begriff, daï¬ ein junges Weib nicht wie Juwelen und Perlen verwahrt werden kËnne; er wuï¬te, daï¬ sie vielmehr einem Garten voll schËner Fr¸chte gleicht, die f¸r jedermann so wie f¸r den Herrn verloren wâ°ren, wenn er eigensinnig die T¸re auf einige Jahre verschlieï¬en wollte. Er sprach mir daher vor seiner Abreise sehr ernstlich zu, er versicherte mir, daï¬ ich ohne Freund nicht w¸rde leben kËnnen, er gab mir dazu nicht allein die Erlaubnis, sondern er drang in mich und nËtigte mir gleichsam das Versprechen ab, daï¬ ich der Neigung, die sich in meinem Herzen finden w¸rde, frei und ohne Anstand folgen wollte.”
Sie hielt einen Augenblick inne, aber bald gab ihr ein vielversprechender Blick des jungen Mannes Mut genug, in ihrem Bekenntnis fortzufahren.
“Eine einzige Bedingung f¸gte mein Gemahl zu seiner ¸brigens so nachsichtigen Erlaubnis. Er empfahl mir die â°uï¬erste Vorsicht und verlangte ausdr¸cklich, daï¬ ich mir einen gesetzten, zuverlâ°ssigen, klugen und verschwiegenen Freund wâ°hlen sollte. Ersparen Sie mir, das ¸brige zu sagen, mein Herr, ersparen Sie mir die Verwirrung, mit der ich Ihnen bekennen w¸rde, wie sehr ich f¸r Sie eingenommen bin, und erraten Sie aus diesem Zutrauen meine Hoffnungen und meine W¸nsche.”
Nach einer kurzen Pause versetzte der junge, liebensw¸rdige Mann mit gutem Bedachte: “Wie sehr bin ich Ihnen f¸r das Vertrauen verbunden, durch welches Sie mich in einem so hohen Grade ehren und gl¸cklich machen! Ich w¸nsche nur lebhaft, Sie zu ¸berzeugen, daï¬ Sie sich an keinen Unw¸rdigen gewendet haben. Lassen Sie mich Ihnen zuerst als Rechtsgelehrter antworten; und als ein solcher gesteh ich Ihnen, daï¬ ich Ihren Gemahl bewundere, der sein Unrecht so deutlich gef¸hlt und eingesehen hat, denn es ist gewiï¬, daï¬ einer, der ein junges Weib zur¸cklâ°ï¬t, um ferne Weltgegenden zu besuchen, als ein solcher anzusehen ist, der irgendein anderes Besitztum vËllig derelinquiert und durch die deutlichste Handlung auf alles Recht daran Verzicht tut. Wie es nun dem ersten besten erlaubt ist, eine solche vËllig ins Freie gefallene Sache wieder zu ergreifen, so muï¬ ich es um so mehr f¸r nat¸rlich und billig halten, daï¬ eine junge Frau, die sich in diesem Zustande befindet, ihre Neigung abermals verschenke und sich einem Freunde, der ihr angenehm und zuverlâ°ssig scheint, ohne Bedenken ¸berlasse.
Tritt nun aber gar wie hier der Fall ein, daï¬ der Ehemann selbst, seines Unrechts sich bewuï¬t, mit ausdr¸cklichen Worten seiner hinterlassenen Frau dasjenige erlaubt, was er ihr nicht verbieten kann, so bleibt gar kein Zweifel ¸brig, um so mehr, da demjenigen kein Unrecht geschieht, der es willig zu ertragen erklâ°rt hat.
Wenn Sie mich nun”, fuhr der junge Mann mit ganz andern Blicken und dem lebhaftesten Ausdrucke fort, indem er die schËne Freundin bei der Hand nahm, “wenn Sie mich zu Ihrem Diener erwâ°hlen, so machen Sie mich mit einer Gl¸ckseligkeit bekannt, von der ich bisher keinen Begriff hatte. Sein Sie versichert”, rief er aus, indem er die Hand k¸ï¬te, “daï¬ Sie keinen ergebnern, zâ°rtlichern, treuern und verschwiegenern Diener hâ°tten finden kËnnen!”
Wie beruhigt f¸hlte sich nach dieser Erklâ°rung die schËne Frau. Sie scheute sich nicht, ihm ihre Zâ°rtlichkeit aufs lebhafteste zu zeigen; sie dr¸ckte seine Hâ°nde, drâ°ngte sich nâ°her an ihn und legte ihr Haupt auf seine Schulter. Nicht lange blieben sie in dieser Lage, als er sich auf eine sanfte Weise von ihr zu entfernen suchte und nicht ohne Betr¸bnis zu reden begann: “Kann sich wohl ein Mensch in einem seltsamern Verhâ°ltnisse befinden? Ich bin gezwungen, mich von Ihnen zu entfernen und mir die grËï¬te Gewalt anzutun in einem Augenblicke, da ich mich den s¸ï¬esten Gef¸hlen ¸berlassen sollte. Ich darf mir das Gl¸ck, das mich in Ihren Armen erwartet, gegenwâ°rtig nicht zueignen. Ach! wenn nur der Aufschub mich nicht um meine schËnsten Hoffnungen betriegt!”
Die SchËne fragte â°ngstlich nach der Ursache dieser sonderbaren â°uï¬erung.
“Eben als ich in Bologna”, versetzte er, “am Ende meiner Studien war und mich aufs â°uï¬erste angriff, mich zu meiner k¸nftigen Bestimmung geschickt zu machen, verfiel ich in eine schwere Krankheit, die, wo nicht mein Leben zu zerstËren, doch meine kËrperlichen und Geisteskrâ°fte zu zerr¸tten drohte. In der grËï¬ten Not und unter den heftigsten Schmerzen tat ich der Mutter Gottes ein Gel¸bde, daï¬ ich, wenn sie mich genesen lieï¬e, ein Jahr lang in strengem Fasten zubringen und mich alles Genusses, von welcher Art er auch sei, enthalten wolle. Schon zehn Monate habe ich mein Gel¸bde auf das treulichste erf¸llt, und sie sind mir in Betrachtung der groï¬en Wohltat, die ich erhalten, keinesweges lang geworden, da es mir nicht beschwerlich ward, manches gewohnte und bekannte Gute zu entbehren. Aber zu welcher Ewigkeit werden mir nun zwei Monate, die noch ¸brig sind, da mir erst nach Verlauf derselben ein Gl¸ck zuteil werden kann, welches alle Begriffe ¸bersteigt! Lassen Sie sich die Zeit nicht lang werden und entziehen Sie mir Ihre Gunst nicht, die Sie mir so freiwillig zugedacht haben!”
Die SchËne, mit dieser Erklâ°rung nicht sonderlich zufrieden, faï¬te doch wieder bessern Mut, als der Freund nach einigem Nachdenken zu reden fortfuhr: “Ich wagte kaum, Ihnen einen Vorschlag zu tun und das Mittel anzuzeigen, wodurch ich fr¸her von meinem Gel¸bde entbunden werden kann. Wenn ich jemand fâ°nde, der so streng und sicher wie ich das Gel¸bde zu halten ¸bernâ°hme und die Hâ°lfte der noch ¸brigen Zeit mit mir teilte, so w¸rde ich um so geschwinder frei sein, und nichts w¸rde sich unsern W¸nschen entgegenstellen. Sollten Sie nicht, meine s¸ï¬e Freundin, um unser Gl¸ck zu beschleunigen, willig sein, einen Teil des Hindernisses, das uns entgegensieht, hinwegzurâ°umen? Nur der zuverlâ°ssigsten Person kann ich einen Anteil an meinem Gel¸bde ¸bertragen; es ist streng, denn ich darf des Tages nur zweimal Brot und Wasser genieï¬en, darf des Nachts nur wenige Stunden auf einem harten Lager zubringen und muï¬ ungeachtet meiner vielen Geschâ°fte eine groï¬e Anzahl Gebete verrichten. Kann ich, wie es mir heute geschehen ist, nicht vermeiden, bei einem Gastmahl zu erscheinen, so darf ich deswegen doch nicht meine Pflicht hintansetzen, vielmehr muï¬ ich den Reizungen aller Leckerbissen, die an mir vor¸bergehen, zu widerstehen suchen. KËnnen Sie sich entschlieï¬en, einen Monat lang gleichfalls alle diese Gesetze zu befolgen, so werden Sie alsdann sich selbst in dem Besitz eines Freundes desto mehr erfreuen, als Sie ihn durch ein so lobensw¸rdiges Unternehmen gewissermaï¬en selbst erworben haben.”
Die schËne Dame vernahm ungern die Hindernisse, die sich ihrer Neigung entgegensetzten; doch war ihre Liebe zu dem jungen Manne durch seine Gegenwart dergestalt vermehrt worden, daï¬ ihr keine Pr¸fung zu streng schien, wenn ihr nur dadurch der Besitz eines so werten Gutes versichert werden konnte. Sie sagte ihm daher mit den gefâ°lligsten Ausdr¸cken: “Mein s¸ï¬er Freund! das Wunder, wodurch Sie Ihre Gesundheit wiedererlangt haben, ist mir selbst so wert und verehrungsw¸rdig, daï¬ ich es mir zur Freude und Pflicht mache, an dem Gel¸bde teilzunehmen, das Sie dagegen zu erf¸llen schuldig sind. Ich freue mich, Ihnen einen so sichern Beweis meiner Neigung zu geben; ich will mich auf das genaueste nach Ihrer Vorschrift richten, und ehe Sie mich lossprechen, soll mich nichts von dem Wege entfernen, auf den Sie mich einleiten.”
Nachdem der junge Mann mit ihr aufs genaueste diejenigen Bedingungen abgeredet, unter welchen sie ihm die Hâ°lfte seines Gel¸bdes ersparen konnte, entfernte er sich mit der Versicherung, daï¬ er sie bald wieder besuchen und nach der gl¸cklichen Beharrlichkeit in ihrem Vorsatze fragen w¸rde, und so muï¬te sie ihn gehen lassen, als er ohne Hâ°ndedruck, ohne Kuï¬, mit einem kaum bedeutenden Blicke von ihr schied. Ein Gl¸ck f¸r sie war die Beschâ°ftigung, die ihr der seltsame Vorsatz gab, denn sie hatte manches zu tun, um ihre Lebensart vËllig zu verâ°ndern. Zuerst wurden die schËnen Blâ°tter und Blumen hinausgekehrt, die sie zu seinem Empfang hatte streuen lassen; dann kam an die Stelle des wohlgepolsterten Ruhebettes ein hartes Lager, auf das sie sich, zum erstenmal in ihrem Leben nur von Wasser und Brot kaum gesâ°ttigt, des Abends niederlegte. Des andern Tages war sie beschâ°ftigt, Hemden zuzuschneiden und zu nâ°hen, deren sie eine bestimmte Zahl f¸r ein Armen–und Krankenhaus fertig zu machen versprochen hatte. Bei dieser neuen und unbequemen Beschâ°ftigung unterhielt sie ihre Einbildungskraft immer mit dem Bilde ihres s¸ï¬en Freundes und mit der Hoffnung k¸nftiger Gl¸ckseligkeit, und bei ebendiesen Vorstellungen schien ihre schmale Kost ihr eine herzstâ°rkende Nahrung zu gewâ°hren.
So verging eine Woche, und schon am Ende derselben fingen die Rosen ihrer Wangen an, einigermaï¬en zu verbleichen. Kleider, die ihr sonst wohl paï¬ten, waren zu weit und ihre sonst so raschen und muntern Glieder matt und schwach geworden, als der Freund wieder erschien und ihr durch seinen Besuch neue Stâ°rke und Leben gab. Er ermahnte sie, in ihrem Vorsatze zu beharren, munterte sie durch sein Beispiel auf und lieï¬ von weitem die Hoffnung eines ungestËrten Genusses durchblicken. Nur kurze Zeit hielt er sich auf und versprach, bald wiederzukommen.
Die wohltâ°tige Arbeit ging aufs neue muntrer fort, und von der strengen Diâ°t lieï¬ man keineswegs nach. Aber auch, leider! hâ°tte sie durch eine groï¬e Krankheit nicht mehr erschËpft werden kËnnen. Ihr Freund, der sie am Ende der Woche abermals besuchte, sah sie mit dem grËï¬ten Mitleiden an und stâ°rkte sie durch den Gedanken, daï¬ die Hâ°lfte der Pr¸fung nun schon vor¸ber sei.
Nun ward ihr das ungewohnte Fasten, Beten und Arbeiten mit jedem Tage lâ°stiger, und die ¸bertriebene Enthaltsamkeit schien den gesunden Zustand eines an Ruhe und reichliche Nahrung gewËhnten KËrpers gâ°nzlich zu zerr¸tten. Die SchËne konnte sich zuletzt nicht mehr auf den F¸ï¬en halten und war genËtigt, ungeachtet der warmen Jahrszeit sich in doppelte und dreifache Kleider zu h¸llen, um die beinah vËllig verschwindende innerliche Wâ°rme einigermaï¬en zusammenzuhalten. Ja sie war nicht lâ°nger imstande, aufrecht zu bleiben, und sogar gezwungen, in der letzten Zeit das Bett zu h¸ten.
Welche Betrachtungen muï¬te sie da ¸ber ihren Zustand machen! Wie oft ging diese seltsame Begebenheit vor ihrer Seele vorbei, und wie schmerzlich fiel es ihr, als zehn Tage vergingen, ohne daï¬ der Freund erschienen wâ°re, der sie diese â°uï¬ersten Aufopferungen kostete! Dagegen aber bereitete sich in diesen tr¸ben Stunden ihre vËllige Genesung vor, ja sie ward entschieden. Denn als bald darauf ihr Freund erschien und sich an ihr Bette auf eben dasselbe Taburett setzte, auf dem er ihre erste Erklâ°rung vernommen hatte, und ihr freundlich, ja gewissermaï¬en zâ°rtlich zusprach, die kurze Zeit noch standhaft auszudauern, unterbrach sie ihn mit Lâ°cheln und sagte: “Es bedarf weiter keines Zuredens, mein werter Freund, und ich werde mein Gel¸bde diese wenigen Tage mit Geduld und mit der ¸berzeugung ausdauern, daï¬ Sie es mir zu meinem Besten auferlegt haben. Ich bin jetzt zu schwach, als daï¬ ich Ihnen meinen Dank ausdr¸cken kËnnte, wie ich ihn empfinde. Sie haben mich mir selbst erhalten; Sie haben mich mir selbst gegeben, und ich erkenne, daï¬ ich mein ganzes Dasein von nun an Ihnen schuldig bin.
Wahrlich! mein Mann war verstâ°ndig und klug und kannte das Herz einer Frau; er war billig genug, sie ¸ber eine Neigung nicht zu schelten, die durch seine Schuld in ihrem Busen entstehen konnte, ja er war groï¬m¸tig genug, seine Rechte der Forderung der Natur hintanzusetzen. Aber Sie, mein Herr, Sie sind vern¸nftig und gut; Sie haben mich f¸hlen lassen, daï¬ auï¬er der Neigung noch etwas in uns ist, das ihr das Gleichgewicht halten kann, daï¬ wir fâ°hig sind, jedem gewohnten Gut zu entsagen und selbst unsere heiï¬esten W¸nsche von uns zu entfernen. Sie haben mich in diese Schule durch Irrtum und Hoffnung gef¸hrt; aber beide sind nicht mehr nËtig, wenn wir uns erst mit dem guten und mâ°chtigen Ich bekannt gemacht haben, das so still und ruhig in uns wohnt und so lange, bis es die Herrschaft im Hause gewinnt, wenigstens durch zarte Erinnerungen seine Gegenwart unaufhËrlich merken lâ°ï¬t. Leben Sie wohl! Ihre Freundin wird Sie k¸nftig mit Vergn¸gen sehen; wirken Sie auf Ihre Mitb¸rger wie auf mich; entwickeln Sie nicht allein die Verwirrungen, die nur zu leicht ¸ber Besitzt¸mer entstehen, sondern zeigen Sie ihnen auch durch sanfte Anleitung und durch Beispiel, daï¬ in jedem Menschen die Kraft der Tugend im Verborgenen keimt; die allgemeine Achtung wird Ihr Lohn sein, und Sie werden mehr als der erste Staatsmann und der grËï¬te Held den Namen Vater des Vaterlandes verdienen.”